Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2002Schwedens Wodkagürtel
Volle Dröhnung: Mikael Niemis Roman „Popmusik aus Vittula”
Wenn ein Roman, der von einer Kindheit und Pubertät im äußersten Norden Schwedens handelt, auf dem Thorong-La-Pass im nepalesischen Annapurna-Massiv beginnt, spricht das für die Ambition des Erzählers: Nach dem Prinzip „Das Höchste zuerst” hat er sich auf ein Niveau von fünfeinhalbtausend Metern über dem Meeresspiegel begeben, um auf seine Jugendzeit zurückzublicken. Doch erst ein erniedrigendes Missgeschick, das ihm in der Bergeinsamkeit widerfährt, schafft die Verbindung zwischen Einst und Jetzt. Was zu tun ist, wenn ein empfindlicher Körperteil an einem metallenen Gegenstand festfriert, lernt man in Nordschweden früh, und in Nepal rettet es einem womöglich das Leben. Der komische Vorfall hat im Prolog die Funktion eines Dammbruchs, nach welchem das leere Schreibheft des Wanderers sich endlich füllen kann. Und wenn man den Nachrichten aus der schwedischen Literaturszene glauben darf, dann hat das so entstandene Buch dort sämtliche Schleusen geöffnet, hinter denen die Landsleute des Autors Mikael Niemi sonst gern ihre Begeisterungsfähigkeit zurückhalten: „Populärmusik aus Vittula” brach alle Verkaufsrekorde.
Niemis Erzählung spielt in den sechziger Jahren, jener Epoche also, in der das, was später den Namen „Popkultur” tragen sollte, beginnt, noch die gottverlassensten Zonen Europas zu infizieren. Mit einiger Verzögerung erreichen Schallplatten samt Abspielgeräten auch Kleinstädte wie Pajala im Tornedal an der schwedisch-finnischen Grenze und sogar Stadtviertel, die im Volksmund „Vittula” heißen, was fraglos eher Finnisch als Schwedisch ist und – in Anspielung auf den notorischen Kinderreichtum der Einwohner – ein primäres weibliches Geschlechtsmerkmal bezeichnet.
Mützenträger im Standardtest
Mikael Niemis Held Matti aus Vittula wächst nicht nur in der gleichen Klangwolke heran wie seine Altersgenossen in den Villen oder Sozialwohnungen aller Groß- und Kleinstädte der westlichen Welt, sondern träumt auch bald, wie die Mehrheit der Jugend in jener gesegneten Ära, mit zäher Leidenschaft von einer Karriere als Popmusiker. Die Spannung zwischen diesem gewissermaßen globalen Antrieb, der anthropologischen Konstante der Pubertätsnöte und dem kauzig-abseitigen Flair der Tornedal-Landschaft macht den Reiz des Romans aus, dessen Verfasser seine farbige, kraftstrotzende Sprache an Lyrik und Kinderbüchern geschult hat.
Zumal in Mattis frühen Jahren ist Märchenhaftes und Phantastisches ein selbstverständlicher Teil der Alltagswelt, und Mikael Niemis zupackende Art, die Hirngespinste des Kindes mit der Wirklichkeit des skurrilen Milieus zu verschmelzen, steht in bester skandinavischer Erzähltradition. Aus der Perspektive des kleinen Matti besitzt sein wortkarger Freund Niila die geheimnisvolle Gabe, sich unsichtbar zu machen; für die Erwachsenen ist Niila, Sohn einer vom Minderwertigkeitskomplex geplagten Finnin und eines verbitterten Anhängers der laestadianischen Erweckungsbewegung, ein „typisches Tornedalsches Kleinbürgerwesen”, das sich seiner Umgebung derart anpasst, dass es nicht mehr von ihr zu unterscheiden ist.
Die sittenstrenge, lustfeindliche Glaubenslehre der Laestadianer-Sekte ist unter den Tornedalbewohnern in jener Zeit verbreitet und hilft ihnen, sich mit materieller Armut zu arrangieren. Aber stärker noch ist ihr Lebensgefühl geprägt von dem Bewusstsein, keine Identität zu haben, eine Außenseiterexistenz am Rande des „richtigen Schweden” zu führen: „Wir hatten die schlechtesten Ergebnisse im Standardtest im ganzen Reich. Wir hatten keine Tischsitten. Wir trugen auch im Haus Mützen. Wir suchten nie Pilze, vermieden Gemüse und aßen nie Krebsschnittchen. Wir gingen mit den Füßen auswärts. Wir radebrechten auf Finnisch, ohne Finnen zu sein, wir radebrechten auf Schwedisch, ohne Schweden zu sein.”
Nichts freilich hindert die Bevölkerung jenes kargen Landstrichs daran, in Fressorgien und Prügeleien, Saunawettkämpfen und Saufgelagen von barocken Dimensionen ihre inneren und äußeren Mängel zu kompensieren. Die Schilderungen familiärer Zusammenkünfte, sei es zu Großvaters Geburtstag, Onkels Hochzeit oder Großmutters Beerdigung, gehören zu den glanzvollsten Passagen des Romans, der streng genommen eher eine Anekdotensammlung ist. Unvergesslich bleiben auch Stellen, an denen der Autor versucht, die Wirkung einer damals unerhörten Musik in Worte zu fassen. Wer hätte geahnt, dass „Rock And Roll Music”, nicht gerade einer der stärksten Beatles-Titel, doch über lange Zeit der einzige, zu dem Matti und seine Freunde Zugang haben, ganz ohne Drogeneinwurf solche Ekstasen auslösen kann? „Das Gewitter brach los. Ein Pulverfass explodierte und sprengte das Zimmer. Der Sauerstoff ging zur Neige, wir wurden gegen die Wände geschleudert, waren an die Tapete gepresst, während sich die Kammer in rasender Fahrt drehte. Wir klebten wie die Briefmarken fest, das Blut wurde uns ins Herz gepresst, sammelte sich in einem darmroten Klumpen, bevor alles kehrt machte und in die andere Richtung sprang, bis in die Finger und Zehenspitzen, rote Speerspuren von Blut im ganzen Körper, bis wir wie die Fische nach Luft schnappten. Nach einer Ewigkeit hielt der Wirbel an. Die Luft sauste durch das Schlüsselloch wieder davon, und wir fielen als kleine, feuchte Häufchen auf den Boden.”
Mattis Vater, der den auf der Gitarre dilettierenden Sohn beim Saunabad über die Grundlagen des Lebens, die Eigenarten der Familie und die Risiken des Erwachsenseins aufklärt, ahnt nichts von diesen Exzessen. Für ihn ist das gefährlichste Laster, das geradewegs in die „ewige Nacht der Geisteskrankheit” führt, immer noch das Bücherlesen. Der Erzähler aber neigt nicht zu früher Lesesucht, er hat andere Dinge im Kopf: Bandenkriege, die Gründung einer Popband, eine unappetitliche Rattenvernichtungs-Aktion, mit der er sich eine Elektrogitarre verdienen will, schließlich die immer machtvoller andrängenden sexuellen Gelüste und die ersten, noch unbefriedigenden Experimente auf diesem Gebiet. Später dann wird er wohl viel gelesen haben, denn wir erfahren, dass er Schwedischlehrer in Sundbyberg geworden ist. Die Sehnsucht nach Pajala aber lässt ihn niemals los, nach jener weltfernen Siedlung im „Wodkagürtel”, die Mikael Niemi offenbar so beschrieben hat, dass viele Schweden darin den mythischen Ort ihrer eigenen Kindheit wiedererkennen.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
MIKAEL NIEMI: Popmusik aus Vittula. Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. Wilhelm Goldmann Verlag, München 2002. 304 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Volle Dröhnung: Mikael Niemis Roman „Popmusik aus Vittula”
Wenn ein Roman, der von einer Kindheit und Pubertät im äußersten Norden Schwedens handelt, auf dem Thorong-La-Pass im nepalesischen Annapurna-Massiv beginnt, spricht das für die Ambition des Erzählers: Nach dem Prinzip „Das Höchste zuerst” hat er sich auf ein Niveau von fünfeinhalbtausend Metern über dem Meeresspiegel begeben, um auf seine Jugendzeit zurückzublicken. Doch erst ein erniedrigendes Missgeschick, das ihm in der Bergeinsamkeit widerfährt, schafft die Verbindung zwischen Einst und Jetzt. Was zu tun ist, wenn ein empfindlicher Körperteil an einem metallenen Gegenstand festfriert, lernt man in Nordschweden früh, und in Nepal rettet es einem womöglich das Leben. Der komische Vorfall hat im Prolog die Funktion eines Dammbruchs, nach welchem das leere Schreibheft des Wanderers sich endlich füllen kann. Und wenn man den Nachrichten aus der schwedischen Literaturszene glauben darf, dann hat das so entstandene Buch dort sämtliche Schleusen geöffnet, hinter denen die Landsleute des Autors Mikael Niemi sonst gern ihre Begeisterungsfähigkeit zurückhalten: „Populärmusik aus Vittula” brach alle Verkaufsrekorde.
Niemis Erzählung spielt in den sechziger Jahren, jener Epoche also, in der das, was später den Namen „Popkultur” tragen sollte, beginnt, noch die gottverlassensten Zonen Europas zu infizieren. Mit einiger Verzögerung erreichen Schallplatten samt Abspielgeräten auch Kleinstädte wie Pajala im Tornedal an der schwedisch-finnischen Grenze und sogar Stadtviertel, die im Volksmund „Vittula” heißen, was fraglos eher Finnisch als Schwedisch ist und – in Anspielung auf den notorischen Kinderreichtum der Einwohner – ein primäres weibliches Geschlechtsmerkmal bezeichnet.
Mützenträger im Standardtest
Mikael Niemis Held Matti aus Vittula wächst nicht nur in der gleichen Klangwolke heran wie seine Altersgenossen in den Villen oder Sozialwohnungen aller Groß- und Kleinstädte der westlichen Welt, sondern träumt auch bald, wie die Mehrheit der Jugend in jener gesegneten Ära, mit zäher Leidenschaft von einer Karriere als Popmusiker. Die Spannung zwischen diesem gewissermaßen globalen Antrieb, der anthropologischen Konstante der Pubertätsnöte und dem kauzig-abseitigen Flair der Tornedal-Landschaft macht den Reiz des Romans aus, dessen Verfasser seine farbige, kraftstrotzende Sprache an Lyrik und Kinderbüchern geschult hat.
Zumal in Mattis frühen Jahren ist Märchenhaftes und Phantastisches ein selbstverständlicher Teil der Alltagswelt, und Mikael Niemis zupackende Art, die Hirngespinste des Kindes mit der Wirklichkeit des skurrilen Milieus zu verschmelzen, steht in bester skandinavischer Erzähltradition. Aus der Perspektive des kleinen Matti besitzt sein wortkarger Freund Niila die geheimnisvolle Gabe, sich unsichtbar zu machen; für die Erwachsenen ist Niila, Sohn einer vom Minderwertigkeitskomplex geplagten Finnin und eines verbitterten Anhängers der laestadianischen Erweckungsbewegung, ein „typisches Tornedalsches Kleinbürgerwesen”, das sich seiner Umgebung derart anpasst, dass es nicht mehr von ihr zu unterscheiden ist.
Die sittenstrenge, lustfeindliche Glaubenslehre der Laestadianer-Sekte ist unter den Tornedalbewohnern in jener Zeit verbreitet und hilft ihnen, sich mit materieller Armut zu arrangieren. Aber stärker noch ist ihr Lebensgefühl geprägt von dem Bewusstsein, keine Identität zu haben, eine Außenseiterexistenz am Rande des „richtigen Schweden” zu führen: „Wir hatten die schlechtesten Ergebnisse im Standardtest im ganzen Reich. Wir hatten keine Tischsitten. Wir trugen auch im Haus Mützen. Wir suchten nie Pilze, vermieden Gemüse und aßen nie Krebsschnittchen. Wir gingen mit den Füßen auswärts. Wir radebrechten auf Finnisch, ohne Finnen zu sein, wir radebrechten auf Schwedisch, ohne Schweden zu sein.”
Nichts freilich hindert die Bevölkerung jenes kargen Landstrichs daran, in Fressorgien und Prügeleien, Saunawettkämpfen und Saufgelagen von barocken Dimensionen ihre inneren und äußeren Mängel zu kompensieren. Die Schilderungen familiärer Zusammenkünfte, sei es zu Großvaters Geburtstag, Onkels Hochzeit oder Großmutters Beerdigung, gehören zu den glanzvollsten Passagen des Romans, der streng genommen eher eine Anekdotensammlung ist. Unvergesslich bleiben auch Stellen, an denen der Autor versucht, die Wirkung einer damals unerhörten Musik in Worte zu fassen. Wer hätte geahnt, dass „Rock And Roll Music”, nicht gerade einer der stärksten Beatles-Titel, doch über lange Zeit der einzige, zu dem Matti und seine Freunde Zugang haben, ganz ohne Drogeneinwurf solche Ekstasen auslösen kann? „Das Gewitter brach los. Ein Pulverfass explodierte und sprengte das Zimmer. Der Sauerstoff ging zur Neige, wir wurden gegen die Wände geschleudert, waren an die Tapete gepresst, während sich die Kammer in rasender Fahrt drehte. Wir klebten wie die Briefmarken fest, das Blut wurde uns ins Herz gepresst, sammelte sich in einem darmroten Klumpen, bevor alles kehrt machte und in die andere Richtung sprang, bis in die Finger und Zehenspitzen, rote Speerspuren von Blut im ganzen Körper, bis wir wie die Fische nach Luft schnappten. Nach einer Ewigkeit hielt der Wirbel an. Die Luft sauste durch das Schlüsselloch wieder davon, und wir fielen als kleine, feuchte Häufchen auf den Boden.”
Mattis Vater, der den auf der Gitarre dilettierenden Sohn beim Saunabad über die Grundlagen des Lebens, die Eigenarten der Familie und die Risiken des Erwachsenseins aufklärt, ahnt nichts von diesen Exzessen. Für ihn ist das gefährlichste Laster, das geradewegs in die „ewige Nacht der Geisteskrankheit” führt, immer noch das Bücherlesen. Der Erzähler aber neigt nicht zu früher Lesesucht, er hat andere Dinge im Kopf: Bandenkriege, die Gründung einer Popband, eine unappetitliche Rattenvernichtungs-Aktion, mit der er sich eine Elektrogitarre verdienen will, schließlich die immer machtvoller andrängenden sexuellen Gelüste und die ersten, noch unbefriedigenden Experimente auf diesem Gebiet. Später dann wird er wohl viel gelesen haben, denn wir erfahren, dass er Schwedischlehrer in Sundbyberg geworden ist. Die Sehnsucht nach Pajala aber lässt ihn niemals los, nach jener weltfernen Siedlung im „Wodkagürtel”, die Mikael Niemi offenbar so beschrieben hat, dass viele Schweden darin den mythischen Ort ihrer eigenen Kindheit wiedererkennen.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
MIKAEL NIEMI: Popmusik aus Vittula. Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. Wilhelm Goldmann Verlag, München 2002. 304 Seiten, 19,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Die Hölle, das sind die Saunenden
Die gerettete Lippe: Mikael Niemi erzählt von den Wonnen und Wunden des Übergangs / Von Richard Kämmerlings
Gleich nachdem Gott Himmel und Erde geschaffen hatte, teilte er das Licht von der Finsternis. Bis solch obrigkeitliche Maßnahmen in der Provinz greifen, braucht es freilich seine Zeit, und so sind im nordschwedischen Tornedal die Tage und Nächte im Sommer oder Winter immer noch kaum voneinander zu unterscheiden. Als wollten die Menschen hier diesen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung wiedergutmachen, halten sie sich in allen anderen Dingen des Lebens um so mehr an klare Unterscheidungen: Einheimischer oder Fremder, Kommunist oder Faschist, gläubig oder ungläubig, Mann oder Memme. Zwischenzustände sind nicht vorgesehen.
Der größte Vorwurf, den ein heranwachsender Junge in dieser Gegend zu gewärtigen hat, ist folglich, daß er knapsu, weibisch, sei. In alten Zeiten war das einfach: "Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches" ist knapsu, "Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln" nicht. Erst mit zunehmendem Wohlstand wird es kompliziert: "Ist es beispielsweise knapsu, Halbfettmargarine zu essen? Eine Standheizung im Auto zu haben? Sich Haargel zu kaufen? Zu meditieren? Mit Schwimmbrille zu schwimmen? Pflaster zu benutzen? Hundescheiße in die Plastiktüte zu tun?" Die siebziger Jahre haben gerade begonnen, und den jugendlichen Helden von Mikael Niemis Roman interessiert vor allem eines: Ist es knapsu, in einer Schulband Rockmusik zu machen?
Eine eindeutige Antwort bekommt er nicht; einerseits ist Rock 'n' Roll nutzlose Zeitverschwendung, andererseits kann man damit den Mädchen mächtig imponieren. Dennoch sind die Prioritäten in Pajala, der kleinen Grenzstadt, andere. Eines Tages, während eines ausgiebigen Saunabads, nimmt der Vater den pubertierenden Sohn zur Seite. Doch statt der erwarteten sexuellen Aufklärung wird er in die jahrzehntealten Feindschaften und Familienstreitigkeiten eingeweiht, die sich unter anderem um eine Meineidsgeschichte von 1929 und um Torfrechte drehen, die dem Urgroßvater abgeluchst wurden: "Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiteten. Ein kräftiges, riesiges Spinnennetz aus Haß, Anziehung, Angst und Erinnerung."
In wunderbaren Episoden schildert Niemi diesen Dauerkrieg der Familien, Jugendbanden, Viertel und Dörfer gegeneinander, der aus einer harmlosen Prahlerei zum mörderischen Wettsaufen eskalieren kann oder vom kindlichen Kriegsspiel zum gnadenlosen Luftgewehrkampf wird. Dabei wird der Maßstab des erzählerischen Realismus immer wieder mit dem Vergrößerungsglas der Erinnerung außer Kraft gesetzt. Die maßlose Übertreibung ihrer Heldentaten und Schurkenstücke, die sich die Familien gegenseitig vorwerfen, ist dem Autor zum satirischen Erzählprinzip geworden. In einem der komischsten Kapitel steigert sich die zunächst stille Völlerei einer Hochzeitsgesellschaft in den erbarmungslosen Wettstreit um die Krone körperlicher Kraft und Ausdauer - in den glühenden Höllendämpfen der Sauna findet schließlich der Showdown mit überraschendem Ausgang statt.
Das alles ist nicht im versöhnlichen Nostalgieton erzählt, sondern mit einer glasklaren Härte, die hier ein Grundzug der Menschen scheint. Ein prügelnder Vater wird von seinen kräftigen Söhnen gewaltsam in die Schranken gewiesen. Eine Festrede stellt dem siebzigjährigen Geburtstagskind das baldige Verkalken in Aussicht. Eine der eindringlichsten Episoden erzählt von einem Ferienjob, den der Erzähler bei einem deutschen Gast annimmt - einem mysteriösen Schriftsteller, von dem es heißt, er habe einst als SS-Scherge in Finnland gewütet. Sein Schreiben in der Holzhütte wird von Ratten gestört, so daß er dem Jungen für jedes erlegte Tier ein paar Öre verspricht. Wie sich diese Jagd zur Obsession, zum Massaker mit stinkenden Leichenbergen und Massengräbern steigert, ist eine großartige Parabel auf die Kollaboration.
Ähnlich wie Arnold Stadler verhehlt der 1959 geborene Niemi bei aller ironischen Distanz seine tiefe Prägung durch diese Herkunft nicht, seine Sympathie für all die schweigsamen Saunagänger, Holzhausbauer und Fischfanatiker, "die vierzehn Leinenknoten können, aber nur eine Beischlafstellung". Überhaupt erfahren wir einiges über das Sexualverhalten der Tornedalfinnen, das weniger vom Protestantismus als von barocker Fleischlichkeit geprägt ist, die Niemi mit Freude am Grotesken und Vulgären ausmalt.
Nicht zuletzt erzählt "Populärmusik aus Vittula" die anrührende Geschichte einer Freundschaft, die sich mit dem salzigen Geschmack eines "Jungskusses" in die Erinnerung gebrannt hat. Sexuelle Initiation, Sprachfindung und Selbstwerdung verknüpft Niemi durch ein dichtes Netz von Motiven und fast traumartigen Szenen, ohne allzu simple psychologische Deutungen. Unaufdringlich wird Sprache neben der erotischen Verwirrung zum Leitmotiv: Der zunächst völlig stumme Kinderfreund Niila bringt sich Esperanto durch Radiosendungen bei; der rennradfahrende neue Musiklehrer aus Schonen, der "nach Art der Südländer" ein "anormal ausgeprägtes Kontaktbedürfnis hatte", kann sich in einer Art Pfingstwunder in seinem Dialekt mühelos mit den Einheimischen unterhalten.
Eine Urszene ist dem Roman als Prolog vorangestellt. Der Erzähler besteigt einen Fünftausender in Nepal. Auf dem Gipfel ist eine Metallplatte mit tibetanischen Buchstaben. Als er sich herunterbeugt und die Platte küßt, frieren seine feuchten Lippen daran fest - eine tödliche Falle, die eine rettende Kindheitserinnerung auslöst und wie am Beginn von Elias Canettis "Geretteter Zunge" den Erzählfluß erst lostritt. Ein Bildungsroman ist per definitionem ein Medium des Übergangs. Literatur überhaupt ist nach den harten Kriterien Tornedals eindeutig knapsu, etwas für Warmduscher oder, wie man in dieser Region wohl sagen würde, Kaltsauner - also genau das Richtige für Polarnächte, um so viel Erkenntnis und auch Spaß zu haben, "wie man es mit den geringen Mitteln spärlich besiedelter Gebiete nur haben kann".
Mikael Niemi: "Populärmusik aus Vittula". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2002. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die gerettete Lippe: Mikael Niemi erzählt von den Wonnen und Wunden des Übergangs / Von Richard Kämmerlings
Gleich nachdem Gott Himmel und Erde geschaffen hatte, teilte er das Licht von der Finsternis. Bis solch obrigkeitliche Maßnahmen in der Provinz greifen, braucht es freilich seine Zeit, und so sind im nordschwedischen Tornedal die Tage und Nächte im Sommer oder Winter immer noch kaum voneinander zu unterscheiden. Als wollten die Menschen hier diesen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung wiedergutmachen, halten sie sich in allen anderen Dingen des Lebens um so mehr an klare Unterscheidungen: Einheimischer oder Fremder, Kommunist oder Faschist, gläubig oder ungläubig, Mann oder Memme. Zwischenzustände sind nicht vorgesehen.
Der größte Vorwurf, den ein heranwachsender Junge in dieser Gegend zu gewärtigen hat, ist folglich, daß er knapsu, weibisch, sei. In alten Zeiten war das einfach: "Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches" ist knapsu, "Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln" nicht. Erst mit zunehmendem Wohlstand wird es kompliziert: "Ist es beispielsweise knapsu, Halbfettmargarine zu essen? Eine Standheizung im Auto zu haben? Sich Haargel zu kaufen? Zu meditieren? Mit Schwimmbrille zu schwimmen? Pflaster zu benutzen? Hundescheiße in die Plastiktüte zu tun?" Die siebziger Jahre haben gerade begonnen, und den jugendlichen Helden von Mikael Niemis Roman interessiert vor allem eines: Ist es knapsu, in einer Schulband Rockmusik zu machen?
Eine eindeutige Antwort bekommt er nicht; einerseits ist Rock 'n' Roll nutzlose Zeitverschwendung, andererseits kann man damit den Mädchen mächtig imponieren. Dennoch sind die Prioritäten in Pajala, der kleinen Grenzstadt, andere. Eines Tages, während eines ausgiebigen Saunabads, nimmt der Vater den pubertierenden Sohn zur Seite. Doch statt der erwarteten sexuellen Aufklärung wird er in die jahrzehntealten Feindschaften und Familienstreitigkeiten eingeweiht, die sich unter anderem um eine Meineidsgeschichte von 1929 und um Torfrechte drehen, die dem Urgroßvater abgeluchst wurden: "Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiteten. Ein kräftiges, riesiges Spinnennetz aus Haß, Anziehung, Angst und Erinnerung."
In wunderbaren Episoden schildert Niemi diesen Dauerkrieg der Familien, Jugendbanden, Viertel und Dörfer gegeneinander, der aus einer harmlosen Prahlerei zum mörderischen Wettsaufen eskalieren kann oder vom kindlichen Kriegsspiel zum gnadenlosen Luftgewehrkampf wird. Dabei wird der Maßstab des erzählerischen Realismus immer wieder mit dem Vergrößerungsglas der Erinnerung außer Kraft gesetzt. Die maßlose Übertreibung ihrer Heldentaten und Schurkenstücke, die sich die Familien gegenseitig vorwerfen, ist dem Autor zum satirischen Erzählprinzip geworden. In einem der komischsten Kapitel steigert sich die zunächst stille Völlerei einer Hochzeitsgesellschaft in den erbarmungslosen Wettstreit um die Krone körperlicher Kraft und Ausdauer - in den glühenden Höllendämpfen der Sauna findet schließlich der Showdown mit überraschendem Ausgang statt.
Das alles ist nicht im versöhnlichen Nostalgieton erzählt, sondern mit einer glasklaren Härte, die hier ein Grundzug der Menschen scheint. Ein prügelnder Vater wird von seinen kräftigen Söhnen gewaltsam in die Schranken gewiesen. Eine Festrede stellt dem siebzigjährigen Geburtstagskind das baldige Verkalken in Aussicht. Eine der eindringlichsten Episoden erzählt von einem Ferienjob, den der Erzähler bei einem deutschen Gast annimmt - einem mysteriösen Schriftsteller, von dem es heißt, er habe einst als SS-Scherge in Finnland gewütet. Sein Schreiben in der Holzhütte wird von Ratten gestört, so daß er dem Jungen für jedes erlegte Tier ein paar Öre verspricht. Wie sich diese Jagd zur Obsession, zum Massaker mit stinkenden Leichenbergen und Massengräbern steigert, ist eine großartige Parabel auf die Kollaboration.
Ähnlich wie Arnold Stadler verhehlt der 1959 geborene Niemi bei aller ironischen Distanz seine tiefe Prägung durch diese Herkunft nicht, seine Sympathie für all die schweigsamen Saunagänger, Holzhausbauer und Fischfanatiker, "die vierzehn Leinenknoten können, aber nur eine Beischlafstellung". Überhaupt erfahren wir einiges über das Sexualverhalten der Tornedalfinnen, das weniger vom Protestantismus als von barocker Fleischlichkeit geprägt ist, die Niemi mit Freude am Grotesken und Vulgären ausmalt.
Nicht zuletzt erzählt "Populärmusik aus Vittula" die anrührende Geschichte einer Freundschaft, die sich mit dem salzigen Geschmack eines "Jungskusses" in die Erinnerung gebrannt hat. Sexuelle Initiation, Sprachfindung und Selbstwerdung verknüpft Niemi durch ein dichtes Netz von Motiven und fast traumartigen Szenen, ohne allzu simple psychologische Deutungen. Unaufdringlich wird Sprache neben der erotischen Verwirrung zum Leitmotiv: Der zunächst völlig stumme Kinderfreund Niila bringt sich Esperanto durch Radiosendungen bei; der rennradfahrende neue Musiklehrer aus Schonen, der "nach Art der Südländer" ein "anormal ausgeprägtes Kontaktbedürfnis hatte", kann sich in einer Art Pfingstwunder in seinem Dialekt mühelos mit den Einheimischen unterhalten.
Eine Urszene ist dem Roman als Prolog vorangestellt. Der Erzähler besteigt einen Fünftausender in Nepal. Auf dem Gipfel ist eine Metallplatte mit tibetanischen Buchstaben. Als er sich herunterbeugt und die Platte küßt, frieren seine feuchten Lippen daran fest - eine tödliche Falle, die eine rettende Kindheitserinnerung auslöst und wie am Beginn von Elias Canettis "Geretteter Zunge" den Erzählfluß erst lostritt. Ein Bildungsroman ist per definitionem ein Medium des Übergangs. Literatur überhaupt ist nach den harten Kriterien Tornedals eindeutig knapsu, etwas für Warmduscher oder, wie man in dieser Region wohl sagen würde, Kaltsauner - also genau das Richtige für Polarnächte, um so viel Erkenntnis und auch Spaß zu haben, "wie man es mit den geringen Mitteln spärlich besiedelter Gebiete nur haben kann".
Mikael Niemi: "Populärmusik aus Vittula". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2002. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Herzerfrischend erzählt Niemi von Abenteuern und Streichen der Kindheit und dem Einbruch des Rock´n Roll in ihre Welt. Ein amüsantes, kurzweiliges, ein hinreißendes Buch!" Focus