Briefe eines Einzelnen, aber vor allem "Briefwechsel zweier oder mehrerer durch Thätigkeit in einem gemeinsamen Kreise sich fortbildender Personen" – wie Goethe formulierte – sind eine "unschätzbare" historische Quelle. Dies gilt auch für die über Jahre und Jahrzehnte sich hinziehenden Briefwechsel zwischen Liberalen, Demokraten, Sozialisten und Kommunisten, die nach der Revolution von 1848 Deutschland verlassen mussten und über die wir auch 150 Jahre später viel zu wenig wissen. In der Geschichtsschreibung wurde den beiden Jahrzehnten zwischen 1850 und 1870 lange Zeit kaum Bedeutung beigemessen. Das völlige Scheitern der Revolution von 1848 einerseits und der Aufstieg Bismarcks und die Reichsgruendung andererseits schienen früher eine solche Verkürzung und Mediatisierung zu rechtfertigen. In den letzten Jahren haben diese beiden Jahrzehnte jedoch eine neue Bewertung erfahren. Sie werden heute als eine der "bewegtesten und folgenreichsten Abschnitte" des 19. Jahrhunderts (Reinhard Rürup), geprägt durch Umbrüche und Neuanfänge, angesehen. Kaum erforscht ist jedoch, welche Rolle die demokratischen und radikalen Emigranten, die 1849 Deutschland verlassen mussten und anschließend Jahrzehnte in London, Paris, Brüssel, in der Schweiz oder in den USA lebten, in diesen politischen Formationsprozessen zwischen Revolution und Reichsgründung spielten. Welchen Anteil hatten sie an der Neuformierung der politischen Strömungen und Ideen, des Liberalismus, der National- und der Arbeiterbewegungen? Welche Blicke hatten sie auf die deutsche und europäische Politik? Inwieweit wollten und konnten sie Einfluss nehmen? Das 19. Jahrhundert erlebte eine Blütezeit der Briefliteratur, wozu nicht zuletzt die durch Dampfschiff und Eisenbahn verbesserte Infrastruktur beitrug. Die ausgeprägte Briefkultur des Bürgertums ist bekannt und bereits erforscht, aber auch für die frühen Arbeiterbewegungen stellte der Brief die zentrale Kommunikationsform dar. Aufgrund ihres dialogischen Charakters erlauben Briefe – bei aller gebotenen Quellenkritik – Einblick in Stimmungen, Meinungen und Beweggruende. Sie enthalten oft unmittelbare Niederschriften von Absichten, Auffassungen und Erlebnissen. Auch für die Erforschung der lange vernachlässigten Geschichte der deutschen Emigration eignen sich die überlieferten und nur zum geringen Teil veröffentlichten Briefwechsel in besonderer Weise. Die Emigranten waren auf persönliche Kommunikation angewiesen, da sie durch Flucht, Verfolgung und Zensur von anderen Äußerungs- und Einflussmöglichkeiten abgeschnitten waren. Zudem begannen sich Liberalismus und Arbeiterbewegung erst seit Ende der 1850er Jahre langsam wieder zu formieren und eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Während das Erbe der Briefkultur des Bürgertums in den vergangenen Jahrzehnten gut dokumentiert wurde, liegen die Korrespondenzen der politischen Opposition und der frühen Arbeiterbewegung größtenteils noch unerschlossen in den Archiven, weiß Rezensent Gert Lange. Um so erfreulicher findet es Lange, dass die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften nun einen Sonderband ihrer "Berichte und Abhandlungen" dem Thema "Politische Netzwerke durch Briefkommunikation" gewidmet hat. Der von Jürgen Herres und Manfred Neuhaus herausgegebene Band verdeutlicht nach Einschätzung Langes die enorme Bedeutung des Briefes als Verständigungsmittel der Radikalen und der demokratischen Opposition. Der Berliner Historiker Thomas Welskopp etwa zeichne in seinem Beitrag detailgenau nach, wie sich die frühe deutsche Sozialdemokratie aus einem losen Netz lokaler Verbände entwickelte und ideell wie in ihren organisatorischen Aktivitäten fast ausschließlich über Briefe kommunizieren konnte. Neben dem Beitrag von Welskopp hebt Lange insbesondere Gisela Schlientz' Bericht über den geheimen Briefwechsel der französischen Schriftstellerin George Sand und die Hilfs- und Rettungsversuche für verfolgte Demokraten hervor, der sich wie eine Kriminalstory in historischem Gewand lese.
© Perlentaucher Medien GmbH
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