Der politische Kitsch hat Hochkonjunktur - in allen politischen Lagern: Betroffenheitsrhetorik, Mahnwachen, Solidaritätsbekundungen - alles im Namen von Buntheit, Menschlichkeit oder Anständigkeit. Sentimentale Worthülsen, penetrante Gefühligkeit, Verklärung des Gestern und infantile Inszenierungen bestimmen den öffentlichen Diskurs. Die gesellschaftlichen Debatten sind geprägt von aggressiver Rührseligkeit und peinlichen Politritualen. Leerformeln scheinen das bevorzugte Sprachspiel in deutschen Landen. Der Philosoph und Publizist Alexander Grau deckt schonungslos die gesellschaftlichen Ursachen des grassierenden Politkitsches auf und analysiert seine Funktion in den aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Ganz große Gartenzwerge
Der Publizist Alexander Grau liefert eine scharfe Polemik gegen den in Deutschland grassierenden „politischen Kitsch“
Kann man „Kitsch“ festschreiben, ohne nicht selbst sofort in einer neuen Form von „Kitschigkeit“ zu landen? Lexika definieren Kitsch als eine Anhäufung sowie den unordentlichen Gebrauch von Dingen, deren Natur als trivial, überholt, volkstümlich und gleichzeitig unwirklich gilt. Es ist die Welt der Gartenzwerge, Kuckucksuhren, Lederhosen und anderer „Gemütlichkeiten“. Doch inwieweit passt eine derartige Messlatte auf die deutsche Politik, auf Politik überhaupt?
Der Publizist Alexander Grau liefert in „Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität“ Verdeutlichungen, nicht zuletzt mittels 21 Hinweisen auf den Schriftsteller Umberto Eco, den Informations-Theoretiker Abraham Moles oder die Marx-Engels-Gesamtausgabe. Ein hübsches Bündel raschelnder Fußnoten entsteht daraus, über 128 Essay-Seiten gut verteilt. Dazu liest sich das Ganze angenehm, flüssig, streckenweise überzeugend und vermittelt sogar erhellende Einsichten.
Kitsch wird weltweit produziert. Doch der deutsche Kitsch scheint einen Sonderweg zu beschreiten, ausgehend von der Epoche der Romantik mit der Hitlerei als vergifteter Kirsche auf farbenfroh schillernden Torten. Da ist das Fasziniertsein vor Schönem, das Gruseln bereitet. Also vielleicht auch Schuberts „Winterreise“, Wagners „Ring der Nibelungen“ oder gar Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“, musikalisch, poetisch wie politisch. Vom totalen Kitsch zum totalen Krieg. War’s nicht so damals, schon vor Hitler (etwa bei Wilhelm II.), dann bei Hitler und seinen Helfershelfern, danach, jetzt, „übermorgen“, bei wem?
Alexander Grau gelingt der Spagatsprung in unsere Zeit. Kilometerlange Menschenketten mit brennenden Kerzen in der Hand, die protestieren, aber nichts bewirken. Oder „Moralin“-getränkte Politikerreden, denen kein moralisches Handeln folgt. Gegen Ende seiner „Kitschologie“ resümiert der Autor deutlich: „Man verliert sich in Deutschland entweder in latent autoritären Erlösungsfantasien oder berauscht sich am Untergang. (. . .) Mit Inbrunst schaut man (. . .) auf das große Finale, die drohende Katastrophe, Untergangsszenarien aller Art, Waldsterben, Atomtod, Ozonloch, saurer Regen, anbrechende Eiszeit oder Erderwärmung.“ Auch das neue Geschwafel von der drohenden Islamisierung Deutschlands gehört in diese Kiste.
Hier ein gedankliches Weiterspinnen als Lesefrucht: Wäre der Feldzug der Klima-Aktivistin Greta Thunberg ein Modellfall politischen Kitsches? Wenn Trump „tweetisch“ ausrastet oder Boris Johnson seine Brexit-Pirouetten dreht, zweifelsohne. Bei der 16-Jährigen bleibt die Frage offen. Hat der inzwischen weltweit wirkende Politkitsch sie bislang noch nicht infiziert, oder verraten ihre pathetischen Reden, etwa vor der UN, einen Mutationssprung des „Kitschitis“-Virus? Aber vielleicht sieht sie auch richtig und meint es tatsächlich ernst mit ihren Klimapredigten, wer weiß? Man wird deshalb fragen müssen. Und solches Fragen fordert Alexander Grau. Sein Büchlein ist lesenswert.
WOLFGANG FREUND
Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität. Claudius-Verlag, München 2019. 128 Seiten, 14 Euro.
Deutsches Denkmodell:
autoritäre Erlösungsfantasie
oder Untergangsszenario
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Der Publizist Alexander Grau liefert eine scharfe Polemik gegen den in Deutschland grassierenden „politischen Kitsch“
Kann man „Kitsch“ festschreiben, ohne nicht selbst sofort in einer neuen Form von „Kitschigkeit“ zu landen? Lexika definieren Kitsch als eine Anhäufung sowie den unordentlichen Gebrauch von Dingen, deren Natur als trivial, überholt, volkstümlich und gleichzeitig unwirklich gilt. Es ist die Welt der Gartenzwerge, Kuckucksuhren, Lederhosen und anderer „Gemütlichkeiten“. Doch inwieweit passt eine derartige Messlatte auf die deutsche Politik, auf Politik überhaupt?
Der Publizist Alexander Grau liefert in „Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität“ Verdeutlichungen, nicht zuletzt mittels 21 Hinweisen auf den Schriftsteller Umberto Eco, den Informations-Theoretiker Abraham Moles oder die Marx-Engels-Gesamtausgabe. Ein hübsches Bündel raschelnder Fußnoten entsteht daraus, über 128 Essay-Seiten gut verteilt. Dazu liest sich das Ganze angenehm, flüssig, streckenweise überzeugend und vermittelt sogar erhellende Einsichten.
Kitsch wird weltweit produziert. Doch der deutsche Kitsch scheint einen Sonderweg zu beschreiten, ausgehend von der Epoche der Romantik mit der Hitlerei als vergifteter Kirsche auf farbenfroh schillernden Torten. Da ist das Fasziniertsein vor Schönem, das Gruseln bereitet. Also vielleicht auch Schuberts „Winterreise“, Wagners „Ring der Nibelungen“ oder gar Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“, musikalisch, poetisch wie politisch. Vom totalen Kitsch zum totalen Krieg. War’s nicht so damals, schon vor Hitler (etwa bei Wilhelm II.), dann bei Hitler und seinen Helfershelfern, danach, jetzt, „übermorgen“, bei wem?
Alexander Grau gelingt der Spagatsprung in unsere Zeit. Kilometerlange Menschenketten mit brennenden Kerzen in der Hand, die protestieren, aber nichts bewirken. Oder „Moralin“-getränkte Politikerreden, denen kein moralisches Handeln folgt. Gegen Ende seiner „Kitschologie“ resümiert der Autor deutlich: „Man verliert sich in Deutschland entweder in latent autoritären Erlösungsfantasien oder berauscht sich am Untergang. (. . .) Mit Inbrunst schaut man (. . .) auf das große Finale, die drohende Katastrophe, Untergangsszenarien aller Art, Waldsterben, Atomtod, Ozonloch, saurer Regen, anbrechende Eiszeit oder Erderwärmung.“ Auch das neue Geschwafel von der drohenden Islamisierung Deutschlands gehört in diese Kiste.
Hier ein gedankliches Weiterspinnen als Lesefrucht: Wäre der Feldzug der Klima-Aktivistin Greta Thunberg ein Modellfall politischen Kitsches? Wenn Trump „tweetisch“ ausrastet oder Boris Johnson seine Brexit-Pirouetten dreht, zweifelsohne. Bei der 16-Jährigen bleibt die Frage offen. Hat der inzwischen weltweit wirkende Politkitsch sie bislang noch nicht infiziert, oder verraten ihre pathetischen Reden, etwa vor der UN, einen Mutationssprung des „Kitschitis“-Virus? Aber vielleicht sieht sie auch richtig und meint es tatsächlich ernst mit ihren Klimapredigten, wer weiß? Man wird deshalb fragen müssen. Und solches Fragen fordert Alexander Grau. Sein Büchlein ist lesenswert.
WOLFGANG FREUND
Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität. Claudius-Verlag, München 2019. 128 Seiten, 14 Euro.
Deutsches Denkmodell:
autoritäre Erlösungsfantasie
oder Untergangsszenario
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"Fulminant. Lesenswert." - Hessische Niedersächsische Allgemeine HNA