Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Die Hölle, das sind die Saunenden
Die gerettete Lippe: Mikael Niemi erzählt von den Wonnen und Wunden des Übergangs / Von Richard Kämmerlings
Gleich nachdem Gott Himmel und Erde geschaffen hatte, teilte er das Licht von der Finsternis. Bis solch obrigkeitliche Maßnahmen in der Provinz greifen, braucht es freilich seine Zeit, und so sind im nordschwedischen Tornedal die Tage und Nächte im Sommer oder Winter immer noch kaum voneinander zu unterscheiden. Als wollten die Menschen hier diesen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung wiedergutmachen, halten sie sich in allen anderen Dingen des Lebens um so mehr an klare Unterscheidungen: Einheimischer oder Fremder, Kommunist oder Faschist, gläubig oder ungläubig, Mann oder Memme. Zwischenzustände sind nicht vorgesehen.
Der größte Vorwurf, den ein heranwachsender Junge in dieser Gegend zu gewärtigen hat, ist folglich, daß er knapsu, weibisch, sei. In alten Zeiten war das einfach: "Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches" ist knapsu, "Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln" nicht. Erst mit zunehmendem Wohlstand wird es kompliziert: "Ist es beispielsweise knapsu, Halbfettmargarine zu essen? Eine Standheizung im Auto zu haben? Sich Haargel zu kaufen? Zu meditieren? Mit Schwimmbrille zu schwimmen? Pflaster zu benutzen? Hundescheiße in die Plastiktüte zu tun?" Die siebziger Jahre haben gerade begonnen, und den jugendlichen Helden von Mikael Niemis Roman interessiert vor allem eines: Ist es knapsu, in einer Schulband Rockmusik zu machen?
Eine eindeutige Antwort bekommt er nicht; einerseits ist Rock 'n' Roll nutzlose Zeitverschwendung, andererseits kann man damit den Mädchen mächtig imponieren. Dennoch sind die Prioritäten in Pajala, der kleinen Grenzstadt, andere. Eines Tages, während eines ausgiebigen Saunabads, nimmt der Vater den pubertierenden Sohn zur Seite. Doch statt der erwarteten sexuellen Aufklärung wird er in die jahrzehntealten Feindschaften und Familienstreitigkeiten eingeweiht, die sich unter anderem um eine Meineidsgeschichte von 1929 und um Torfrechte drehen, die dem Urgroßvater abgeluchst wurden: "Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiteten. Ein kräftiges, riesiges Spinnennetz aus Haß, Anziehung, Angst und Erinnerung."
In wunderbaren Episoden schildert Niemi diesen Dauerkrieg der Familien, Jugendbanden, Viertel und Dörfer gegeneinander, der aus einer harmlosen Prahlerei zum mörderischen Wettsaufen eskalieren kann oder vom kindlichen Kriegsspiel zum gnadenlosen Luftgewehrkampf wird. Dabei wird der Maßstab des erzählerischen Realismus immer wieder mit dem Vergrößerungsglas der Erinnerung außer Kraft gesetzt. Die maßlose Übertreibung ihrer Heldentaten und Schurkenstücke, die sich die Familien gegenseitig vorwerfen, ist dem Autor zum satirischen Erzählprinzip geworden. In einem der komischsten Kapitel steigert sich die zunächst stille Völlerei einer Hochzeitsgesellschaft in den erbarmungslosen Wettstreit um die Krone körperlicher Kraft und Ausdauer - in den glühenden Höllendämpfen der Sauna findet schließlich der Showdown mit überraschendem Ausgang statt.
Das alles ist nicht im versöhnlichen Nostalgieton erzählt, sondern mit einer glasklaren Härte, die hier ein Grundzug der Menschen scheint. Ein prügelnder Vater wird von seinen kräftigen Söhnen gewaltsam in die Schranken gewiesen. Eine Festrede stellt dem siebzigjährigen Geburtstagskind das baldige Verkalken in Aussicht. Eine der eindringlichsten Episoden erzählt von einem Ferienjob, den der Erzähler bei einem deutschen Gast annimmt - einem mysteriösen Schriftsteller, von dem es heißt, er habe einst als SS-Scherge in Finnland gewütet. Sein Schreiben in der Holzhütte wird von Ratten gestört, so daß er dem Jungen für jedes erlegte Tier ein paar Öre verspricht. Wie sich diese Jagd zur Obsession, zum Massaker mit stinkenden Leichenbergen und Massengräbern steigert, ist eine großartige Parabel auf die Kollaboration.
Ähnlich wie Arnold Stadler verhehlt der 1959 geborene Niemi bei aller ironischen Distanz seine tiefe Prägung durch diese Herkunft nicht, seine Sympathie für all die schweigsamen Saunagänger, Holzhausbauer und Fischfanatiker, "die vierzehn Leinenknoten können, aber nur eine Beischlafstellung". Überhaupt erfahren wir einiges über das Sexualverhalten der Tornedalfinnen, das weniger vom Protestantismus als von barocker Fleischlichkeit geprägt ist, die Niemi mit Freude am Grotesken und Vulgären ausmalt.
Nicht zuletzt erzählt "Populärmusik aus Vittula" die anrührende Geschichte einer Freundschaft, die sich mit dem salzigen Geschmack eines "Jungskusses" in die Erinnerung gebrannt hat. Sexuelle Initiation, Sprachfindung und Selbstwerdung verknüpft Niemi durch ein dichtes Netz von Motiven und fast traumartigen Szenen, ohne allzu simple psychologische Deutungen. Unaufdringlich wird Sprache neben der erotischen Verwirrung zum Leitmotiv: Der zunächst völlig stumme Kinderfreund Niila bringt sich Esperanto durch Radiosendungen bei; der rennradfahrende neue Musiklehrer aus Schonen, der "nach Art der Südländer" ein "anormal ausgeprägtes Kontaktbedürfnis hatte", kann sich in einer Art Pfingstwunder in seinem Dialekt mühelos mit den Einheimischen unterhalten.
Eine Urszene ist dem Roman als Prolog vorangestellt. Der Erzähler besteigt einen Fünftausender in Nepal. Auf dem Gipfel ist eine Metallplatte mit tibetanischen Buchstaben. Als er sich herunterbeugt und die Platte küßt, frieren seine feuchten Lippen daran fest - eine tödliche Falle, die eine rettende Kindheitserinnerung auslöst und wie am Beginn von Elias Canettis "Geretteter Zunge" den Erzählfluß erst lostritt. Ein Bildungsroman ist per definitionem ein Medium des Übergangs. Literatur überhaupt ist nach den harten Kriterien Tornedals eindeutig knapsu, etwas für Warmduscher oder, wie man in dieser Region wohl sagen würde, Kaltsauner - also genau das Richtige für Polarnächte, um so viel Erkenntnis und auch Spaß zu haben, "wie man es mit den geringen Mitteln spärlich besiedelter Gebiete nur haben kann".
Mikael Niemi: "Populärmusik aus Vittula". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2002. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die gerettete Lippe: Mikael Niemi erzählt von den Wonnen und Wunden des Übergangs / Von Richard Kämmerlings
Gleich nachdem Gott Himmel und Erde geschaffen hatte, teilte er das Licht von der Finsternis. Bis solch obrigkeitliche Maßnahmen in der Provinz greifen, braucht es freilich seine Zeit, und so sind im nordschwedischen Tornedal die Tage und Nächte im Sommer oder Winter immer noch kaum voneinander zu unterscheiden. Als wollten die Menschen hier diesen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung wiedergutmachen, halten sie sich in allen anderen Dingen des Lebens um so mehr an klare Unterscheidungen: Einheimischer oder Fremder, Kommunist oder Faschist, gläubig oder ungläubig, Mann oder Memme. Zwischenzustände sind nicht vorgesehen.
Der größte Vorwurf, den ein heranwachsender Junge in dieser Gegend zu gewärtigen hat, ist folglich, daß er knapsu, weibisch, sei. In alten Zeiten war das einfach: "Gardinenaufhängen, Stricken, Teppiche weben, mit der Hand melken, Blumengießen und Ähnliches" ist knapsu, "Holzfällen, die Elchjagd, mit Baumstämmen zimmern, flößen und sich auf dem Tanzboden prügeln" nicht. Erst mit zunehmendem Wohlstand wird es kompliziert: "Ist es beispielsweise knapsu, Halbfettmargarine zu essen? Eine Standheizung im Auto zu haben? Sich Haargel zu kaufen? Zu meditieren? Mit Schwimmbrille zu schwimmen? Pflaster zu benutzen? Hundescheiße in die Plastiktüte zu tun?" Die siebziger Jahre haben gerade begonnen, und den jugendlichen Helden von Mikael Niemis Roman interessiert vor allem eines: Ist es knapsu, in einer Schulband Rockmusik zu machen?
Eine eindeutige Antwort bekommt er nicht; einerseits ist Rock 'n' Roll nutzlose Zeitverschwendung, andererseits kann man damit den Mädchen mächtig imponieren. Dennoch sind die Prioritäten in Pajala, der kleinen Grenzstadt, andere. Eines Tages, während eines ausgiebigen Saunabads, nimmt der Vater den pubertierenden Sohn zur Seite. Doch statt der erwarteten sexuellen Aufklärung wird er in die jahrzehntealten Feindschaften und Familienstreitigkeiten eingeweiht, die sich unter anderem um eine Meineidsgeschichte von 1929 und um Torfrechte drehen, die dem Urgroßvater abgeluchst wurden: "Ganz Tornedal schien sich vor meinen Augen zu verändern. Der Ort füllte sich mit dünnen, unsichtbaren Angelschnüren, die sich kreuz und quer unter den Menschen ausbreiteten. Ein kräftiges, riesiges Spinnennetz aus Haß, Anziehung, Angst und Erinnerung."
In wunderbaren Episoden schildert Niemi diesen Dauerkrieg der Familien, Jugendbanden, Viertel und Dörfer gegeneinander, der aus einer harmlosen Prahlerei zum mörderischen Wettsaufen eskalieren kann oder vom kindlichen Kriegsspiel zum gnadenlosen Luftgewehrkampf wird. Dabei wird der Maßstab des erzählerischen Realismus immer wieder mit dem Vergrößerungsglas der Erinnerung außer Kraft gesetzt. Die maßlose Übertreibung ihrer Heldentaten und Schurkenstücke, die sich die Familien gegenseitig vorwerfen, ist dem Autor zum satirischen Erzählprinzip geworden. In einem der komischsten Kapitel steigert sich die zunächst stille Völlerei einer Hochzeitsgesellschaft in den erbarmungslosen Wettstreit um die Krone körperlicher Kraft und Ausdauer - in den glühenden Höllendämpfen der Sauna findet schließlich der Showdown mit überraschendem Ausgang statt.
Das alles ist nicht im versöhnlichen Nostalgieton erzählt, sondern mit einer glasklaren Härte, die hier ein Grundzug der Menschen scheint. Ein prügelnder Vater wird von seinen kräftigen Söhnen gewaltsam in die Schranken gewiesen. Eine Festrede stellt dem siebzigjährigen Geburtstagskind das baldige Verkalken in Aussicht. Eine der eindringlichsten Episoden erzählt von einem Ferienjob, den der Erzähler bei einem deutschen Gast annimmt - einem mysteriösen Schriftsteller, von dem es heißt, er habe einst als SS-Scherge in Finnland gewütet. Sein Schreiben in der Holzhütte wird von Ratten gestört, so daß er dem Jungen für jedes erlegte Tier ein paar Öre verspricht. Wie sich diese Jagd zur Obsession, zum Massaker mit stinkenden Leichenbergen und Massengräbern steigert, ist eine großartige Parabel auf die Kollaboration.
Ähnlich wie Arnold Stadler verhehlt der 1959 geborene Niemi bei aller ironischen Distanz seine tiefe Prägung durch diese Herkunft nicht, seine Sympathie für all die schweigsamen Saunagänger, Holzhausbauer und Fischfanatiker, "die vierzehn Leinenknoten können, aber nur eine Beischlafstellung". Überhaupt erfahren wir einiges über das Sexualverhalten der Tornedalfinnen, das weniger vom Protestantismus als von barocker Fleischlichkeit geprägt ist, die Niemi mit Freude am Grotesken und Vulgären ausmalt.
Nicht zuletzt erzählt "Populärmusik aus Vittula" die anrührende Geschichte einer Freundschaft, die sich mit dem salzigen Geschmack eines "Jungskusses" in die Erinnerung gebrannt hat. Sexuelle Initiation, Sprachfindung und Selbstwerdung verknüpft Niemi durch ein dichtes Netz von Motiven und fast traumartigen Szenen, ohne allzu simple psychologische Deutungen. Unaufdringlich wird Sprache neben der erotischen Verwirrung zum Leitmotiv: Der zunächst völlig stumme Kinderfreund Niila bringt sich Esperanto durch Radiosendungen bei; der rennradfahrende neue Musiklehrer aus Schonen, der "nach Art der Südländer" ein "anormal ausgeprägtes Kontaktbedürfnis hatte", kann sich in einer Art Pfingstwunder in seinem Dialekt mühelos mit den Einheimischen unterhalten.
Eine Urszene ist dem Roman als Prolog vorangestellt. Der Erzähler besteigt einen Fünftausender in Nepal. Auf dem Gipfel ist eine Metallplatte mit tibetanischen Buchstaben. Als er sich herunterbeugt und die Platte küßt, frieren seine feuchten Lippen daran fest - eine tödliche Falle, die eine rettende Kindheitserinnerung auslöst und wie am Beginn von Elias Canettis "Geretteter Zunge" den Erzählfluß erst lostritt. Ein Bildungsroman ist per definitionem ein Medium des Übergangs. Literatur überhaupt ist nach den harten Kriterien Tornedals eindeutig knapsu, etwas für Warmduscher oder, wie man in dieser Region wohl sagen würde, Kaltsauner - also genau das Richtige für Polarnächte, um so viel Erkenntnis und auch Spaß zu haben, "wie man es mit den geringen Mitteln spärlich besiedelter Gebiete nur haben kann".
Mikael Niemi: "Populärmusik aus Vittula". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2002. 304 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Herzerfrischend erzählt Niemi von Abenteuern und Streichen der Kindheit und dem Einbruch des Rock´n Roll in ihre Welt. Ein amüsantes, kurzweiliges, ein hinreißendes Buch!" Focus