Der Band bietet eines der spektakulärsten Stücke aus Niklas Luhmanns Nachlaß: eine umfassende Darstellung seiner politischen Soziologie aus den späten sechziger Jahren. Er zeigt, wie Luhmann zu der Zeit, als er Adornos Lehrstuhl in Frankfurt vertritt, unbeeindruckt durch die Konjunkturen der zeitgenössischen Ideologiekritik eine Theorie der Politik formuliert, an deren Grundzügen er auch später festhalten wird. Denn anders als seine allgemeine Theorie sozialer Systeme, die er mehrfach revidierte, blieben seine Auffassungen über das politische Teilsystem der modernen Gesellschaft weitgehend unverändert. Der Band bietet so thematisch Neues, ohne methodisch hinter den Stand der späteren Schriften zurückzufallen. Zu den Themen, über die systematische Beiträge von Luhmann bisher nicht bekannt waren, zählen die Bedeutung des Publikums für Verwaltung und Politik sowie die politischen Systeme in den sozialistisch regierten Ländern. Noch ganz im Stil des mündlichen Vortrags, argumentiert Luhmann hier weit deutlicher soziologisch als in seinen späteren Schriften und läßt Anregungen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen zurücktreten. Die beste verfügbare Einführung in Luhmanns politische Soziologie.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2010Lob der verwalteten Welt
An diesem Montag erscheint Niklas Luhmanns nachgelassene „Politische Soziologie”, die vor fünfzig Jahren entstand
Dass die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei, hat nicht Clausewitz, sondern Michel Foucault behauptet, als er die berühmte Definition des preußischen Militärtheoretikers auf den Kopf stellte. Solche Wesensaussagen zur Politik hat Niklas Luhmann strikt vermieden. Simplifizierungen waren ihm suspekt, von Drastik ganz zu schweigen. Bevor er zu einem professionellen Soziologen wurde, ist Luhmann einige Jahre als Verwaltungsjurist tätig gewesen. Es war wohl kein Zufall, dass er seine Karriere als Gesellschaftswissenschaftler mit Beiträgen zur Soziologie von Verwaltung und Politik begann. Aus eigener Anschauung war Luhmann geläufig, wie politische Verwaltung im Alltag funktioniert.
Tatsächlich hat ihn dieser Themenkreis zeit seines Lebens beschäftigt. Noch im Nachlass des 1998 verstorbenen Bielefelder Ordinarius für Soziologie fand sich ein umfangreiches Typoskript, das André Kieserling zwei Jahre später unter dem Titel „Die Politik der Gesellschaft” herausgegeben hat. Zusammen mit einer zweiten im Jahre 2000 erschienenen Abhandlung über „Die Religion der Gesellschaft” brachten die beiden Bücher eine Serie voluminöser Einzelstudien zum Abschluss, in denen Luhmann, nachdem die grundlegende Schrift „Die Gesellschaft der Gesellschaft” verfasst war, die Wirtschaft und die Wissenschaft, das Recht und die Kunst als Funktionssysteme der Gesellschaft analysierte.
Schon an der Sequenz der Veröffentlichungen lässt sich ablesen, wie er die Soziologie verstanden wissen wollte: Sie ist Wissenschaft von der Gesellschaft nur insofern, als ihr Gegenstand ein soziales System ist, das als „Gesellschaft” bezeichnet wird. Freilich untergliedert sich dieses Sozialsystem in verschiedene Teilsysteme.
Zwar verfährt jedes dieser Funktionssysteme in der Abarbeitung seines Problemhaushalts autonom – Religion spricht nicht Recht, Wirtschaft erteilt keine Sakramente, und die Kunst kümmert sich nicht um den Währungsverkehr. Doch trägt es mit seinen Operationen zur Aufrechterhaltung des umfassenden sozialen Systems bei. Es stabilisiert die in ihre Teilsysteme horizontal ausdifferenzierte Gesellschaft. Gesellschaft versteht Luhmann deshalb als ein soziales System sozialer Systeme, deren Kitt Kommunikation ist. Wo kommuniziert, Sinn erzeugt und übermittelt wird, gibt es Gesellschaft, wo Gesellschaft stattfindet, wird kommuniziert.
Bereits in seiner editorischen Notiz zum Buch über „Die Politik der Gesellschaft” hatte der Herausgeber erwähnt, dass Luhmann „eine erste zusammenhängende Ausarbeitung seiner Vorstellungen über politische Soziologie” in den späten sechziger Jahren verfasst habe. Tatsächlich lag Luhmanns Theorie des politischen Systems also in zwei Versionen vor. Die frühere Fassung blieb jedoch unpubliziert, weil sie „schon wenige Jahre später durch die Weiterentwicklung seiner Theorie überholt” war. Dieser Text kursierte unter Luhmanns Studenten gewissermaßen als Samisdat.
Jetzt, etwa fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung, ist die umfangreiche Arbeit erschienen. Unter dem Titel „Politische Soziologie” hat wieder André Kieserling das Buch herausgegeben. Es enthalte so viel Neues, lautet die Begründung, dass es „auch die Luhmann-Kenner unter den Lesern nicht langweilen wird”.
Nun kann die Vermeidung von Langeweile ein Vorzug sein, mit dem sich belletristische Textsorten der Lektüre empfehlen. Ein zwingendes Argument für die posthume Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie ist sie nicht. Genau besehen dokumentiert Luhmanns „Politische Soziologie” eine Zwischenposition, die sein Verfasser im Zuge weiterer Forschung hinter sich gelassen hat. Zudem handelt es sich um einen Torso, denn ein geplantes, letztes und gewichtiges Kapitel zur Theorie der Macht blieb ungeschrieben. Leider.
Dennoch ist das Buch lesenswert, da es zu aufschlussreichen Vergleichen zwischen dem früheren Entwurf einer Theorie des politischen Systems und ihrer späteren Gestalt einlädt. Davon wird die Luhmann-Philologie profitieren, was mit anderen Worten heißt, dass der Bielefelder Soziologe zwölf Jahre nach seinem Tod definitiv zum Klassiker der Disziplin aufsteigt. Sein Werk fesselt nicht nur durch seine Thesen, sondern interessiert mittlerweile auch und gerade in seiner Entwicklungsgeschichte.
Allerdings lässt sich Luhmanns „Politische Soziologie” mit außerordentlichem Gewinn studieren, auch ohne dass Historisierungs- oder Vergleichsabsichten im Spiel sind. Ihr Thema ist „das politische System”, das er in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts (noch) als ein Handlungssystem begreift. Die letzten Einheiten, aus denen sich Handlungssysteme zusammensetzen, sind Rollen. Wie sich politisches von anderem Handeln unterscheidet, hat daher eine Analyse solcher Rollen zu klären. Sie müssen sozial präpariert sein, damit sich innergesellschaftlich ein Handlungszusammenhang verselbständigt, der es der Gesellschaft gestattet, auf sich selbst einzuwirken. Um ebendiese Kausalität geht es Luhmann, namentlich um die Frage, wie Gesellschaft im evolutionären Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung „zum Objekt” ihrer selbst wird. Das traditionelle Stichwort für diese Problemstellung lautete in der politischen Philosophie „Herrschaft”.
Die gesuchten Rollen konfigurieren sich in Luhmanns Theorie zu drei Teilbereichen des politischen Systems. Sie fügen sich zu einer bürokratisch organisierten Verwaltung, wobei die Tätigkeiten von Parlamenten und Gerichten bei Luhmann zur Verwaltung gehören. Zudem bilden sie eine Politik im engeren Sinne aus, die in Gestalt von Ein- oder Mehrparteiensystemen Sorge dafür trägt, dass gesellschaftliche Konflikte politisiert, nämlich auf Entscheidbarkeit zugeschnitten werden.
Schließlich addieren sie sich in loserer Bestimmung zu einem Publikum, das die Verwaltung und die Parteien nicht nur durch Dauerbeobachtung diszipliniert, sondern in der Rolle des Wählers auch zum Wechsel zwischen Regierung und Opposition beiträgt. Ansonsten stellt das Publikum die Ressource dar, aus der sich das Personal für die Ämter in Politik und Verwaltung rekrutiert.
Die eigentliche Funktion dieses politischen Systems besteht Luhmann zufolge darin, offene Probleme der Gesellschaft durch „bindende Entscheidungen” zu lösen. Der Formalismus einer derartigen Funktionsbestimmung klingt zunächst trivial. Vergegenwärtigt man sich jedoch, dass in Luhmanns Gesellschaft weder vorgegeben ist, was in der unüberschaubaren Vielfalt anflutender Ereignisse überhaupt als Problem anzusehen ist, noch wie nach erfolgter Problemsortierung die mögliche Bearbeitung verfahren soll, büßt die abstrakte Definition ihre Trivialität ein.
Vielmehr zeichnet sich als Bezugsproblem der Ausbildung eines autonomen, also nach selbstgewählten Entscheidungsprämissen arbeitenden politischen Systems ein Sachverhalt ab, der im Luhmann-Jargon inzwischen abgegriffene Münze, gleichwohl aber ernst zu nehmen ist: die notwendige „Reduktion von Komplexität”.
Weil sich die moderne Gesellschaft durch Komplexität gefährdet, ist ein eigenes Funktionssystem erforderlich, das kollektiv verbindliche Entscheidungen produziert. Nur so, das ist Luhmanns systemtheoretische Grundthese, kann das drohende Chaos all der Interessen und Wünsche, der individuellen Freiheitsspielräume und Bedürfniswelten, in eine soziale Ordnung gebannt werden. Dabei findet sich die Stabilität dieser Ordnung paradoxerweise dadurch gewährleistet, dass sich das Arrangement der Verfahren und Institutionen auf einen Wandel in Permanenz einstellt. Aus diesem Grund sind bindende Entscheidungen nötig.
Sie stellen Vereinfachungen dar, an denen sich das Handeln und Kommunizieren orientiert. Im Medium der Entscheidungen wird Ungewissheit absorbiert. Dabei liegt ihr unschätzbarer Vorzug gerade darin, dass sie als Entscheidungen durch neuerliche Entscheidungen, also andere Vereinfachungen, revidiert werden können. So finden Wandel und Bestand, Variabilität und soziale Strukturierung in der Rollenchoreographie des politischen Systems zueinander.
Das Zentrum von Luhmanns politischer Soziologie bildet daher eine Theorie bindender Entscheidungen, die zu einer ungeheuer subtilen Beschreibung bürokratischer Verwaltung führt. Luhmann bringt den ganzen Werkzeugkasten seiner Systemtheorie zum Einsatz, um die spezifische Verfahrenslogik organisierter Entscheidungsarbeit auszuzirkeln. Selbstverständlich benennt er die Zumutungen, die Verwaltung ihren Akteuren und dem Publikum aufnötigt. Auch bleiben die Dysfunktionalitäten nicht unerwähnt, die Verwaltung notgedrungen erzeugt. Doch investiert Luhmann seinen ganzen Scharfsinn und seine phänomenale empirische Sachkenntnis in die Ambition, ein Lob auf die verwaltete Welt zu formulieren.
Eine der folgenreichsten Pointen, mit denen Luhmanns theoretische Kreativität aufwartet, besteht nun darin, die Übernahme bindender Entscheidungen als Lernprozess zu konzeptualisieren. Bindend ist die Wirkung einer Entscheidung, wenn es ihr „aus welchen Gründen auch immer” gelingt, die Erwartungen der Betroffenen zu verändern. Auf diese Weise modifiziert das Entscheiden die Grundlagen zukünftigen Verhaltens. So gesehen, setzten bindende Entscheidungen nicht einfach Handlungsstandards in Geltung, vielmehr stoßen sie bei Empfängern wie Absendern faktisches Lernen an. Das politische System schult die Gesellschaft.
Was sich aus dieser Idee für Luhmanns Theorie des politischen Systems ergibt, ist leicht zu erschließen. Versteht man unter Macht die Möglichkeit, „durch eigene Entscheidung für andere eine Alternative auszuwählen”, kann Luhmann das, was die gesamte Tradition als Herrschaft meinte thematisieren zu müssen, anders fassen. Indem das politische System bindende Entscheidungen erarbeitet, wirkt es auf die Gesellschaft weder durch Zwang noch durch Konsens ein, sondern durch die Initiierung von Lernprozessen. Die soziale Ordnung wird, folgt man dieser überraschenden Deutung, in der modernen Gesellschaft nicht mehr durch Herrschaft gesichert, sondern durch Kognition.
Politik ist nicht Krieg, auch nicht Frieden, Freiheit oder Gerechtigkeit, sondern Organisation kollektiver Lernprozessen, in denen Wahrheit als Gewissheit unerreichbar bleibt. Allenfalls eine Erkenntnis scheint endgültig zu sein. In dem Licht, das Luhmanns Soziologie der Politik auf die verwaltete Welt wirft, erscheint ihre Gegenwart als „alternativlos”. Im Bielefelder Wörterbuch ist ein solcher Eintrag annähernd mit der Behauptung synonym, dass dieses Wirkliche „vernünftig” sei. MARTIN BAUER
NIKLAS LUHMANN: Politische Soziologie. Herausgegeben von André Kieserling. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 499 Seiten, 29,80 Euro.
Religion spricht nicht Recht, Wirtschaft erteilt keine Sakramente
Bindend ist eine Entscheidung, wenn sie die Erwartungen der Betroffenen verändert
Die soziale Ordnung wird nach dieser überraschenden Deutung durch Kognition gesichert
Zwölf Jahre nach seinem Tod ist der Bielefelder Soziologe definitiv zum Klassiker der Disziplin aufgestiegen. Sein Werk fesselt nicht nur durch seine Thesen, sondern interessiert mittlerweile auch und gerade in seiner Entwicklungsgeschichte: Niklas Luhmann (1927 - 1998). Foto: AP
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An diesem Montag erscheint Niklas Luhmanns nachgelassene „Politische Soziologie”, die vor fünfzig Jahren entstand
Dass die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei, hat nicht Clausewitz, sondern Michel Foucault behauptet, als er die berühmte Definition des preußischen Militärtheoretikers auf den Kopf stellte. Solche Wesensaussagen zur Politik hat Niklas Luhmann strikt vermieden. Simplifizierungen waren ihm suspekt, von Drastik ganz zu schweigen. Bevor er zu einem professionellen Soziologen wurde, ist Luhmann einige Jahre als Verwaltungsjurist tätig gewesen. Es war wohl kein Zufall, dass er seine Karriere als Gesellschaftswissenschaftler mit Beiträgen zur Soziologie von Verwaltung und Politik begann. Aus eigener Anschauung war Luhmann geläufig, wie politische Verwaltung im Alltag funktioniert.
Tatsächlich hat ihn dieser Themenkreis zeit seines Lebens beschäftigt. Noch im Nachlass des 1998 verstorbenen Bielefelder Ordinarius für Soziologie fand sich ein umfangreiches Typoskript, das André Kieserling zwei Jahre später unter dem Titel „Die Politik der Gesellschaft” herausgegeben hat. Zusammen mit einer zweiten im Jahre 2000 erschienenen Abhandlung über „Die Religion der Gesellschaft” brachten die beiden Bücher eine Serie voluminöser Einzelstudien zum Abschluss, in denen Luhmann, nachdem die grundlegende Schrift „Die Gesellschaft der Gesellschaft” verfasst war, die Wirtschaft und die Wissenschaft, das Recht und die Kunst als Funktionssysteme der Gesellschaft analysierte.
Schon an der Sequenz der Veröffentlichungen lässt sich ablesen, wie er die Soziologie verstanden wissen wollte: Sie ist Wissenschaft von der Gesellschaft nur insofern, als ihr Gegenstand ein soziales System ist, das als „Gesellschaft” bezeichnet wird. Freilich untergliedert sich dieses Sozialsystem in verschiedene Teilsysteme.
Zwar verfährt jedes dieser Funktionssysteme in der Abarbeitung seines Problemhaushalts autonom – Religion spricht nicht Recht, Wirtschaft erteilt keine Sakramente, und die Kunst kümmert sich nicht um den Währungsverkehr. Doch trägt es mit seinen Operationen zur Aufrechterhaltung des umfassenden sozialen Systems bei. Es stabilisiert die in ihre Teilsysteme horizontal ausdifferenzierte Gesellschaft. Gesellschaft versteht Luhmann deshalb als ein soziales System sozialer Systeme, deren Kitt Kommunikation ist. Wo kommuniziert, Sinn erzeugt und übermittelt wird, gibt es Gesellschaft, wo Gesellschaft stattfindet, wird kommuniziert.
Bereits in seiner editorischen Notiz zum Buch über „Die Politik der Gesellschaft” hatte der Herausgeber erwähnt, dass Luhmann „eine erste zusammenhängende Ausarbeitung seiner Vorstellungen über politische Soziologie” in den späten sechziger Jahren verfasst habe. Tatsächlich lag Luhmanns Theorie des politischen Systems also in zwei Versionen vor. Die frühere Fassung blieb jedoch unpubliziert, weil sie „schon wenige Jahre später durch die Weiterentwicklung seiner Theorie überholt” war. Dieser Text kursierte unter Luhmanns Studenten gewissermaßen als Samisdat.
Jetzt, etwa fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung, ist die umfangreiche Arbeit erschienen. Unter dem Titel „Politische Soziologie” hat wieder André Kieserling das Buch herausgegeben. Es enthalte so viel Neues, lautet die Begründung, dass es „auch die Luhmann-Kenner unter den Lesern nicht langweilen wird”.
Nun kann die Vermeidung von Langeweile ein Vorzug sein, mit dem sich belletristische Textsorten der Lektüre empfehlen. Ein zwingendes Argument für die posthume Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie ist sie nicht. Genau besehen dokumentiert Luhmanns „Politische Soziologie” eine Zwischenposition, die sein Verfasser im Zuge weiterer Forschung hinter sich gelassen hat. Zudem handelt es sich um einen Torso, denn ein geplantes, letztes und gewichtiges Kapitel zur Theorie der Macht blieb ungeschrieben. Leider.
Dennoch ist das Buch lesenswert, da es zu aufschlussreichen Vergleichen zwischen dem früheren Entwurf einer Theorie des politischen Systems und ihrer späteren Gestalt einlädt. Davon wird die Luhmann-Philologie profitieren, was mit anderen Worten heißt, dass der Bielefelder Soziologe zwölf Jahre nach seinem Tod definitiv zum Klassiker der Disziplin aufsteigt. Sein Werk fesselt nicht nur durch seine Thesen, sondern interessiert mittlerweile auch und gerade in seiner Entwicklungsgeschichte.
Allerdings lässt sich Luhmanns „Politische Soziologie” mit außerordentlichem Gewinn studieren, auch ohne dass Historisierungs- oder Vergleichsabsichten im Spiel sind. Ihr Thema ist „das politische System”, das er in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts (noch) als ein Handlungssystem begreift. Die letzten Einheiten, aus denen sich Handlungssysteme zusammensetzen, sind Rollen. Wie sich politisches von anderem Handeln unterscheidet, hat daher eine Analyse solcher Rollen zu klären. Sie müssen sozial präpariert sein, damit sich innergesellschaftlich ein Handlungszusammenhang verselbständigt, der es der Gesellschaft gestattet, auf sich selbst einzuwirken. Um ebendiese Kausalität geht es Luhmann, namentlich um die Frage, wie Gesellschaft im evolutionären Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung „zum Objekt” ihrer selbst wird. Das traditionelle Stichwort für diese Problemstellung lautete in der politischen Philosophie „Herrschaft”.
Die gesuchten Rollen konfigurieren sich in Luhmanns Theorie zu drei Teilbereichen des politischen Systems. Sie fügen sich zu einer bürokratisch organisierten Verwaltung, wobei die Tätigkeiten von Parlamenten und Gerichten bei Luhmann zur Verwaltung gehören. Zudem bilden sie eine Politik im engeren Sinne aus, die in Gestalt von Ein- oder Mehrparteiensystemen Sorge dafür trägt, dass gesellschaftliche Konflikte politisiert, nämlich auf Entscheidbarkeit zugeschnitten werden.
Schließlich addieren sie sich in loserer Bestimmung zu einem Publikum, das die Verwaltung und die Parteien nicht nur durch Dauerbeobachtung diszipliniert, sondern in der Rolle des Wählers auch zum Wechsel zwischen Regierung und Opposition beiträgt. Ansonsten stellt das Publikum die Ressource dar, aus der sich das Personal für die Ämter in Politik und Verwaltung rekrutiert.
Die eigentliche Funktion dieses politischen Systems besteht Luhmann zufolge darin, offene Probleme der Gesellschaft durch „bindende Entscheidungen” zu lösen. Der Formalismus einer derartigen Funktionsbestimmung klingt zunächst trivial. Vergegenwärtigt man sich jedoch, dass in Luhmanns Gesellschaft weder vorgegeben ist, was in der unüberschaubaren Vielfalt anflutender Ereignisse überhaupt als Problem anzusehen ist, noch wie nach erfolgter Problemsortierung die mögliche Bearbeitung verfahren soll, büßt die abstrakte Definition ihre Trivialität ein.
Vielmehr zeichnet sich als Bezugsproblem der Ausbildung eines autonomen, also nach selbstgewählten Entscheidungsprämissen arbeitenden politischen Systems ein Sachverhalt ab, der im Luhmann-Jargon inzwischen abgegriffene Münze, gleichwohl aber ernst zu nehmen ist: die notwendige „Reduktion von Komplexität”.
Weil sich die moderne Gesellschaft durch Komplexität gefährdet, ist ein eigenes Funktionssystem erforderlich, das kollektiv verbindliche Entscheidungen produziert. Nur so, das ist Luhmanns systemtheoretische Grundthese, kann das drohende Chaos all der Interessen und Wünsche, der individuellen Freiheitsspielräume und Bedürfniswelten, in eine soziale Ordnung gebannt werden. Dabei findet sich die Stabilität dieser Ordnung paradoxerweise dadurch gewährleistet, dass sich das Arrangement der Verfahren und Institutionen auf einen Wandel in Permanenz einstellt. Aus diesem Grund sind bindende Entscheidungen nötig.
Sie stellen Vereinfachungen dar, an denen sich das Handeln und Kommunizieren orientiert. Im Medium der Entscheidungen wird Ungewissheit absorbiert. Dabei liegt ihr unschätzbarer Vorzug gerade darin, dass sie als Entscheidungen durch neuerliche Entscheidungen, also andere Vereinfachungen, revidiert werden können. So finden Wandel und Bestand, Variabilität und soziale Strukturierung in der Rollenchoreographie des politischen Systems zueinander.
Das Zentrum von Luhmanns politischer Soziologie bildet daher eine Theorie bindender Entscheidungen, die zu einer ungeheuer subtilen Beschreibung bürokratischer Verwaltung führt. Luhmann bringt den ganzen Werkzeugkasten seiner Systemtheorie zum Einsatz, um die spezifische Verfahrenslogik organisierter Entscheidungsarbeit auszuzirkeln. Selbstverständlich benennt er die Zumutungen, die Verwaltung ihren Akteuren und dem Publikum aufnötigt. Auch bleiben die Dysfunktionalitäten nicht unerwähnt, die Verwaltung notgedrungen erzeugt. Doch investiert Luhmann seinen ganzen Scharfsinn und seine phänomenale empirische Sachkenntnis in die Ambition, ein Lob auf die verwaltete Welt zu formulieren.
Eine der folgenreichsten Pointen, mit denen Luhmanns theoretische Kreativität aufwartet, besteht nun darin, die Übernahme bindender Entscheidungen als Lernprozess zu konzeptualisieren. Bindend ist die Wirkung einer Entscheidung, wenn es ihr „aus welchen Gründen auch immer” gelingt, die Erwartungen der Betroffenen zu verändern. Auf diese Weise modifiziert das Entscheiden die Grundlagen zukünftigen Verhaltens. So gesehen, setzten bindende Entscheidungen nicht einfach Handlungsstandards in Geltung, vielmehr stoßen sie bei Empfängern wie Absendern faktisches Lernen an. Das politische System schult die Gesellschaft.
Was sich aus dieser Idee für Luhmanns Theorie des politischen Systems ergibt, ist leicht zu erschließen. Versteht man unter Macht die Möglichkeit, „durch eigene Entscheidung für andere eine Alternative auszuwählen”, kann Luhmann das, was die gesamte Tradition als Herrschaft meinte thematisieren zu müssen, anders fassen. Indem das politische System bindende Entscheidungen erarbeitet, wirkt es auf die Gesellschaft weder durch Zwang noch durch Konsens ein, sondern durch die Initiierung von Lernprozessen. Die soziale Ordnung wird, folgt man dieser überraschenden Deutung, in der modernen Gesellschaft nicht mehr durch Herrschaft gesichert, sondern durch Kognition.
Politik ist nicht Krieg, auch nicht Frieden, Freiheit oder Gerechtigkeit, sondern Organisation kollektiver Lernprozessen, in denen Wahrheit als Gewissheit unerreichbar bleibt. Allenfalls eine Erkenntnis scheint endgültig zu sein. In dem Licht, das Luhmanns Soziologie der Politik auf die verwaltete Welt wirft, erscheint ihre Gegenwart als „alternativlos”. Im Bielefelder Wörterbuch ist ein solcher Eintrag annähernd mit der Behauptung synonym, dass dieses Wirkliche „vernünftig” sei. MARTIN BAUER
NIKLAS LUHMANN: Politische Soziologie. Herausgegeben von André Kieserling. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 499 Seiten, 29,80 Euro.
Religion spricht nicht Recht, Wirtschaft erteilt keine Sakramente
Bindend ist eine Entscheidung, wenn sie die Erwartungen der Betroffenen verändert
Die soziale Ordnung wird nach dieser überraschenden Deutung durch Kognition gesichert
Zwölf Jahre nach seinem Tod ist der Bielefelder Soziologe definitiv zum Klassiker der Disziplin aufgestiegen. Sein Werk fesselt nicht nur durch seine Thesen, sondern interessiert mittlerweile auch und gerade in seiner Entwicklungsgeschichte: Niklas Luhmann (1927 - 1998). Foto: AP
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Diese fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung erscheinende frühe Fassung von Niklas Luhmanns Theorie des politischen Systems hat laut Martin Bauer eine Bedeutung auch über diejenige hinaus, die sich durch die Vergleichsmöglichkeit zwischen dieser Zwischenposition und Luhmanns späterer "Politik der Gesellschaft" ergibt. Auch wenn der Text Torso blieb, lauscht Bauer mit großem Gewinn, wenn Luhmann fragt, wie Gesellschaft zum "Objekt ihrer selbst" wurde und mit systemtheoretischem Rüstzeug zu einer "subtilen" Beschreibung und Lobesbezeugung bürokratischer Verwaltung ausholt. Am Ende weiß Bauer, vermittelt durch Luhmanns Scharfsinn und empirische Sachkenntnis: Politik, das ist die alternativlose Organisation kollektiver Lernprozesse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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