Matti und sein Freund Niila wachsen in einem kleinen Dorf im äußersten Norden Schwedens auf, fernab der "wirklichen Welt". Es sind die wilden sechziger Jahre, doch das Leben im Tornedal wird weniger durch Rebellion als durch die unwirtliche Landschaft und den kauzigen Eigensinn seiner Bewohner geprägt. Kein Wunder, dass die beiden Kinder schon früh nichts anderes im Kopf haben, als sich wegzuträumen von diesem Ort. Als endlich der Rock`n`Roll Einzug hält im kleinen Tal, ist ihre Zeit gekommen ...
Der Einzug des Rock`n`Roll in die Einöde
Matti lauscht mit seinem schweigsamen Freund Niila dem Rhythmus der Musik, die aus dem Plattenspieler seiner Schwester dröhnt. Sie verstehen kein Wort, denn ihre Heimat ist der Tornedal, eine einsame Gegend, dort wo Schweden an Finnland grenzt, und Englisch haben sie nicht gelernt. Aber die Musik des Rock`n`Roll und die Lebensfreude, die sie vermittelt, wird ihr Leben verändern. Die wilden Sechziger machen auch vor der abgelegensten Einöde nicht halt.
Der Tornedal
Der 1959 in der abgelegenen Gegend des Tornedal geborene Mikael Niemi erweckt in seinem Roman Populärmusik aus Vittula die Zeit seiner Kindheit zum Leben. Er bringt damit in einem gleichzeitig humorvollen und melancholischen Ton dem Leser eine Welt nahe, die sich zu entdecken lohnt. In 20 Abschnitten, von denen jeder eine fast eigenständige Geschichten ist, lässt er seinen jugendlichen Held Matti vom Leben in jener Gegend erzählen, die weder zu Schweden, noch zu Finnland so richtig zu gehören scheint. Die Entdeckung des modernen Lebens durch den Rock`n`Roll ist nur eine dieser Geschichten. Sie ist aber bezeichnend, da sie eine Gesellschaft konterkariert, die von der extremen Sittenstrenge des Hausapostels Laestadius geprägt ist, jenem Prediger, der die Gegend einst von Sünde und Lotterleben reinigte. Aber wie jede strenge Gesellschaft hat sich auch die des Tornedal in der Vergangenheit die nötigen Ventile schon selbst geschaffen: Hochkomisch schildert Matti traditionelle Fress-, Sauf-, Rauf- und Saunagelage, die jeden Wikinger erblassen lassen würden. Als Matti eine verheerende, drastisch geschilderte Rattenvernichtungsaktion in Gang bringt, weiß er noch nicht, dass sie sein Leben verändern wird: sie bringt ihm die E-Gitarre ein, mit der er seinen Weg aus dem Tornedal beginnen wird, und ohne die dieses wundervolle Buch wahrscheinlich nie entstanden wäre.
Faszinierendes Bild einer untergehenden Welt
Niemi zeichnet hier das faszinierende Bild einer liebenswerten Minderheit, deren Sprache - das Tornedalfinnisch - nur gesprochen wird, und deren Identität wegen der wirtschaftlichen Außenseiterlage und den kargen Lebensbedingungen am Rande der Polarnacht vom Untergang bedroht ist. Wer Freude an liebevoll erzählten Anekdoten von wunderlichen Menschen und kuriosen Situationen hat, der wird dieses Buch lieben. (Andreas Rötzer)
"Dieses Buch ist einfach brillant. man lacht Tränen, wenn man es liest. Man kann gar nicht anders: man muß sich verlieben in jede Geschichte, in jede Figur. Am Ende ist man sogar ein wenig eifersüchtig. Ich habe mich jedenfalls dabei ertappt, wie ich mir gewünscht habe, auch dort oben aufgewachsen zu sein." (Tidningen Angermanland)
Matti lauscht mit seinem schweigsamen Freund Niila dem Rhythmus der Musik, die aus dem Plattenspieler seiner Schwester dröhnt. Sie verstehen kein Wort, denn ihre Heimat ist der Tornedal, eine einsame Gegend, dort wo Schweden an Finnland grenzt, und Englisch haben sie nicht gelernt. Aber die Musik des Rock`n`Roll und die Lebensfreude, die sie vermittelt, wird ihr Leben verändern. Die wilden Sechziger machen auch vor der abgelegensten Einöde nicht halt.
Der Tornedal
Der 1959 in der abgelegenen Gegend des Tornedal geborene Mikael Niemi erweckt in seinem Roman Populärmusik aus Vittula die Zeit seiner Kindheit zum Leben. Er bringt damit in einem gleichzeitig humorvollen und melancholischen Ton dem Leser eine Welt nahe, die sich zu entdecken lohnt. In 20 Abschnitten, von denen jeder eine fast eigenständige Geschichten ist, lässt er seinen jugendlichen Held Matti vom Leben in jener Gegend erzählen, die weder zu Schweden, noch zu Finnland so richtig zu gehören scheint. Die Entdeckung des modernen Lebens durch den Rock`n`Roll ist nur eine dieser Geschichten. Sie ist aber bezeichnend, da sie eine Gesellschaft konterkariert, die von der extremen Sittenstrenge des Hausapostels Laestadius geprägt ist, jenem Prediger, der die Gegend einst von Sünde und Lotterleben reinigte. Aber wie jede strenge Gesellschaft hat sich auch die des Tornedal in der Vergangenheit die nötigen Ventile schon selbst geschaffen: Hochkomisch schildert Matti traditionelle Fress-, Sauf-, Rauf- und Saunagelage, die jeden Wikinger erblassen lassen würden. Als Matti eine verheerende, drastisch geschilderte Rattenvernichtungsaktion in Gang bringt, weiß er noch nicht, dass sie sein Leben verändern wird: sie bringt ihm die E-Gitarre ein, mit der er seinen Weg aus dem Tornedal beginnen wird, und ohne die dieses wundervolle Buch wahrscheinlich nie entstanden wäre.
Faszinierendes Bild einer untergehenden Welt
Niemi zeichnet hier das faszinierende Bild einer liebenswerten Minderheit, deren Sprache - das Tornedalfinnisch - nur gesprochen wird, und deren Identität wegen der wirtschaftlichen Außenseiterlage und den kargen Lebensbedingungen am Rande der Polarnacht vom Untergang bedroht ist. Wer Freude an liebevoll erzählten Anekdoten von wunderlichen Menschen und kuriosen Situationen hat, der wird dieses Buch lieben. (Andreas Rötzer)
"Dieses Buch ist einfach brillant. man lacht Tränen, wenn man es liest. Man kann gar nicht anders: man muß sich verlieben in jede Geschichte, in jede Figur. Am Ende ist man sogar ein wenig eifersüchtig. Ich habe mich jedenfalls dabei ertappt, wie ich mir gewünscht habe, auch dort oben aufgewachsen zu sein." (Tidningen Angermanland)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Die Hölle, das sind die Saunenden
Die gerettete Lippe: Mikael Niemi erzählt von den Wonnen und Wunden des Übergangs / Von Richard Kämmerlings
Gleich nachdem Gott Himmel und Erde geschaffen hatte, teilte er das Licht von der Finsternis. Bis solch obrigkeitliche Maßnahmen in der Provinz greifen, braucht es freilich seine Zeit, und so sind im nordschwedischen Tornedal die Tage und Nächte im Sommer oder Winter immer noch kaum voneinander zu unterscheiden. Als wollten die Menschen hier diesen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung wiedergutmachen, halten sie sich in allen anderen Dingen des Lebens um so mehr an klare Unterscheidungen: Einheimischer oder Fremder, Kommunist oder Faschist, gläubig oder ungläubig, Mann oder Memme. Zwischenzustände sind nicht vorgesehen.
Der größte Vorwurf, den ein heranwachsender Junge in dieser Gegend zu gewärtigen hat, ist folglich, daß er knapsu, weibisch, sei. In alten Zeiten war das einfach: "Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches" ist knapsu, "Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln" nicht. Erst mit zunehmendem Wohlstand wird es kompliziert: "Ist es beispielsweise knapsu, Halbfettmargarine zu essen? Eine Standheizung im Auto zu haben? Sich Haargel zu kaufen? Zu meditieren? Mit Schwimmbrille zu schwimmen? Pflaster zu benutzen? Hundescheiße in die Plastiktüte zu tun?" Die siebziger Jahre haben gerade begonnen, und den jugendlichen Helden von Mikael Niemis Roman interessiert vor allem eines: Ist es knapsu, in einer Schulband Rockmusik zu machen?
Eine eindeutige Antwort bekommt er nicht; einerseits ist Rock 'n' Roll nutzlose Zeitverschwendung, andererseits kann man damit den Mädchen mächtig imponieren. Dennoch sind die Prioritäten in Pajala, der kleinen Grenzstadt, andere. Eines Tages, während eines ausgiebigen Saunabads, nimmt der Vater den pubertierenden Sohn zur Seite. Doch statt der erwarteten sexuellen Aufklärung wird er in die jahrzehntealten Feindschaften und Familienstreitigkeiten eingeweiht, die sich unter anderem um eine Meineidsgeschichte von 1929 und um Torfrechte drehen, die dem Urgroßvater abgeluchst wurden: "Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiteten. Ein kräftiges, riesiges Spinnennetz aus Haß, Anziehung, Angst und Erinnerung."
In wunderbaren Episoden schildert Niemi diesen Dauerkrieg der Familien, Jugendbanden, Viertel und Dörfer gegeneinander, der aus einer harmlosen Prahlerei zum mörderischen Wettsaufen eskalieren kann oder vom kindlichen Kriegsspiel zum gnadenlosen Luftgewehrkampf wird. Dabei wird der Maßstab des erzählerischen Realismus immer wieder mit dem Vergrößerungsglas der Erinnerung außer Kraft gesetzt. Die maßlose Übertreibung ihrer Heldentaten und Schurkenstücke, die sich die Familien gegenseitig vorwerfen, ist dem Autor zum satirischen Erzählprinzip geworden. In einem der komischsten Kapitel steigert sich die zunächst stille Völlerei einer Hochzeitsgesellschaft in den erbarmungslosen Wettstreit um die Krone körperlicher Kraft und Ausdauer - in den glühenden Höllendämpfen der Sauna findet schließlich der Showdown mit überraschendem Ausgang statt.
Das alles ist nicht im versöhnlichen Nostalgieton erzählt, sondern mit einer glasklaren Härte, die hier ein Grundzug der Menschen scheint. Ein prügelnder Vater wird von seinen kräftigen Söhnen gewaltsam in die Schranken gewiesen. Eine Festrede stellt dem siebzigjährigen Geburtstagskind das baldige Verkalken in Aussicht. Eine der eindringlichsten Episoden erzählt von einem Ferienjob, den der Erzähler bei einem deutschen Gast annimmt - einem mysteriösen Schriftsteller, von dem es heißt, er habe einst als SS-Scherge in Finnland gewütet. Sein Schreiben in der Holzhütte wird von Ratten gestört, so daß er dem Jungen für jedes erlegte Tier ein paar Öre verspricht. Wie sich diese Jagd zur Obsession, zum Massaker mit stinkenden Leichenbergen und Massengräbern steigert, ist eine großartige Parabel auf die Kollaboration.
Ähnlich wie Arnold Stadler verhehlt der 1959 geborene Niemi bei aller ironischen Distanz seine tiefe Prägung durch diese Herkunft nicht, seine Sympathie für all die schweigsamen Saunagänger, Holzhausbauer und Fischfanatiker, "die vierzehn Leinenknoten können, aber nur eine Beischlafstellung". Überhaupt erfahren wir einiges über das Sexualverhalten der Tornedalfinnen, das weniger vom Protestantismus als von barocker Fleischlichkeit geprägt ist, die Niemi mit Freude am Grotesken und Vulgären ausmalt.
Nicht zuletzt erzählt "Populärmusik aus Vittula" die anrührende Geschichte einer Freundschaft, die sich mit dem salzigen Geschmack eines "Jungskusses" in die Erinnerung gebrannt hat. Sexuelle Initiation, Sprachfindung und Selbstwerdung verknüpft Niemi durch ein dichtes Netz von Motiven und fast traumartigen Szenen, ohne allzu simple psychologische Deutungen. Unaufdringlich wird Sprache neben der erotischen Verwirrung zum Leitmotiv: Der zunächst völlig stumme Kinderfreund Niila bringt sich Esperanto durch Radiosendungen bei; der rennradfahrende neue Musiklehrer aus Schonen, der "nach Art der Südländer" ein "anormal ausgeprägtes Kontaktbedürfnis hatte", kann sich in einer Art Pfingstwunder in seinem Dialekt mühelos mit den Einheimischen unterhalten.
Eine Urszene ist dem Roman als Prolog vorangestellt. Der Erzähler besteigt einen Fünftausender in Nepal. Auf dem Gipfel ist eine Metallplatte mit tibetanischen Buchstaben. Als er sich herunterbeugt und die Platte küßt, frieren seine feuchten Lippen daran fest - eine tödliche Falle, die eine rettende Kindheitserinnerung auslöst und wie am Beginn von Elias Canettis "Geretteter Zunge" den Erzählfluß erst lostritt. Ein Bildungsroman ist per definitionem ein Medium des Übergangs. Literatur überhaupt ist nach den harten Kriterien Tornedals eindeutig knapsu, etwas für Warmduscher oder, wie man in dieser Region wohl sagen würde, Kaltsauner - also genau das Richtige für Polarnächte, um so viel Erkenntnis und auch Spaß zu haben, "wie man es mit den geringen Mitteln spärlich besiedelter Gebiete nur haben kann".
Mikael Niemi: "Populärmusik aus Vittula". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2002. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
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Die gerettete Lippe: Mikael Niemi erzählt von den Wonnen und Wunden des Übergangs / Von Richard Kämmerlings
Gleich nachdem Gott Himmel und Erde geschaffen hatte, teilte er das Licht von der Finsternis. Bis solch obrigkeitliche Maßnahmen in der Provinz greifen, braucht es freilich seine Zeit, und so sind im nordschwedischen Tornedal die Tage und Nächte im Sommer oder Winter immer noch kaum voneinander zu unterscheiden. Als wollten die Menschen hier diesen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung wiedergutmachen, halten sie sich in allen anderen Dingen des Lebens um so mehr an klare Unterscheidungen: Einheimischer oder Fremder, Kommunist oder Faschist, gläubig oder ungläubig, Mann oder Memme. Zwischenzustände sind nicht vorgesehen.
Der größte Vorwurf, den ein heranwachsender Junge in dieser Gegend zu gewärtigen hat, ist folglich, daß er knapsu, weibisch, sei. In alten Zeiten war das einfach: "Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches" ist knapsu, "Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln" nicht. Erst mit zunehmendem Wohlstand wird es kompliziert: "Ist es beispielsweise knapsu, Halbfettmargarine zu essen? Eine Standheizung im Auto zu haben? Sich Haargel zu kaufen? Zu meditieren? Mit Schwimmbrille zu schwimmen? Pflaster zu benutzen? Hundescheiße in die Plastiktüte zu tun?" Die siebziger Jahre haben gerade begonnen, und den jugendlichen Helden von Mikael Niemis Roman interessiert vor allem eines: Ist es knapsu, in einer Schulband Rockmusik zu machen?
Eine eindeutige Antwort bekommt er nicht; einerseits ist Rock 'n' Roll nutzlose Zeitverschwendung, andererseits kann man damit den Mädchen mächtig imponieren. Dennoch sind die Prioritäten in Pajala, der kleinen Grenzstadt, andere. Eines Tages, während eines ausgiebigen Saunabads, nimmt der Vater den pubertierenden Sohn zur Seite. Doch statt der erwarteten sexuellen Aufklärung wird er in die jahrzehntealten Feindschaften und Familienstreitigkeiten eingeweiht, die sich unter anderem um eine Meineidsgeschichte von 1929 und um Torfrechte drehen, die dem Urgroßvater abgeluchst wurden: "Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiteten. Ein kräftiges, riesiges Spinnennetz aus Haß, Anziehung, Angst und Erinnerung."
In wunderbaren Episoden schildert Niemi diesen Dauerkrieg der Familien, Jugendbanden, Viertel und Dörfer gegeneinander, der aus einer harmlosen Prahlerei zum mörderischen Wettsaufen eskalieren kann oder vom kindlichen Kriegsspiel zum gnadenlosen Luftgewehrkampf wird. Dabei wird der Maßstab des erzählerischen Realismus immer wieder mit dem Vergrößerungsglas der Erinnerung außer Kraft gesetzt. Die maßlose Übertreibung ihrer Heldentaten und Schurkenstücke, die sich die Familien gegenseitig vorwerfen, ist dem Autor zum satirischen Erzählprinzip geworden. In einem der komischsten Kapitel steigert sich die zunächst stille Völlerei einer Hochzeitsgesellschaft in den erbarmungslosen Wettstreit um die Krone körperlicher Kraft und Ausdauer - in den glühenden Höllendämpfen der Sauna findet schließlich der Showdown mit überraschendem Ausgang statt.
Das alles ist nicht im versöhnlichen Nostalgieton erzählt, sondern mit einer glasklaren Härte, die hier ein Grundzug der Menschen scheint. Ein prügelnder Vater wird von seinen kräftigen Söhnen gewaltsam in die Schranken gewiesen. Eine Festrede stellt dem siebzigjährigen Geburtstagskind das baldige Verkalken in Aussicht. Eine der eindringlichsten Episoden erzählt von einem Ferienjob, den der Erzähler bei einem deutschen Gast annimmt - einem mysteriösen Schriftsteller, von dem es heißt, er habe einst als SS-Scherge in Finnland gewütet. Sein Schreiben in der Holzhütte wird von Ratten gestört, so daß er dem Jungen für jedes erlegte Tier ein paar Öre verspricht. Wie sich diese Jagd zur Obsession, zum Massaker mit stinkenden Leichenbergen und Massengräbern steigert, ist eine großartige Parabel auf die Kollaboration.
Ähnlich wie Arnold Stadler verhehlt der 1959 geborene Niemi bei aller ironischen Distanz seine tiefe Prägung durch diese Herkunft nicht, seine Sympathie für all die schweigsamen Saunagänger, Holzhausbauer und Fischfanatiker, "die vierzehn Leinenknoten können, aber nur eine Beischlafstellung". Überhaupt erfahren wir einiges über das Sexualverhalten der Tornedalfinnen, das weniger vom Protestantismus als von barocker Fleischlichkeit geprägt ist, die Niemi mit Freude am Grotesken und Vulgären ausmalt.
Nicht zuletzt erzählt "Populärmusik aus Vittula" die anrührende Geschichte einer Freundschaft, die sich mit dem salzigen Geschmack eines "Jungskusses" in die Erinnerung gebrannt hat. Sexuelle Initiation, Sprachfindung und Selbstwerdung verknüpft Niemi durch ein dichtes Netz von Motiven und fast traumartigen Szenen, ohne allzu simple psychologische Deutungen. Unaufdringlich wird Sprache neben der erotischen Verwirrung zum Leitmotiv: Der zunächst völlig stumme Kinderfreund Niila bringt sich Esperanto durch Radiosendungen bei; der rennradfahrende neue Musiklehrer aus Schonen, der "nach Art der Südländer" ein "anormal ausgeprägtes Kontaktbedürfnis hatte", kann sich in einer Art Pfingstwunder in seinem Dialekt mühelos mit den Einheimischen unterhalten.
Eine Urszene ist dem Roman als Prolog vorangestellt. Der Erzähler besteigt einen Fünftausender in Nepal. Auf dem Gipfel ist eine Metallplatte mit tibetanischen Buchstaben. Als er sich herunterbeugt und die Platte küßt, frieren seine feuchten Lippen daran fest - eine tödliche Falle, die eine rettende Kindheitserinnerung auslöst und wie am Beginn von Elias Canettis "Geretteter Zunge" den Erzählfluß erst lostritt. Ein Bildungsroman ist per definitionem ein Medium des Übergangs. Literatur überhaupt ist nach den harten Kriterien Tornedals eindeutig knapsu, etwas für Warmduscher oder, wie man in dieser Region wohl sagen würde, Kaltsauner - also genau das Richtige für Polarnächte, um so viel Erkenntnis und auch Spaß zu haben, "wie man es mit den geringen Mitteln spärlich besiedelter Gebiete nur haben kann".
Mikael Niemi: "Populärmusik aus Vittula". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2002. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Roman des finnischen Autors Mikael Niemi gebe der Minderheit in der Gegend des Tronedal im nördlichen Finnland eine Stimme, urteilt die Rezensentin Christiane Hollinger. In Niemis Roman stehe die unterhaltsame und klischeehafte, aber auch nachdenkliche Kindheitserinnerung des Erzählers Matti im Mittelpunkt. Die Rezensentin referiert über Matti, der in dieser winterlichen Einöde aufwächst und sich in den 60er Jahren mit Hilfe des Rock´n´Roll Lebensfreude und Aufbruchstimmung verschaffe. Hollinger macht dabei einen anekdotenhaften und episodisch Erzählstil aus, der nur selten einer "wirklichkeitsgetreuen Darstellung" weiche. Es gehe nicht um die charakterliche Entwicklung Mattis, sondern um die Schilderung des kargen Lebens in wirtschaftlicher Abgeschiedenheit der Tornedalfinnen, fasst Hollinger zusammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Herzerfrischend erzählt Niemi von Abenteuern und Streichen der Kindheit und dem Einbruch des Rock´n Roll in ihre Welt. Ein amüsantes, kurzweiliges, ein hinreißendes Buch!" Focus