Produktdetails
- Verlag: Arrow
- ISBN-13: 9780099282617
- ISBN-10: 0099282615
- Artikelnr.: 12598717
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2004Niemand hörte auf die Aqua Augusta
Doppelter Boden der Antike: In "Pompeji" wird Robert Harris Augenzeuge des Vesuv-Ausbruchs
Der dritte Weltkrieg wird um Wasser geführt werden. Daß wir ungläubig auf diese Prognose reagieren, liegt am Erbe der römisch-antiken Zivilisation, die uns den verschwenderischen Umgang mit Wasser und den Glauben an dessen Allverfügbarkeit eingeimpft hat. Nicht die stur alles überwindenden römischen Landstraßen, sondern die Aquädukte, die in Symbiose mit ihrer Umgebung teils als tollkühne Brücken, teils als unterirdische Kanäle verlaufen, waren die größte zivilisatorische Leistung des Imperiums.
So sagt Plinius der Ältere, Roms berühmtester Naturwissenschaftler und faszinierter Augenzeuge des Vesuv-Ausbruchs vom 24. August 79 nach Christus. Schon in der ersten hinreißenden Szene seines Pompeji-Romans beweist Richard Harris, daß er dem antiken Wissenschaftler diese Behauptung zu Recht in den Mund legt. Wir werden Zeuge, wie Marcus Attilius Primus, der junge, gerade aus Rom nach Misenum am Golf von Neapel beorderte "Aquarius", zwei Tage vor dem Vesuvausbruch nach einer Quelle gräbt. Er muß Wasser finden, denn nach einer mehrmonatigen Dürre droht die "Aqua Augusta" zu versiegen, jenes Wunder der Wasserbaukunst, das Kaiser Augustus hatte errichten lassen, um neun Städte am Golf, beginnend mit Pompeji, endend mit Misenum, dem Stützpunkt der römischen Flotte, mit Wasser zu versorgen.
Sofort bezaubert, vielleicht auch wiedererkennend liest man Robert Harris' Beschreibung der hügligen Gegend, ihres spröden Vulkangesteins, der fruchtbaren kampanischen Erde, der verzehrenden Hitze Süditaliens. Attilius ist laut der Kapitelüberschrift während des "Conticinium" unterwegs, der achten Nachtwache gegen vier Uhr früh: "Was für einen flimmernden fiebrigen Himmel die hier im Süden hatten! Selbst jetzt, kurz vor Tagesanbruch, wölbte sich eine gewaltige Halbkugel von Sternen bis zum Horizont hinab." Der Aquarius sucht nach Efeu, den er tags zuvor im verdorrten Gestrüpp über Misenum entdeckt hat. Das perfekte Wissen der Alten lehrt ihn, darin ein sicheres Indiz unterirdischer Feuchte zu erkennen. Einmal angelangt, beobachtet er in Bauchlage die Stelle, sein Kinn auf ein Spezialholz gestützt, das den Blick in der Horizontalen hält, um bei Sonnenaufgang den Dunsthauch zu erkennen, der nur dann für Sekunden Wasseradern entsteigt.
Der Aquarius atmet auf - um kurz darauf neu zu verzweifeln. So tief er und seine Arbeiter auch graben, das Wasser entzieht sich. Wie die Pompejaner, die siebzehn Jahre zuvor ein verheerendes Erdbeben nicht als Vorbote der finalen Katastrophe erkannten, so verkennt der Wassermeister trotz aller Aufgeklärtheit sämtliche Warnsignale des Vulkans - das Versiegen der Quellen und Brunnen, die von Vorbeben des Vesuvs verursachten Schäden an der Augusta, den Schwefelgeruch des Wassers im Endreservoir in Misenum. Der Gedanke, daß dreihunderttausend Menschen ohne Wasser sein und panisch werden könnten, läßt bodenlose Angst aufkeimen, die sich schleichend auf alle Beteiligten und sogar auf den stoischen Plinius überträgt. Darin und im Bemühen aller, die Gefahr geheimzuhalten, taucht eine Zukunftsvision auf - die eines Süditalien, das infolge der globalen Klimaveränderungen Wüste werden und dessen Panik einen Krieg einleiten könnte.
Die besten Passagen des Romans weisen einen solchen doppelten Boden auf, der uns aus der fernen Antike in ein furchterregendes Heute katapultiert. Sie kulminieren in den Schlußkapiteln, wo Harris die umhertaumelnden Pompejaner als Doppelgänger der staubbedeckten fliehenden New Yorker des 11. September 2001 zeichnet: "Je weiter Attilius kam, um so jämmerlicher war der Zustand der Flüchtenden. Die meisten waren mit einer dicken grauen Staubschicht bedeckt; ihre Gesichter glichen blutbespritzten Totenmasken." Noch einmal, noch eindringlicher, greift er das Bild auf, als er einen ums Überleben ringenden Patrizier beschreibt, dessen weiß bestäubtes, von blutigen Rinnsalen überzogenes Gesicht jenen mit roten Bändern geschmückten wächsernen Ahnenbüsten gleicht, die man in Familienschreinen aufbewahrte.
Als raffinierter Dramaturg der sogenannten Unterhaltungsliteratur stellt Harris dem Finale eine Handlung voran, die, in der Tradition eines Hitchcock oder Stephen King, den Leser zum atemlosen Zeugen eines Countdown macht, von dem die Akteure nichts ahnen: Alle Kapitel sind mit immer dichter aufeinanderfolgenden römischen Tages- und Stundenbezeichnungen überschrieben, gekoppelt mit Zitaten neuer Erkenntnisse der Vulkanologie. Die Kraft der Eruption, so heißt es einmal, überstieg die der Atombombe von Hiroshima um das Eintausendfünfhundertfache. Spätestens nun fragt man sich, ob hier das Grauen der Wahrheit im Dienst eines Thrillers mißbraucht wird.
Pure Enttäuschung aber wartet in Szenen, mit denen Harris schamlos dem Affen Zucker gibt. Wider besseres Wissen - denn andere Stellen belegen seine exzellenten Recherchen - stilisiert er die Mittelstadt Pompeji bei Bedarf zur lasterhaften Metropole. So kopiert ein Festmahl das Gelage des Trimalchio aus dem "Satyrikon" des Petronius. Was schon dort moralisierende Übertreibung ist, wird angesichts des realiter wohlhabenden, aber vorwiegend provinziellen Lebens pompejanischer Patrizier zur knalligen Kolportage. Dasselbe gilt für die Sexus und Erotik bietenden Einsprengsel. Kein Gedanke an jenes sonderbare Gemenge aus sakralisiertem und enthemmtem Trieb, ritualisierter und derber Wollust der Antike, die das ausgegrabene Pompeji bezeugt. Stattdessen wird aus dem "Lupanar", dem berühmtesten und besterhaltenen der etwa dreißig primitiven Puffs Pompejis, ein mondänes Bordell. Damit erreicht Harris das Niveau jener Voyeure, die, Prüderie auf den Lippen, Bangkok im Sinn, täglich in Scharen durch die engen Gänge und schäbigen Kabinen des Lupanars drängen.
Vom gleichen Schlag ist Harris' zweite Hauptfigur, Ampliatus, ein zu ungeheurem Reichtum gekommener Freigelassener. Er hat nach dem Beben Ruinen billig aufgekauft, parzelliert, saniert und teuer verkauft. Das entspricht zwar den Gegebenheiten der Vesuvstadt, die im Moment ihres Untergangs in einem extremen sozialen Wandel begriffen war. Doch das Leben, mit dem der Brite Harris diese Tatsachen füllt, ist das der Thatcher-Ära, vermengt mit Blair-Sentimentalitäten und modernen schwitzigen Männerphantasien: Ampliatus treibt die Erinnerung an seine Sklavenzeit, in der er Lustknabe seiner Herrin, aber auch, Gipfel der Verderbnis, seines Herrn war; Rache ist die Basis seines Ehrgeizes, Minderwertigkeitskomplexe sind die Begleiter seines Aufstiegs.
Ist dieser Emporkömmling ein Wechselbalg des sex and crime, so läßt seine Tochter Corelia, in die sich der Aquarius verliebt, an eine daily soap denken, die den Liebesfilmen der jungen Sophia Loren nacheifert. Eine verpaßte literarische Chance schließlich ist Harris' "Sybille von Pompeji", die, inspiriert von der Sybille von Cumae, aber auch Edward Bulwers "Vulkanhexe", der Stadt doppelsinnig ewiges Leben und ewigen Ruhm prophezeit. Wieviel über antiken Aberglauben - Rom bewahrte die Sprüche der Sybille von Cumae in seinem Staatsarchiv auf, Harris läßt seine Sybille eine Dienerin des rätselhaften, in Pompeji zweimal nachgewiesenen Gottes Sabazios sein - hätte zur Sprache kommen können, eine Schwester von Thomas Manns faszinierender Hexe Tabubu aus der Josephs-Tetralogie hätte entstehen können - doch es bleibt bei einer blassen oberflächlichen Skizze.
Um so erstaunlicher ist die Subtilität, mit der Harris dem Plinius Konturen gibt. Ein fettleibiger verdrießlicher Greis, der, Philosoph geworden, dennoch seinen Zeiten als junger Feldherr in Germanien nachtrauert und trotz aller Naturstudien gerne noch einmal die römische Flotte aktivieren will, die er im Ruhehafen befehligt. Diese Gelegenheit und ein letzter Wandel zur Größe wird ihm unter grausigen Umständen zuteil: Als der Vesuv ausbricht, läßt Plinius, zugleich Notizen über das Naturereignis diktierend, die Flotte in See stechen, um Überlebende zu retten. Er kommt, wie wir aus den Briefen seines Neffen, Plinius des Jüngeren wissen, dabei um. Die Schilderung seiner letzten Stunden, die inneren Monologe, in denen er um Haltung ringt, seinen altersschwachen Körper verflucht, nicht mehr zwischen Erinnertem und Gegenwart zu unterscheiden weiß, sind von beklemmender Dichte. Mehr solcher grandioser Passagen, und ein großer Roman wäre entstanden.
Robert Harris: "Pompeji". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christel Wiemken. Heyne Verlag, München 2003. 379 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doppelter Boden der Antike: In "Pompeji" wird Robert Harris Augenzeuge des Vesuv-Ausbruchs
Der dritte Weltkrieg wird um Wasser geführt werden. Daß wir ungläubig auf diese Prognose reagieren, liegt am Erbe der römisch-antiken Zivilisation, die uns den verschwenderischen Umgang mit Wasser und den Glauben an dessen Allverfügbarkeit eingeimpft hat. Nicht die stur alles überwindenden römischen Landstraßen, sondern die Aquädukte, die in Symbiose mit ihrer Umgebung teils als tollkühne Brücken, teils als unterirdische Kanäle verlaufen, waren die größte zivilisatorische Leistung des Imperiums.
So sagt Plinius der Ältere, Roms berühmtester Naturwissenschaftler und faszinierter Augenzeuge des Vesuv-Ausbruchs vom 24. August 79 nach Christus. Schon in der ersten hinreißenden Szene seines Pompeji-Romans beweist Richard Harris, daß er dem antiken Wissenschaftler diese Behauptung zu Recht in den Mund legt. Wir werden Zeuge, wie Marcus Attilius Primus, der junge, gerade aus Rom nach Misenum am Golf von Neapel beorderte "Aquarius", zwei Tage vor dem Vesuvausbruch nach einer Quelle gräbt. Er muß Wasser finden, denn nach einer mehrmonatigen Dürre droht die "Aqua Augusta" zu versiegen, jenes Wunder der Wasserbaukunst, das Kaiser Augustus hatte errichten lassen, um neun Städte am Golf, beginnend mit Pompeji, endend mit Misenum, dem Stützpunkt der römischen Flotte, mit Wasser zu versorgen.
Sofort bezaubert, vielleicht auch wiedererkennend liest man Robert Harris' Beschreibung der hügligen Gegend, ihres spröden Vulkangesteins, der fruchtbaren kampanischen Erde, der verzehrenden Hitze Süditaliens. Attilius ist laut der Kapitelüberschrift während des "Conticinium" unterwegs, der achten Nachtwache gegen vier Uhr früh: "Was für einen flimmernden fiebrigen Himmel die hier im Süden hatten! Selbst jetzt, kurz vor Tagesanbruch, wölbte sich eine gewaltige Halbkugel von Sternen bis zum Horizont hinab." Der Aquarius sucht nach Efeu, den er tags zuvor im verdorrten Gestrüpp über Misenum entdeckt hat. Das perfekte Wissen der Alten lehrt ihn, darin ein sicheres Indiz unterirdischer Feuchte zu erkennen. Einmal angelangt, beobachtet er in Bauchlage die Stelle, sein Kinn auf ein Spezialholz gestützt, das den Blick in der Horizontalen hält, um bei Sonnenaufgang den Dunsthauch zu erkennen, der nur dann für Sekunden Wasseradern entsteigt.
Der Aquarius atmet auf - um kurz darauf neu zu verzweifeln. So tief er und seine Arbeiter auch graben, das Wasser entzieht sich. Wie die Pompejaner, die siebzehn Jahre zuvor ein verheerendes Erdbeben nicht als Vorbote der finalen Katastrophe erkannten, so verkennt der Wassermeister trotz aller Aufgeklärtheit sämtliche Warnsignale des Vulkans - das Versiegen der Quellen und Brunnen, die von Vorbeben des Vesuvs verursachten Schäden an der Augusta, den Schwefelgeruch des Wassers im Endreservoir in Misenum. Der Gedanke, daß dreihunderttausend Menschen ohne Wasser sein und panisch werden könnten, läßt bodenlose Angst aufkeimen, die sich schleichend auf alle Beteiligten und sogar auf den stoischen Plinius überträgt. Darin und im Bemühen aller, die Gefahr geheimzuhalten, taucht eine Zukunftsvision auf - die eines Süditalien, das infolge der globalen Klimaveränderungen Wüste werden und dessen Panik einen Krieg einleiten könnte.
Die besten Passagen des Romans weisen einen solchen doppelten Boden auf, der uns aus der fernen Antike in ein furchterregendes Heute katapultiert. Sie kulminieren in den Schlußkapiteln, wo Harris die umhertaumelnden Pompejaner als Doppelgänger der staubbedeckten fliehenden New Yorker des 11. September 2001 zeichnet: "Je weiter Attilius kam, um so jämmerlicher war der Zustand der Flüchtenden. Die meisten waren mit einer dicken grauen Staubschicht bedeckt; ihre Gesichter glichen blutbespritzten Totenmasken." Noch einmal, noch eindringlicher, greift er das Bild auf, als er einen ums Überleben ringenden Patrizier beschreibt, dessen weiß bestäubtes, von blutigen Rinnsalen überzogenes Gesicht jenen mit roten Bändern geschmückten wächsernen Ahnenbüsten gleicht, die man in Familienschreinen aufbewahrte.
Als raffinierter Dramaturg der sogenannten Unterhaltungsliteratur stellt Harris dem Finale eine Handlung voran, die, in der Tradition eines Hitchcock oder Stephen King, den Leser zum atemlosen Zeugen eines Countdown macht, von dem die Akteure nichts ahnen: Alle Kapitel sind mit immer dichter aufeinanderfolgenden römischen Tages- und Stundenbezeichnungen überschrieben, gekoppelt mit Zitaten neuer Erkenntnisse der Vulkanologie. Die Kraft der Eruption, so heißt es einmal, überstieg die der Atombombe von Hiroshima um das Eintausendfünfhundertfache. Spätestens nun fragt man sich, ob hier das Grauen der Wahrheit im Dienst eines Thrillers mißbraucht wird.
Pure Enttäuschung aber wartet in Szenen, mit denen Harris schamlos dem Affen Zucker gibt. Wider besseres Wissen - denn andere Stellen belegen seine exzellenten Recherchen - stilisiert er die Mittelstadt Pompeji bei Bedarf zur lasterhaften Metropole. So kopiert ein Festmahl das Gelage des Trimalchio aus dem "Satyrikon" des Petronius. Was schon dort moralisierende Übertreibung ist, wird angesichts des realiter wohlhabenden, aber vorwiegend provinziellen Lebens pompejanischer Patrizier zur knalligen Kolportage. Dasselbe gilt für die Sexus und Erotik bietenden Einsprengsel. Kein Gedanke an jenes sonderbare Gemenge aus sakralisiertem und enthemmtem Trieb, ritualisierter und derber Wollust der Antike, die das ausgegrabene Pompeji bezeugt. Stattdessen wird aus dem "Lupanar", dem berühmtesten und besterhaltenen der etwa dreißig primitiven Puffs Pompejis, ein mondänes Bordell. Damit erreicht Harris das Niveau jener Voyeure, die, Prüderie auf den Lippen, Bangkok im Sinn, täglich in Scharen durch die engen Gänge und schäbigen Kabinen des Lupanars drängen.
Vom gleichen Schlag ist Harris' zweite Hauptfigur, Ampliatus, ein zu ungeheurem Reichtum gekommener Freigelassener. Er hat nach dem Beben Ruinen billig aufgekauft, parzelliert, saniert und teuer verkauft. Das entspricht zwar den Gegebenheiten der Vesuvstadt, die im Moment ihres Untergangs in einem extremen sozialen Wandel begriffen war. Doch das Leben, mit dem der Brite Harris diese Tatsachen füllt, ist das der Thatcher-Ära, vermengt mit Blair-Sentimentalitäten und modernen schwitzigen Männerphantasien: Ampliatus treibt die Erinnerung an seine Sklavenzeit, in der er Lustknabe seiner Herrin, aber auch, Gipfel der Verderbnis, seines Herrn war; Rache ist die Basis seines Ehrgeizes, Minderwertigkeitskomplexe sind die Begleiter seines Aufstiegs.
Ist dieser Emporkömmling ein Wechselbalg des sex and crime, so läßt seine Tochter Corelia, in die sich der Aquarius verliebt, an eine daily soap denken, die den Liebesfilmen der jungen Sophia Loren nacheifert. Eine verpaßte literarische Chance schließlich ist Harris' "Sybille von Pompeji", die, inspiriert von der Sybille von Cumae, aber auch Edward Bulwers "Vulkanhexe", der Stadt doppelsinnig ewiges Leben und ewigen Ruhm prophezeit. Wieviel über antiken Aberglauben - Rom bewahrte die Sprüche der Sybille von Cumae in seinem Staatsarchiv auf, Harris läßt seine Sybille eine Dienerin des rätselhaften, in Pompeji zweimal nachgewiesenen Gottes Sabazios sein - hätte zur Sprache kommen können, eine Schwester von Thomas Manns faszinierender Hexe Tabubu aus der Josephs-Tetralogie hätte entstehen können - doch es bleibt bei einer blassen oberflächlichen Skizze.
Um so erstaunlicher ist die Subtilität, mit der Harris dem Plinius Konturen gibt. Ein fettleibiger verdrießlicher Greis, der, Philosoph geworden, dennoch seinen Zeiten als junger Feldherr in Germanien nachtrauert und trotz aller Naturstudien gerne noch einmal die römische Flotte aktivieren will, die er im Ruhehafen befehligt. Diese Gelegenheit und ein letzter Wandel zur Größe wird ihm unter grausigen Umständen zuteil: Als der Vesuv ausbricht, läßt Plinius, zugleich Notizen über das Naturereignis diktierend, die Flotte in See stechen, um Überlebende zu retten. Er kommt, wie wir aus den Briefen seines Neffen, Plinius des Jüngeren wissen, dabei um. Die Schilderung seiner letzten Stunden, die inneren Monologe, in denen er um Haltung ringt, seinen altersschwachen Körper verflucht, nicht mehr zwischen Erinnertem und Gegenwart zu unterscheiden weiß, sind von beklemmender Dichte. Mehr solcher grandioser Passagen, und ein großer Roman wäre entstanden.
Robert Harris: "Pompeji". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christel Wiemken. Heyne Verlag, München 2003. 379 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.02.2004Das leise Zittern des Weines im Glase
Aus der Kanalarbeiter-Fraktion des historischen Romans: Robert Harris legt eine Wasserleitung nach „Pompeji”
Hundertsiebzig Jahre hat es dieses Mal gedauert, bis eine Geschichte wieder an ihrem Anfang ankam. Hundertsiebzig Jahre sind eine lange Zeit – genug, damit aus einem historischen Roman, der auch eine große Romanze war, ein anderer historischer Roman wird, einer, dem das Historische wichtiger ist als die Hindernisse der Liebe, einer, der hauptsächlich für große Knaben geschrieben ist, für Leute, die wissen wollen, wie es ist, im alten Neapolis eine Fischfarm zu betreiben, oder was man braucht, um ein Leck in einer antiken Wasserleitung zu flicken. Nichts gegen „Pompeji”, den jüngsten Roman des britischen Journalisten Robert Harris. Das Buch tut alles, was ein literarisches Werk für das große Publikum in den Zeiten der Bildungskrise tun muss: Es belehrt und unterhält, es hat einen sympathischen Helden, die Spannung hält über fast vierhundert Seiten. Es schildert ein spektakuläres Ereignis, den Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Ch., es steckt die Phantasie seines Lesers für ein paar Stunden in ein Paar Sandalen und hängt dem Geist eine Toga über. „Bei Jupiter!”, ruft dieser dann noch eine Weile, nachdem er die letzte Seite erreicht hat, und es ist nichts Verwerfliches daran.
Aber was für Bücher sind diesem vorausgegangen: Nicht nur historische Romane in großer Zahl, vor allem aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, vor allem solche aus den Wirren des Kulturkampfs, in denen Heiden bekehrt und Christen den Märtyrertod sterben, nicht nur die Aufzeichnungen, die Plinius der Ältere, der Augenzeuge, vom Ausbruch des Vulkans angefertigt hat. Sondern vor allem einer der bedeutendsten antikisierenden Romane schlechthin: Edward Bulwer-Lyttons „Die letzten Tage von Pompeji” aus dem Jahr 1834. Dieses Buch ist die alte, schwarze Muräne, an der gemessen alle anderen historischen Romane mit demselben Stoff zu silbrigen Sardinen schrumpfen.
Robert Harris gibt sich große Mühe. Sicher und effizient erzählt er von den letzten achtundvierzig Stunden vor dem Knall. Die Spannung entsteht dadurch, dass der Leser zwar weiß, wann die Erde sich öffnen und die Rauchsäule aufsteigen wird, aber im Unklaren darüber ist, was dem Helden in dieser Frist alles gelingen wird: Kann Attilius, der junge Wasserbaumeister, das Leck in der Acqua Augusta stopfen? Wann wird er bemerken, dass die Brunnen rund um den Golf von Neapel versiegen, weil der Ausbruch des Vulkans bevorsteht? Wird es ihm gelingen, die korrupten Machenschaften des Immobilienspekulanten Ampliatus zu durchkreuzen? Und vor allem: wird er Corelia, die ihm in einem nassen Hemd entgegensteigende Tochter des Ampliatus, gewinnen können? Wird er mit ihr die Katastrophe überleben?
Dieser Art sind die Fragen, von denen die Lektüre begleitet wird. Nach schlichtem Muster also ist dieser Roman gebaut, und nicht einmal mit den Charakteren gibt sich Robert Harris viel Mühe: Der Held ist jung, schlank und Ingenieur, und das muss reichen. Das ist nicht falsch kalkuliert. Denn das eigentliche Verdienst dieses Buches liegt im Stofflichen. Wer die technischen und zivilisatorischen Errungenschaften der römischen Kultur auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung kennen lernen möchte, wer wissen will, wie Aquädukte konstruiert sind, wie sich ein Vulkanausbruch im Zittern des Weines im Glas ankündigt und dass die Immobilienspektulation in der Antike ein ähnlich ehrloses Geschäft war, wie es das heute ist – der wird hier üppig bedient.
Eher, als dass er seine eigenen erzählerischen Möglichkeiten einholte, literarisiert dieser Roman das Prinzip des rigorosen Details, das dem Zeichner David Macauley in den achtziger Jahren mit Darstellungen der mittelalterlichen Burg oder der Untergrundbahn zu so großem Erfolg verhalf. „Pompeji” ist ein Buch für die Zeiten international vergleichender Bildungsforschung: eine Lehreinheit aus dem Geschichtsunterricht nach dem Verfahren der „Dead Poets’ Society”.
Abgründig ist daran nur eines: Dass sich der Historismus, der in dieser, seiner schlichtesten Form, in den Geisteswissenschaften schon vor knapp hundert Jahren mit triumphierender Geste verabschiedet wurde, in der populären Kultur so konsequent fortgeführt wird. Literarisch ist Bulwer-Lyttons Roman seinem modernen Nachfahren vor allem deshalb überlegen, weil er die Schilderung des antiken Milieus in einer romantischen Liebesgeschichte aufgehen lässt. Das Pathos der Romanze, Leidenschaft, Ränke, Treue, Eifersucht und Neid bringen nicht nur die Antike zum Glühen, sondern imprägnieren „Die letzten Tage von Pompeji” zugleich mit dem Aroma des frühen Viktorianismus – so dass dieser Roman nicht nur von historischen Dingen erzählt, sondern selbst als Produkt vergangener Zeiten, als interessantes Gebilde der Geschichte erscheint. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass die Liebe zum Kanalbau an diese Stelle rücken könnte.
THOMAS STEINFELD
ROBERT HARRIS: Pompeji. Roman. Aus dem Englischen von Christel Wiemken. Wilhelm Heyne Verlag, München 2003. 382 Seiten, 20 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Aus der Kanalarbeiter-Fraktion des historischen Romans: Robert Harris legt eine Wasserleitung nach „Pompeji”
Hundertsiebzig Jahre hat es dieses Mal gedauert, bis eine Geschichte wieder an ihrem Anfang ankam. Hundertsiebzig Jahre sind eine lange Zeit – genug, damit aus einem historischen Roman, der auch eine große Romanze war, ein anderer historischer Roman wird, einer, dem das Historische wichtiger ist als die Hindernisse der Liebe, einer, der hauptsächlich für große Knaben geschrieben ist, für Leute, die wissen wollen, wie es ist, im alten Neapolis eine Fischfarm zu betreiben, oder was man braucht, um ein Leck in einer antiken Wasserleitung zu flicken. Nichts gegen „Pompeji”, den jüngsten Roman des britischen Journalisten Robert Harris. Das Buch tut alles, was ein literarisches Werk für das große Publikum in den Zeiten der Bildungskrise tun muss: Es belehrt und unterhält, es hat einen sympathischen Helden, die Spannung hält über fast vierhundert Seiten. Es schildert ein spektakuläres Ereignis, den Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Ch., es steckt die Phantasie seines Lesers für ein paar Stunden in ein Paar Sandalen und hängt dem Geist eine Toga über. „Bei Jupiter!”, ruft dieser dann noch eine Weile, nachdem er die letzte Seite erreicht hat, und es ist nichts Verwerfliches daran.
Aber was für Bücher sind diesem vorausgegangen: Nicht nur historische Romane in großer Zahl, vor allem aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, vor allem solche aus den Wirren des Kulturkampfs, in denen Heiden bekehrt und Christen den Märtyrertod sterben, nicht nur die Aufzeichnungen, die Plinius der Ältere, der Augenzeuge, vom Ausbruch des Vulkans angefertigt hat. Sondern vor allem einer der bedeutendsten antikisierenden Romane schlechthin: Edward Bulwer-Lyttons „Die letzten Tage von Pompeji” aus dem Jahr 1834. Dieses Buch ist die alte, schwarze Muräne, an der gemessen alle anderen historischen Romane mit demselben Stoff zu silbrigen Sardinen schrumpfen.
Robert Harris gibt sich große Mühe. Sicher und effizient erzählt er von den letzten achtundvierzig Stunden vor dem Knall. Die Spannung entsteht dadurch, dass der Leser zwar weiß, wann die Erde sich öffnen und die Rauchsäule aufsteigen wird, aber im Unklaren darüber ist, was dem Helden in dieser Frist alles gelingen wird: Kann Attilius, der junge Wasserbaumeister, das Leck in der Acqua Augusta stopfen? Wann wird er bemerken, dass die Brunnen rund um den Golf von Neapel versiegen, weil der Ausbruch des Vulkans bevorsteht? Wird es ihm gelingen, die korrupten Machenschaften des Immobilienspekulanten Ampliatus zu durchkreuzen? Und vor allem: wird er Corelia, die ihm in einem nassen Hemd entgegensteigende Tochter des Ampliatus, gewinnen können? Wird er mit ihr die Katastrophe überleben?
Dieser Art sind die Fragen, von denen die Lektüre begleitet wird. Nach schlichtem Muster also ist dieser Roman gebaut, und nicht einmal mit den Charakteren gibt sich Robert Harris viel Mühe: Der Held ist jung, schlank und Ingenieur, und das muss reichen. Das ist nicht falsch kalkuliert. Denn das eigentliche Verdienst dieses Buches liegt im Stofflichen. Wer die technischen und zivilisatorischen Errungenschaften der römischen Kultur auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung kennen lernen möchte, wer wissen will, wie Aquädukte konstruiert sind, wie sich ein Vulkanausbruch im Zittern des Weines im Glas ankündigt und dass die Immobilienspektulation in der Antike ein ähnlich ehrloses Geschäft war, wie es das heute ist – der wird hier üppig bedient.
Eher, als dass er seine eigenen erzählerischen Möglichkeiten einholte, literarisiert dieser Roman das Prinzip des rigorosen Details, das dem Zeichner David Macauley in den achtziger Jahren mit Darstellungen der mittelalterlichen Burg oder der Untergrundbahn zu so großem Erfolg verhalf. „Pompeji” ist ein Buch für die Zeiten international vergleichender Bildungsforschung: eine Lehreinheit aus dem Geschichtsunterricht nach dem Verfahren der „Dead Poets’ Society”.
Abgründig ist daran nur eines: Dass sich der Historismus, der in dieser, seiner schlichtesten Form, in den Geisteswissenschaften schon vor knapp hundert Jahren mit triumphierender Geste verabschiedet wurde, in der populären Kultur so konsequent fortgeführt wird. Literarisch ist Bulwer-Lyttons Roman seinem modernen Nachfahren vor allem deshalb überlegen, weil er die Schilderung des antiken Milieus in einer romantischen Liebesgeschichte aufgehen lässt. Das Pathos der Romanze, Leidenschaft, Ränke, Treue, Eifersucht und Neid bringen nicht nur die Antike zum Glühen, sondern imprägnieren „Die letzten Tage von Pompeji” zugleich mit dem Aroma des frühen Viktorianismus – so dass dieser Roman nicht nur von historischen Dingen erzählt, sondern selbst als Produkt vergangener Zeiten, als interessantes Gebilde der Geschichte erscheint. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass die Liebe zum Kanalbau an diese Stelle rücken könnte.
THOMAS STEINFELD
ROBERT HARRIS: Pompeji. Roman. Aus dem Englischen von Christel Wiemken. Wilhelm Heyne Verlag, München 2003. 382 Seiten, 20 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de