Kein Schriftsteller der Goethezeit hat in den letzten 30 Jahren eine derart fulminante Aufwertung erfahren wie Karl Philipp Moritz (1756-93). Heute kennt man ihn als höchst eigenständigen und ungemein folgenreichen Kopf: als die intellektuell vielseitigste und innovativste Persönlichkeit der Berliner Spätaufklärung, vor allem aber als wirkungsmächtigsten Vermittler im Spannungsfeld zwischen Klassik und Romantik. Dieser Band bietet einen Querschnitt durch alle Themenbereiche, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit den dichterischen Werken und der Erfahrungsseelenkunde stehen und insbesondere die großen Würfe Anton Reiser und Über die bildende Nachahmung des Schönen vorbereiten. In der ersten Textgruppe (Popularphilosophie) folgen auf die Essays zu existentiellen Grundfragen die pragmatischen Arbeiten: Die Programm-Entwürfe zur Pädagogik, die Reflexionen über Sprache, die Predigten sowie die Freimaurer-Schriften. Die zweite Textgruppe (Reisen) umfaßt die großen Erfahrungsberichte aus England und Italien und ergänzt diese Schilderungen durch die Dokumente der Deutschlandreise 1785 (erstmals seit 1786 wieder gedruckt). Die dritte Textgruppe (Ästhetische Theorie) versammelt die Arbeiten zur Literatur Literaturkritik, die kunsttheoretischen Aufsätze sowie die grundlegenden Essays zur Mythologie.
Die Schriften von Karl Philipp Moritz in einer neuen Ausgabe
Die Karl-Philipp-Moritz-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags beginnt mit dem zweiten der beiden geplanten Bände. Da die Edition - aus guten Gründen - nicht chronologisch angelegt ist, ist das für den Käufer kein Nachteil. Überdies soll der ausstehende Band in Kürze erscheinen. Der erste Teil des jetzt vorgelegten Bandes enthält popularphilosophische, sprachwissenschaftliche und pädagogische Schriften, darunter die "Kinderlogik" (1786), ferner Predigten und Texte zur Freimaurerei. Es schließen sich die "Reisen eines Deutschen in England" (1783) und "Die Reisen eines Deutschen in Italien" (1792/93) an. Den dritten Teil bilden Schriften zur Ästhetik und, in einem kleinen Schlußabschnitt, Texte zur Mythologie.
Die - was ihre Wirkung angeht - bedeutendsten Texte dieser Edition sind gewiß Moritz' Schriften zur Ästhetik. In ihnen begründet er die Theorie des Kunstwerks als eines "in sich selbst Vollendeten". Sie gehören zu den Gründungsurkunden einer Kunstphilosophie, die noch heute wirksam ist. Die beiden Herausgeber weisen zu Recht darauf hin, daß man sie nur ganz versteht, wenn man Moritz' intellektuelle Entwicklung analysiert - weg von einer moralphilosophisch oder einer psychologisch begründeten Kunsttheorie.
Was die Ausgabe aber auch deutlich werden läßt, ist etwas anderes: Moritz' Autonomieästhetik entwickelt sich mit seiner eigenen Persönlichkeit. Der Gegner dieser Ästhetik mag mit einer gewissen Ironie feststellen, daß die moderne Theorie des autonomen Kunstwerks auch individualpsychologische Grundlagen und historisch bestimmbare Voraussetzungen hat: Sie verdankt sich persönlichen Befreiungsvorgängen und unterstützt diese in dem Maße, in dem sie sich entfaltet.
Die Schlüsseltexte für eine solche Deutung findet man im Bericht über die italienische Reise. Die Zeitgenossen haben das Werk eher negativ beurteilt. Man kritisierte seine Uneinheitlichkeit, weil man nicht sah, daß hier eine Persönlichkeit erst zu sich selbst und damit zu einem Gesichtspunkt für die sie umgebende Welt fand und daß dieser Prozeß sich in den Reiseaufzeichnungen abbildete.
Moritz war nicht der einzige deutsche Italienreisende, der - um es mit einem im achtzehnten Jahrhundert oft gebrauchten Gallizismus zu sagen - "zu wenig Welt" hatte. (Sein Roman "Anton Reiser", zumindest teilweise auch eine Selbstbiographie, ist geradezu die dramatische Geschichte eines jungen Menschen, der "zu wenig Existenz", der keine Welt hat.) Am Anfang der Reise fehlt Moritz noch der freie Blick des weltkundigen Mannes auf die Realität. Nur über die Literatur findet er Zugang zu ihr, ja die Wirklichkeit "kommentiert" nach den Worten der Herausgeber die Literatur. Ebensowenig vermag er das gelungene Kunstwerk zu würdigen, geschweige denn zu schaffen.
Moritz, der scharfsinnige Psychologe, durchschaut das. "Nachahmungssucht und Originalsucht", die beiden Feinde des "wesentlichen Schönen", entspringen, so sagt er an einer Stelle, "aus dem Mangel an richtigem Selbstgefühl", einem Mangel, der den Menschen ohne Welt kennzeichnet. Im Laufe seines Italienaufenthaltes wird er seiner selbst sicherer und lernt, die Gegenstände, besonders die der Kunst, angemessen wahrzunehmen, oder auch umgekehrt: Indem es ihm gelingt, Kunst als ein "großes Ganzes", als ein keinen Zwecken Unterworfenes zu sehen, gewinnt er auch ein neues Bild von sich selbst.
Daß die Herausgeber die beiden Reiseberichte, die von Moritz' persönlicher Entwicklung Zeugnis ablegen, in die Mitte des Bandes gestellt haben, war eine kluge Entscheidung. Überzeugend ausgewählt sind auch die Texte zur ästhetischen Theorie. Freilich hätte man sich gewünscht, daß vom "Versuch einer deutschen Prosodie" (1786) nicht nur die Einleitung abgedruckt worden wäre. Denn abgesehen davon, daß diese Schrift ein bemerkenswerter Beitrag zur deutschen Verslehre ist, war die ihr zugrundeliegende Theorie folgenreich für die deutsche Literatur: Es war Moritz, der Goethe dazu veranlaßte, seine Prosa-"Iphigenie" in Verse zu übersetzen.
Bedauern wird man, daß in diesem Band die mythologischen Arbeiten nur so spärlich vertreten sind. Ihnen liege, so sagen die Herausgeber, "derselbe Gedanke zugrunde, der auch Moritz' Kunstphilosophie trägt". Aber, so wenden sie dann gleich ein - und das kann einem den Verzicht kaum versüßen -, die Schriften zur Götterlehre der Griechen und Römer hätten eher eine "kommerzielle Funktion" gehabt. Gewiß hatten sie das und Erfolg dazu. Aber haben sie damit nicht eine Tradition eingeleitet, die ebenso folgenreich war wie die, an deren Anfang Moritz' kunsttheoretische Schriften standen? Immerhin begründeten sie die folgenreiche Ästhetisierung der griechischen und römischen Religion. Sie hat die Feste und die Mythologie der Antike zwar erneut schulbuchfähig gemacht, aber zugleich den genuin religiösen Charakter der antiken Göttervorstellungen, vor allem aber der Kultpraxis verdeckt.
Doch muß, wer nur einen beschränkten Umfang zur Verfügung hat, auswählen. Der Rezensent mag die eine oder andere Entscheidung beklagen; er hat indessen viele Gründe, diese Ausgabe zu loben. Die Texte sind sorgfältig ediert, Moritz' Selbstzitate und Übernahmen aus fremden Werken nachgewiesen, und alles Erklärungsbedürftige ist kenntnisreich kommentiert. Die Ausgabe von Heide Hollmer und Albert Meier kann frühere Sammelausgaben nicht überflüssig machen, weil diese das eine oder andere hier nicht Abgedruckte enthalten, aber sie dürfte bei allen in ihr enthaltenen Texten, was die Genauigkeit der Textdarbietung und die erschließende Leistung der Anmerkungen betrifft, kaum zu übertreffen sein. ERNST-PETER WIECKENBERG
Karl Philipp Moritz: "Popularphilosophie. Reisen. Ästhetische Theorie". Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1997. 1337 S., geb., 178,- DM.
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