Pong lebt! Mit schallendem Juchhe hat sich am Ende von Sibylle Lewitscharoffs Erzählung »Pong« der liebenswerte, verrückte Held dem Mond in die Arme geworfen - und hat, entgegen den Befürchtungen der Leser, diesen kühnen Sprung vom Dach überstanden. Nun liegt er im Krankenhaus und hat alle Zeit der Welt, sich seinen Gedanken hinzugeben, die vor allem um rätselhafte Objekte kreisen, die er zu Hause verwahrt. Durch »Pong«, 1998 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, wurde die literarische Öffentlichkeit auf Sibylle Lewitscharoff aufmerksam. Mit »Pong redivivus« haben Sibylle Lewitscharoff und Friedrich Meckseper ein sprach- und bildmächtiges Gesamtkunstwerk der magischen Art erschaffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2013Flattergeist will fliegen
Sibylle Lewitscharoffs Held Pong kehrt zurück
Die dunkelste Nacht wird hell, wenn man dieses schöne Insel-Büchlein liest: weil man einen misanthropischen Miesepeter mitten in einer Seelenwandlung ertappt. Weil man einen misogynen Meckerfritzen plötzlich bereit sieht, sich von einer Frau mit einer Kanarienvogelfeder an der Nase kitzeln zu lassen und dabei das reine Glück zu empfinden. Wer ist dieser Mann?
Die Rede ist von Pong, also jener Kopfgeburt, die Sibylle Lewitscharoff 1998 den Bachmannpreis einbrachte und sich in einem famosen Kurzroman austobte, bei dem man nicht erst am Ende, sondern fortwährend um die Existenz der Hauptfigur bangen musste. Denn dieser sonderbare Herr Pong ist nicht nur ein schwärmerischer Mondverehrer in der Tradition großer Romantiker, sondern auch ein rechter Lunatic, eine bipolare Kippfigur, einer, der auf dem Dach steht und noch mal kurz ums Haus fliegen will.
Wie wir nun erfahren, stürzt er aber nicht ab, sondern landet einigermaßen weich, erst im Geäst einer Blutbuche und dann mit gebrochenem Bein im Krankenhaus. Das ist die Gelegenheit für den Einbruch des Spülbecken-Realismus in die Erzählung: Als Kontrast zu Pongs poetischen und neurotischen Gedankenketten sieht man nun sehr plastisch ein deutsches Krankenhaus mit Kartoffelpüree und Labbertee, mit Pflegerinnen namens Mandy und Erika, türkischen Putzfrauen und gnadenlosen Weißkitteln, denen Pong zunächst mit Verachtung begegnet.
Der Leser wird jedoch bald merken, dass Pong, sobald ihm jemand etwas Gutes tut, und sei es nur die kleinste Geste, dies mit fast grotesker Dankbarkeit aufnimmt: Schon wähnt er den eben noch als Feind angesehenen Menschen als besten Freund. Besonders lustig und besonders rührend ist dieser Pong-Prozess zu beobachten, als überraschend ein Mann zu ihm ins Zimmer gelegt wird: "Das Allerschlimmste trat ein", heißt es da zunächst. Aber Pongs anfängliches Misstrauen schwindet, je mehr sich der Leidensgenosse als Interessenverwandter herausstellt: Beide lieben zum Beispiel die Fernsehserie "Monk", und bald sieht man sie gemeinsam davor giggeln.
Dass diese Erzählung wie aus einem Guss wirkt, ist umso erstaunlicher, als sie eine Art Fingerübung darstellt: Die Autorin hat sie nach eigener Auskunft "um einige Objekte herumgeschrieben" - nämlich solche, die ihr Ehemann, der Künstler Friedrich Meckseper, aus Pergament und Zinkblech, manchmal auch aus Algen und Kompassnadeln collagiert hat. Herausgekommen ist ein trotz aller kunstvollen Übertreibung realistisches Dokument des Wahns, das manchmal gar nicht so leicht zu ertragen ist, wie es durch seinen Esprit und Witz zunächst wirkt.
In ihrer Büchnerpreisrede hat Sibylle Lewitscharoff jüngst gesagt, die Verrückten auf dem Papier seien ihr lieber als die im wirklichen Leben. Das ist in ihrem Fall nicht bloß ein bequemer Spruch, sondern eine durch persönliche Erfahrung gewonnene Wahrheit. Im Bezug auf Pong hat die Autorin recht: Begegnen möchte man ihm eigentlich nicht. Über ihn lesen dafür umso lieber: von seinem Größenwahn und seiner skurrilen Soziophobie, von seinem unbedingten Willen zur Poetisierung der Welt - und von seinen sehr eigenen Überzeugungen wie etwa jener, das Mare humorum auf dem Mond sei ein feines Lächeln des Universums als Kommentar zu seinen Gedanken - "keineswegs, um ihn kleinzulachen, sondern nur, um ihm zu bedeuten, dass er alles, was auf der Erde geschah, vielleicht ein bißchen zu schwer nahm".
Wir plädieren nachdrücklich dafür, dass die aus Pongs Wesensart abgeleiteten Neologismen - also "Pöngeleien" für seine absurden Einfälle, "pöngeln" als deren gezieltes Herbeiführen - in den Duden aufgenommen werden. Pong steht im Regal vielleicht nahe bei Nabokovs "Pnin" (so wie der sein Zimmer pninisiert, wird auch das Krankenzimmer selbstverständlich zu einem Pong-Zimmer); er reiht sich aber auch gut irgendwo zwischen Büchners Lenz und Woody Allens Filmfiguren ein.
Vielleicht war es ja noch nicht das letzte Mal, dass man von diesem herrlichen Flattergeist gelesen hat. Das Ende des Buches ist dann nämlich wieder dramatisch genug, um auf eine weitere Fortsetzung zu hoffen, die den großen Betrübten wieder himmelhoch jauchzen lassen wird.
JAN WIELE
Sibylle Lewitscharoff, Friedrich Meckseper: "Pong redivivus".
Insel Verlag, Berlin 2013. 108 S., 14 farbige Abb., geb., 13,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sibylle Lewitscharoffs Held Pong kehrt zurück
Die dunkelste Nacht wird hell, wenn man dieses schöne Insel-Büchlein liest: weil man einen misanthropischen Miesepeter mitten in einer Seelenwandlung ertappt. Weil man einen misogynen Meckerfritzen plötzlich bereit sieht, sich von einer Frau mit einer Kanarienvogelfeder an der Nase kitzeln zu lassen und dabei das reine Glück zu empfinden. Wer ist dieser Mann?
Die Rede ist von Pong, also jener Kopfgeburt, die Sibylle Lewitscharoff 1998 den Bachmannpreis einbrachte und sich in einem famosen Kurzroman austobte, bei dem man nicht erst am Ende, sondern fortwährend um die Existenz der Hauptfigur bangen musste. Denn dieser sonderbare Herr Pong ist nicht nur ein schwärmerischer Mondverehrer in der Tradition großer Romantiker, sondern auch ein rechter Lunatic, eine bipolare Kippfigur, einer, der auf dem Dach steht und noch mal kurz ums Haus fliegen will.
Wie wir nun erfahren, stürzt er aber nicht ab, sondern landet einigermaßen weich, erst im Geäst einer Blutbuche und dann mit gebrochenem Bein im Krankenhaus. Das ist die Gelegenheit für den Einbruch des Spülbecken-Realismus in die Erzählung: Als Kontrast zu Pongs poetischen und neurotischen Gedankenketten sieht man nun sehr plastisch ein deutsches Krankenhaus mit Kartoffelpüree und Labbertee, mit Pflegerinnen namens Mandy und Erika, türkischen Putzfrauen und gnadenlosen Weißkitteln, denen Pong zunächst mit Verachtung begegnet.
Der Leser wird jedoch bald merken, dass Pong, sobald ihm jemand etwas Gutes tut, und sei es nur die kleinste Geste, dies mit fast grotesker Dankbarkeit aufnimmt: Schon wähnt er den eben noch als Feind angesehenen Menschen als besten Freund. Besonders lustig und besonders rührend ist dieser Pong-Prozess zu beobachten, als überraschend ein Mann zu ihm ins Zimmer gelegt wird: "Das Allerschlimmste trat ein", heißt es da zunächst. Aber Pongs anfängliches Misstrauen schwindet, je mehr sich der Leidensgenosse als Interessenverwandter herausstellt: Beide lieben zum Beispiel die Fernsehserie "Monk", und bald sieht man sie gemeinsam davor giggeln.
Dass diese Erzählung wie aus einem Guss wirkt, ist umso erstaunlicher, als sie eine Art Fingerübung darstellt: Die Autorin hat sie nach eigener Auskunft "um einige Objekte herumgeschrieben" - nämlich solche, die ihr Ehemann, der Künstler Friedrich Meckseper, aus Pergament und Zinkblech, manchmal auch aus Algen und Kompassnadeln collagiert hat. Herausgekommen ist ein trotz aller kunstvollen Übertreibung realistisches Dokument des Wahns, das manchmal gar nicht so leicht zu ertragen ist, wie es durch seinen Esprit und Witz zunächst wirkt.
In ihrer Büchnerpreisrede hat Sibylle Lewitscharoff jüngst gesagt, die Verrückten auf dem Papier seien ihr lieber als die im wirklichen Leben. Das ist in ihrem Fall nicht bloß ein bequemer Spruch, sondern eine durch persönliche Erfahrung gewonnene Wahrheit. Im Bezug auf Pong hat die Autorin recht: Begegnen möchte man ihm eigentlich nicht. Über ihn lesen dafür umso lieber: von seinem Größenwahn und seiner skurrilen Soziophobie, von seinem unbedingten Willen zur Poetisierung der Welt - und von seinen sehr eigenen Überzeugungen wie etwa jener, das Mare humorum auf dem Mond sei ein feines Lächeln des Universums als Kommentar zu seinen Gedanken - "keineswegs, um ihn kleinzulachen, sondern nur, um ihm zu bedeuten, dass er alles, was auf der Erde geschah, vielleicht ein bißchen zu schwer nahm".
Wir plädieren nachdrücklich dafür, dass die aus Pongs Wesensart abgeleiteten Neologismen - also "Pöngeleien" für seine absurden Einfälle, "pöngeln" als deren gezieltes Herbeiführen - in den Duden aufgenommen werden. Pong steht im Regal vielleicht nahe bei Nabokovs "Pnin" (so wie der sein Zimmer pninisiert, wird auch das Krankenzimmer selbstverständlich zu einem Pong-Zimmer); er reiht sich aber auch gut irgendwo zwischen Büchners Lenz und Woody Allens Filmfiguren ein.
Vielleicht war es ja noch nicht das letzte Mal, dass man von diesem herrlichen Flattergeist gelesen hat. Das Ende des Buches ist dann nämlich wieder dramatisch genug, um auf eine weitere Fortsetzung zu hoffen, die den großen Betrübten wieder himmelhoch jauchzen lassen wird.
JAN WIELE
Sibylle Lewitscharoff, Friedrich Meckseper: "Pong redivivus".
Insel Verlag, Berlin 2013. 108 S., 14 farbige Abb., geb., 13,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.10.2013Der Mond und seine Lunatics
Am kommenden Samstag erhält die Autorin Sibylle Lewitscharoff
den Büchnerpreis – gerade hat sie mit Friedrich Meckseper ihren „Pong redivivus“ veröffentlicht
VON THOMAS STEINFELD
Jede Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung findet in Darmstadt statt, ihrem Sitz, und sie endet mit der Verleihung des Büchner-Preises. Diese Auszeichnung ist nicht der am höchsten dotierte Preis für einen Schriftsteller deutscher Sprache, aber es ist, wie man so sagt, die „bedeutendste“ – im selben Sinne, wie die Darmstädter Akademie unter den deutschen Dichterakademien die „bedeutendste“ sein soll. Gemeint ist damit, dass der Preisträger, durch das, was er ist und tut, für viele etwas Verbindliches vollbracht haben muss. Nicht immer ist der Darmstädter Akademie bewusst, dass sie, in diesem Sinne, nicht nur Vorbilder auszuzeichnen hat, sondern auch solche schaffen sollte.
Und nicht immer weiß sie, dass es die erste und wichtigste Aufgabe einer Akademie ist, eben solche Vorbilder einem großen Publikum vorzustellen und für deren öffentliche Geltung zu sorgen. Wenn die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff an diesem Samstag den Preis erhalten wird, wird die Akademie indessen etwas Richtiges getan haben: Es gibt nicht viele Autoren deutscher Sprache, die, so wie sie, Allgemeinheit beanspruchen und diesen Anspruch zugleich beglaubigen können.
Das gilt auch dann, wenn sie scheinbar das Entgegengesetzte tut, sich also vermeintlich ganz dem Aparten und Eigensinnigen widmet: In diesen Tagen ist von Sibylle Lewitscharoff ein schmales Buch erschienen, eine Erzählung nur, die von einem Herrn namens „Pong“ handelt, einem sanften Verrückten, der dem Mond entgegensprang, sich die Knochen brach und nun also im Krankenhaus liegt. Schon einmal hat sich die Autorin dieser Figur gewidmet, im Buch „Pong“ aus dem Jahr 1998, und wenn Pong jetzt wiederkehrt, dann tut er es nicht nur um viele Jahre gemildert, sondern auch weiser: Er weiß zum Beispiel, dass ein Mensch, der morgens aufwacht, zumindest ein wenig anders ist als derselbe Mensch, so wie er am Abend zuvor einschlief, und dass das nicht nur für einen Morgen und einen Abend gilt, sondern für alle Morgen und alle Abende, weshalb man sich fortlaufend neu finden und zurechtfinden muss.
Und überhaupt besteht das Wunderliche an Herrn Pong darin, ein sehr biegsames Ich durch die Welt zu führen, dem der Tagtraum so nah ist wie das Bärtchen des Oberarztes, dem ein technischer Apparat namens „Widrigkeitsfänger“ ebenso plausibel erscheint wie die Abenteuer eines neurotischen Fernsehdetektivs namens „Monk“ – und der also genauso ein Narziss, Wünschelrutengänger und Phantast ist wie die meisten Menschen, nur ein bisschen ärger und ein bisschen netter.
„Der Mond war schön“, heißt es in „Pong redivivus“, „der Mond leuchtete, als bestünde er aus einem runden Knochen, aus dessen Poren ein weißes, intensives Licht drang. Natürlich kein feuriges Sonnenlicht, das sich selbst offenbarte, sondern ein geheimnisvolles mildes, dafür aber umso wirksameres, kräfteweckendes.“ Sibylle Lewitscharoff schreibt eine feine, schöne und vor allem sich selbst immer neu erfindende Sprache, die – vor allem für Herrn Pong – zurückgeht auf den Monddichter Clemens von Brentano und ansonsten auch weit darüber hinaus, bis zurück in das achtzehnte Jahrhundert, zu dessen Sprachschöpfertum und zu dessen in der Auseinandersetzung mit der Religion gewonnenen Innigkeit.
Vorbildlich an Sibylle Lewitscharoff ist das praktische Bekenntnis zur deutschen Sprache und Literatur als einer offenen Tradition, vorbildlich ist sie, wenn sie, wie die Dichter des achtzehnten Jahrhunderts, das Erzählen mit einem pädagogischen Impuls verbindet und mit einem Anspruch auf Wahrheit. Denn vorbildlich sein kann man nur im Stil, nicht in der Gesinnung, die der Moral zugehört und damit dem Persönlichen, und schon gar nicht im Plot, der etwas Spezielles ist und ganz in seiner Geschichte aufgehoben.
Wo der Anspruch auf Wahrheit zu erkennen wäre? Am Stil und in den Charakteren, die alle, von „Pong“ bis „Blumenberg“ (2011), poröse Gestalten sind, durchlässig für Erfahrungen aller Art, reale und unwirkliche, und die damit zurechtkommen wollen und sollen. Über diese Porösität, also über die Anstrengung, ein Ich zu sein und sich als solches zu behaupten, weiß Sibylle Lewitscharoff viel, nicht zuletzt aufgrund vergangener Drogenerfahrungen. Sie macht keinen Hehl daraus, sondern Dichtung: Vier Romane sind es bisher, Erzählungen sowie, wie es sich für eine repräsentative Schriftstellerin gehört, Essays und Vorträge in großer Zahl.
In dieser Anstrengung aber liegt Individualität, darin, dass ein Ich sich nur als energetisches Zentrum, als Wollen und Tun verwirklicht und nicht als gesetztes Wesen. Denn Letzteres hat keinen Inhalt: Es ist das moderne Ich, das man bewirtschaften und verbessern muss, ein narzisstisches Formprinzip, dessen banales Geheimnis darin besteht, das es fortwährend seine Verwandlung will und keinen Augenblick bedenkt, dass das optimierte Ich ein grundsätzlich anderes sein muss als das zu optimierende.
Um wie viel wahrer hingegen ist eine Figur wie „Pong“, ein Mann, der am liebsten hin- und herspazieren möchte, „die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ein bisschen wie ein älterer Herr, der auf vergangene Tage blickt, vielleicht ein Stöckchen schwenkt und immer wieder den Kopf hebt, um dem Mond zu huldigen, als Dank für die Aufmunterung.“ Dass dieser Mann ein Verrückter ist, muss man für Menschen, die dieses Bild für ein Idyll und seine Autorin für eine biedere Gestalt halten, leider hinzufügen.
Herr Pong stammt aus dem Jahr
1998, jetzt ist er wieder da,
gemildert und weiser geworden
„Er tappte wieder in der Finsternis umher, besann sich auf das Schicksalsrad, das
zu Hause auf ihn wartete, versehen mit einem Rädchen anstelle des Steckens der Fortuna“: Friedrich Mecksepers „Mechanischer Kreis“ (2010). FOTO: FRIEDRICH MECKSEPER/SUHRKAMP VERLAG
Sibylle Lewitscharoff / Friedrich Meckseper: Pong redivivus. Mit 14 farbigen Abbildungen. Insel-Bücherei Nr. 1383. Insel Verlag, Berlin 2013. 108 Seiten, 13,90 Euro.
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Am kommenden Samstag erhält die Autorin Sibylle Lewitscharoff
den Büchnerpreis – gerade hat sie mit Friedrich Meckseper ihren „Pong redivivus“ veröffentlicht
VON THOMAS STEINFELD
Jede Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung findet in Darmstadt statt, ihrem Sitz, und sie endet mit der Verleihung des Büchner-Preises. Diese Auszeichnung ist nicht der am höchsten dotierte Preis für einen Schriftsteller deutscher Sprache, aber es ist, wie man so sagt, die „bedeutendste“ – im selben Sinne, wie die Darmstädter Akademie unter den deutschen Dichterakademien die „bedeutendste“ sein soll. Gemeint ist damit, dass der Preisträger, durch das, was er ist und tut, für viele etwas Verbindliches vollbracht haben muss. Nicht immer ist der Darmstädter Akademie bewusst, dass sie, in diesem Sinne, nicht nur Vorbilder auszuzeichnen hat, sondern auch solche schaffen sollte.
Und nicht immer weiß sie, dass es die erste und wichtigste Aufgabe einer Akademie ist, eben solche Vorbilder einem großen Publikum vorzustellen und für deren öffentliche Geltung zu sorgen. Wenn die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff an diesem Samstag den Preis erhalten wird, wird die Akademie indessen etwas Richtiges getan haben: Es gibt nicht viele Autoren deutscher Sprache, die, so wie sie, Allgemeinheit beanspruchen und diesen Anspruch zugleich beglaubigen können.
Das gilt auch dann, wenn sie scheinbar das Entgegengesetzte tut, sich also vermeintlich ganz dem Aparten und Eigensinnigen widmet: In diesen Tagen ist von Sibylle Lewitscharoff ein schmales Buch erschienen, eine Erzählung nur, die von einem Herrn namens „Pong“ handelt, einem sanften Verrückten, der dem Mond entgegensprang, sich die Knochen brach und nun also im Krankenhaus liegt. Schon einmal hat sich die Autorin dieser Figur gewidmet, im Buch „Pong“ aus dem Jahr 1998, und wenn Pong jetzt wiederkehrt, dann tut er es nicht nur um viele Jahre gemildert, sondern auch weiser: Er weiß zum Beispiel, dass ein Mensch, der morgens aufwacht, zumindest ein wenig anders ist als derselbe Mensch, so wie er am Abend zuvor einschlief, und dass das nicht nur für einen Morgen und einen Abend gilt, sondern für alle Morgen und alle Abende, weshalb man sich fortlaufend neu finden und zurechtfinden muss.
Und überhaupt besteht das Wunderliche an Herrn Pong darin, ein sehr biegsames Ich durch die Welt zu führen, dem der Tagtraum so nah ist wie das Bärtchen des Oberarztes, dem ein technischer Apparat namens „Widrigkeitsfänger“ ebenso plausibel erscheint wie die Abenteuer eines neurotischen Fernsehdetektivs namens „Monk“ – und der also genauso ein Narziss, Wünschelrutengänger und Phantast ist wie die meisten Menschen, nur ein bisschen ärger und ein bisschen netter.
„Der Mond war schön“, heißt es in „Pong redivivus“, „der Mond leuchtete, als bestünde er aus einem runden Knochen, aus dessen Poren ein weißes, intensives Licht drang. Natürlich kein feuriges Sonnenlicht, das sich selbst offenbarte, sondern ein geheimnisvolles mildes, dafür aber umso wirksameres, kräfteweckendes.“ Sibylle Lewitscharoff schreibt eine feine, schöne und vor allem sich selbst immer neu erfindende Sprache, die – vor allem für Herrn Pong – zurückgeht auf den Monddichter Clemens von Brentano und ansonsten auch weit darüber hinaus, bis zurück in das achtzehnte Jahrhundert, zu dessen Sprachschöpfertum und zu dessen in der Auseinandersetzung mit der Religion gewonnenen Innigkeit.
Vorbildlich an Sibylle Lewitscharoff ist das praktische Bekenntnis zur deutschen Sprache und Literatur als einer offenen Tradition, vorbildlich ist sie, wenn sie, wie die Dichter des achtzehnten Jahrhunderts, das Erzählen mit einem pädagogischen Impuls verbindet und mit einem Anspruch auf Wahrheit. Denn vorbildlich sein kann man nur im Stil, nicht in der Gesinnung, die der Moral zugehört und damit dem Persönlichen, und schon gar nicht im Plot, der etwas Spezielles ist und ganz in seiner Geschichte aufgehoben.
Wo der Anspruch auf Wahrheit zu erkennen wäre? Am Stil und in den Charakteren, die alle, von „Pong“ bis „Blumenberg“ (2011), poröse Gestalten sind, durchlässig für Erfahrungen aller Art, reale und unwirkliche, und die damit zurechtkommen wollen und sollen. Über diese Porösität, also über die Anstrengung, ein Ich zu sein und sich als solches zu behaupten, weiß Sibylle Lewitscharoff viel, nicht zuletzt aufgrund vergangener Drogenerfahrungen. Sie macht keinen Hehl daraus, sondern Dichtung: Vier Romane sind es bisher, Erzählungen sowie, wie es sich für eine repräsentative Schriftstellerin gehört, Essays und Vorträge in großer Zahl.
In dieser Anstrengung aber liegt Individualität, darin, dass ein Ich sich nur als energetisches Zentrum, als Wollen und Tun verwirklicht und nicht als gesetztes Wesen. Denn Letzteres hat keinen Inhalt: Es ist das moderne Ich, das man bewirtschaften und verbessern muss, ein narzisstisches Formprinzip, dessen banales Geheimnis darin besteht, das es fortwährend seine Verwandlung will und keinen Augenblick bedenkt, dass das optimierte Ich ein grundsätzlich anderes sein muss als das zu optimierende.
Um wie viel wahrer hingegen ist eine Figur wie „Pong“, ein Mann, der am liebsten hin- und herspazieren möchte, „die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ein bisschen wie ein älterer Herr, der auf vergangene Tage blickt, vielleicht ein Stöckchen schwenkt und immer wieder den Kopf hebt, um dem Mond zu huldigen, als Dank für die Aufmunterung.“ Dass dieser Mann ein Verrückter ist, muss man für Menschen, die dieses Bild für ein Idyll und seine Autorin für eine biedere Gestalt halten, leider hinzufügen.
Herr Pong stammt aus dem Jahr
1998, jetzt ist er wieder da,
gemildert und weiser geworden
„Er tappte wieder in der Finsternis umher, besann sich auf das Schicksalsrad, das
zu Hause auf ihn wartete, versehen mit einem Rädchen anstelle des Steckens der Fortuna“: Friedrich Mecksepers „Mechanischer Kreis“ (2010). FOTO: FRIEDRICH MECKSEPER/SUHRKAMP VERLAG
Sibylle Lewitscharoff / Friedrich Meckseper: Pong redivivus. Mit 14 farbigen Abbildungen. Insel-Bücherei Nr. 1383. Insel Verlag, Berlin 2013. 108 Seiten, 13,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jan Wiele hofft schon jetzt auf eine Fortsetzung der "Pöngeleien" dieser dem Rezensenten ans Herz gewachsenen Figur. Allerdings nur auf dem Papier bei Sibylle Lewitscharoff, denn begegnen möchte er einem soziophoben Kerlchen wie Pong im Leben lieber nicht. Zwischen Büchners Lenz und Woody Allen macht er sich aber gut, meint Wiele. Am meisten schätzt er an der Figur das Kippmoment, also die Bipolarität, in diesem Büchlein zu genießen, als Pong im Krankenhaus, das die Autorin für Wiele schön realistisch beschreibt, um damit die Fantastik etwas zu erden, auf einen Bettgenossen trifft. Famose Figur, famoser kleiner Roman, findet Wiele.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die dunkelste Nacht wird hell, wenn man dieses schöne Insel-Büchlein liest ...« Jan Wiele Frankfurter Allgemeine Zeitung 20131101