Viele Jahre lang führt der Erzähler dieses Romans Frachtschiffe die afrikanische Küste entlang, bevor er in Port Sudan strandet, der größten Hafenstadt am Roten Meer. Dort verdingt er sich als Hafenmeister, obwohl diese Aufgabe eher symbolisch ist, denn nur noch selten löschen Schiffe in diesem verlorenen Teil der Erde ihre Fracht. Seine mageren Einkünfte stammen aus den wenigen Schwarzmarktgeschäften, die ihm die hiesigen Schutzgelderpresser gestatten: ein bisschen Alkohol, ein paar Kathblätter ... Eines Tages erreicht ihn ein Brief aus Paris. Sein Freund A. hat sich das Leben genommen, aus Verzweiflung über eine gescheiterte Liebesbeziehung. Am Abend vor seinem Tod wollte A. einen Brief schreiben, »Lieber Freund« waren jedoch die einzigen Worte, die er zu Papier brachte. Zufällig verlässt gerade ein Schiff Port Sudan in Richtung Marseille. Der Erzähler beschließt, nach Frankreich aufzubrechen, um die Botschaft seines Freundes, die vielleicht für immer verloren ist, zu rekonstruieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2021Als Einsamkeit noch keine Schande war
Olivier Rolins "Port Sudan" erinnert an die Zeit, in der Frankreich seine Macht den Kaufleuten übergab
"Wir sollten nie wieder auf die Beine kommen", stellt der Ich-Erzähler auf den ersten Seiten seiner Rekonstruktion - oder vielmehr Konstruktion? - der Vergangenheit klar. Als maoistischer "Revolutionär" im Nachkriegsfrankreich fristet er Jahre später sein Dasein als abgehalfterter Hafenmeister und Honorarkonsul in der sudanesischen Hafenstadt Port Sudan. "Zu Tode gelangweilt" hält er sich mit geschmuggeltem Anislikör, ein paar Kathblättern und "verschiedenen kleinen Geschäften" zumindest vegetativ am Leben. Ein von Lepra gezeichneter Beamter überstellt ihm mit "hämischer Fratze" ein Schreiben, das ihn über den Suizid eines früheren Kampfgenossen in der französischen Heimat unterrichtet. Wer die Trostlosigkeit dieser Szenerie als Einstieg einer abgeschmackten Story über Revolutionsromantik und Exil-Abenteurer liest, ist auf dem Holzweg.
Doppelbödige Erzählhaltungen und die Kontextualisierung des eigentlichen Schreibvorgangs sind für Rolin seit jeher literarische Spielbälle, mit denen er akrobatisch zu jonglieren versteht. In "L'invention du monde" ("Die Erfindung der Welt") beschrieb er anhand von 500 internationalen Tageszeitungen das "Theater der Welt" an einem präzisen Tag des Jahres 1989. Erst die Gegenüberstellung der Banalität und Wunderlichkeit, der Fremdheit und Nähe verschiedener Szenen des Weltgeschehens, die "wundersame Vielfalt in ihrer Einheit" bringen bei ihm eine "Welt" im eigentlichen Sinne hervor.
Im Roman "Suite à l'hôtel Cristal" datierte Rolin 2004 den Suizid eines Autors namens Olivier Rolin in einem aserbaidschanischen Hotel auf das Jahr 2009 und ließ die Lebensdaten auch gleich ante mortem auf den Bucheinschlag drucken. In seinem fiktiven Todesjahr reiste er dann für seinen Reisebericht "Letzte Tage in Baku" noch einmal zum Kaspischen Meer, um nachzuprüfen, ob er wirklich sterben würde. Olivier Rolin treibt ein immer ironisch-melancholisches, nie larmoyantes Vexierspiel zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Literatur und Realität.
Auch im Hafenmeister von Port Sudan, der die Todesnachricht seines früheren Kampfgefährten erhält, steckt ein gutes Stück des Autors selbst. Vor seiner Laufbahn als Autor und Lektor bei Le Seuil war Rolin Anführer einer paramilitärischen maoistischen Kampfgruppe in Frankreich. Der im Original bereits 1994 erschienene Roman ist Ausgangspunkt von Rolins literarischer Untersuchung darüber, wie erst das Erzählen über die (Irr-)Wege der Vergangenheit das Chaos der Gegenwart ordnet. Sein Ich-Erzähler kehrt aus dem sudanesischen Exil nach Paris zurück, um den unvollendeten Abschiedsbrief seines alten Freundes selbst fortzuschreiben. "A.", so das Initial des Lebensmüden, war wohl nicht nur am "Zeitalter des Vulgären" verzweifelt, in dem aufrechter Stolz durch eitle Selbstgefälligkeit, Eigenständigkeit durch Einsamkeit, eigenes Urteil durch öffentliche Meinung, Humor durch Spaß und Frechheit durch Unverschämtheit ersetzt worden war.
In den Tod trieb den einstigen Revolutionär nicht allein der Umstand, dass für den Enthusiasmus seiner Jugend in der Gegenwart kein Platz mehr war, weil man "Frankreichs Macht den Registrierkassen der Kaufleute übergeben" hatte und nun vorgab, die "Probleme unter den Menschen durch Statistiken zu lösen". Nein, natürlich braucht es beim bekennenden Romantiker Rolin zur finalen Selbstaufgabe seiner Romanfigur auch eine Frau, die sich als Verräterin entpuppt. Sie gehört zur "falschen Welt", weil sie in der Liebe nicht nach der "geteilten großen Einsamkeit", sondern nach schnöder bürgerlicher Bequemlichkeit suchte.
Um die leidenschaftliche Geschichte des Paares zu rekonstruieren, ruft der Erzähler eine geschwätzige Pariser Concierge und einen von weißem Kot übersäten Vogelfreund aus dem nahe gelegenen Jardin du Luxembourg in den Zeugenstand. War es wirklich ein schöner Tod, den sich der verzweifelte Autor laut der Concierge selbst zufügte? War die junge Frau eine "wächserne, schweigsame, scheue Abgöttin" oder doch eine "oberflächliche und grausame alte Pute"? Etwas solidere Auskünfte über das Geschehen gibt später die Pflegerin einer psychiatrischen Einrichtung, die besagter "A." als "von Alkohol und Antidepressiva zerstörter Mann" nach der Trennung von seiner Geliebten aufsucht. Rolins Erzähler kann letztlich nur ein ernüchterndes Urteil fällen: "Ich schreibe das auf, doch ich weiß nichts darüber: Was weiß man schon?"
Hinter dieser Liebesgeschichte, die der Erzähler sorgsam und "mit der Treue, die man einem Freund schuldet", rekonstruiert, versteckt sich bei einem mit allen Wassern gewaschenen Autor wie Rolin natürlich mehr. Fast vergnüglich streut der Erzähler im zweiten Teil des nur 120 Seiten schmalen Romans immer mehr Hinweise, dass es keineswegs um die Geschichte seines früheren Kampfgenossen "A." geht, sondern vielmehr um seine eigene Vergangenheit, der er sich erst im Exil am Roten Meer zu stellen wagt. Oder sind die auf Grund gelaufenen Schiffswracks im Hafenbecken von Port Sudan nur als weitere Metapher zu lesen für die Rückschau eines alternden Revolutionärs namens "A.", dessen Leben in eine Sackgasse mündete?
Wenn man weiß, dass Olivier Rolin zu Zeiten des politischen Untergrundkampfes den Decknamen "Antoine" trug und er "Port Sudan" nach eigenem Bekunden während einer seelischen Krise in einer Heilanstalt verfasste, verwirren sich die Fäden zwischen Autor, Erzähler und Figur, zwischen Realität und Literatur unlösbar. Diesen faszinierenden Balance-Akt inszeniert Rolin sprachlich und stilistisch souverän, indem er jedem Wort und jeder Analogie den richtigen Platz zuweist und dabei ganz ohne akademische Attitüde auskommt. Denn ein Roman, der mit Theorien verstellt ist, so hat er es einmal gesagt, sei wie ein Geschenk, auf dem noch der Preis klebt. In "Port Sudan" beschenkt Rolin uns mit einer federleicht erzählten Geschichte über das Gewicht der Vergangenheit und den Mut zum Selbstzweifel. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Olivier Rolin: "Port Sudan". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, München 2021. 144 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Olivier Rolins "Port Sudan" erinnert an die Zeit, in der Frankreich seine Macht den Kaufleuten übergab
"Wir sollten nie wieder auf die Beine kommen", stellt der Ich-Erzähler auf den ersten Seiten seiner Rekonstruktion - oder vielmehr Konstruktion? - der Vergangenheit klar. Als maoistischer "Revolutionär" im Nachkriegsfrankreich fristet er Jahre später sein Dasein als abgehalfterter Hafenmeister und Honorarkonsul in der sudanesischen Hafenstadt Port Sudan. "Zu Tode gelangweilt" hält er sich mit geschmuggeltem Anislikör, ein paar Kathblättern und "verschiedenen kleinen Geschäften" zumindest vegetativ am Leben. Ein von Lepra gezeichneter Beamter überstellt ihm mit "hämischer Fratze" ein Schreiben, das ihn über den Suizid eines früheren Kampfgenossen in der französischen Heimat unterrichtet. Wer die Trostlosigkeit dieser Szenerie als Einstieg einer abgeschmackten Story über Revolutionsromantik und Exil-Abenteurer liest, ist auf dem Holzweg.
Doppelbödige Erzählhaltungen und die Kontextualisierung des eigentlichen Schreibvorgangs sind für Rolin seit jeher literarische Spielbälle, mit denen er akrobatisch zu jonglieren versteht. In "L'invention du monde" ("Die Erfindung der Welt") beschrieb er anhand von 500 internationalen Tageszeitungen das "Theater der Welt" an einem präzisen Tag des Jahres 1989. Erst die Gegenüberstellung der Banalität und Wunderlichkeit, der Fremdheit und Nähe verschiedener Szenen des Weltgeschehens, die "wundersame Vielfalt in ihrer Einheit" bringen bei ihm eine "Welt" im eigentlichen Sinne hervor.
Im Roman "Suite à l'hôtel Cristal" datierte Rolin 2004 den Suizid eines Autors namens Olivier Rolin in einem aserbaidschanischen Hotel auf das Jahr 2009 und ließ die Lebensdaten auch gleich ante mortem auf den Bucheinschlag drucken. In seinem fiktiven Todesjahr reiste er dann für seinen Reisebericht "Letzte Tage in Baku" noch einmal zum Kaspischen Meer, um nachzuprüfen, ob er wirklich sterben würde. Olivier Rolin treibt ein immer ironisch-melancholisches, nie larmoyantes Vexierspiel zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Literatur und Realität.
Auch im Hafenmeister von Port Sudan, der die Todesnachricht seines früheren Kampfgefährten erhält, steckt ein gutes Stück des Autors selbst. Vor seiner Laufbahn als Autor und Lektor bei Le Seuil war Rolin Anführer einer paramilitärischen maoistischen Kampfgruppe in Frankreich. Der im Original bereits 1994 erschienene Roman ist Ausgangspunkt von Rolins literarischer Untersuchung darüber, wie erst das Erzählen über die (Irr-)Wege der Vergangenheit das Chaos der Gegenwart ordnet. Sein Ich-Erzähler kehrt aus dem sudanesischen Exil nach Paris zurück, um den unvollendeten Abschiedsbrief seines alten Freundes selbst fortzuschreiben. "A.", so das Initial des Lebensmüden, war wohl nicht nur am "Zeitalter des Vulgären" verzweifelt, in dem aufrechter Stolz durch eitle Selbstgefälligkeit, Eigenständigkeit durch Einsamkeit, eigenes Urteil durch öffentliche Meinung, Humor durch Spaß und Frechheit durch Unverschämtheit ersetzt worden war.
In den Tod trieb den einstigen Revolutionär nicht allein der Umstand, dass für den Enthusiasmus seiner Jugend in der Gegenwart kein Platz mehr war, weil man "Frankreichs Macht den Registrierkassen der Kaufleute übergeben" hatte und nun vorgab, die "Probleme unter den Menschen durch Statistiken zu lösen". Nein, natürlich braucht es beim bekennenden Romantiker Rolin zur finalen Selbstaufgabe seiner Romanfigur auch eine Frau, die sich als Verräterin entpuppt. Sie gehört zur "falschen Welt", weil sie in der Liebe nicht nach der "geteilten großen Einsamkeit", sondern nach schnöder bürgerlicher Bequemlichkeit suchte.
Um die leidenschaftliche Geschichte des Paares zu rekonstruieren, ruft der Erzähler eine geschwätzige Pariser Concierge und einen von weißem Kot übersäten Vogelfreund aus dem nahe gelegenen Jardin du Luxembourg in den Zeugenstand. War es wirklich ein schöner Tod, den sich der verzweifelte Autor laut der Concierge selbst zufügte? War die junge Frau eine "wächserne, schweigsame, scheue Abgöttin" oder doch eine "oberflächliche und grausame alte Pute"? Etwas solidere Auskünfte über das Geschehen gibt später die Pflegerin einer psychiatrischen Einrichtung, die besagter "A." als "von Alkohol und Antidepressiva zerstörter Mann" nach der Trennung von seiner Geliebten aufsucht. Rolins Erzähler kann letztlich nur ein ernüchterndes Urteil fällen: "Ich schreibe das auf, doch ich weiß nichts darüber: Was weiß man schon?"
Hinter dieser Liebesgeschichte, die der Erzähler sorgsam und "mit der Treue, die man einem Freund schuldet", rekonstruiert, versteckt sich bei einem mit allen Wassern gewaschenen Autor wie Rolin natürlich mehr. Fast vergnüglich streut der Erzähler im zweiten Teil des nur 120 Seiten schmalen Romans immer mehr Hinweise, dass es keineswegs um die Geschichte seines früheren Kampfgenossen "A." geht, sondern vielmehr um seine eigene Vergangenheit, der er sich erst im Exil am Roten Meer zu stellen wagt. Oder sind die auf Grund gelaufenen Schiffswracks im Hafenbecken von Port Sudan nur als weitere Metapher zu lesen für die Rückschau eines alternden Revolutionärs namens "A.", dessen Leben in eine Sackgasse mündete?
Wenn man weiß, dass Olivier Rolin zu Zeiten des politischen Untergrundkampfes den Decknamen "Antoine" trug und er "Port Sudan" nach eigenem Bekunden während einer seelischen Krise in einer Heilanstalt verfasste, verwirren sich die Fäden zwischen Autor, Erzähler und Figur, zwischen Realität und Literatur unlösbar. Diesen faszinierenden Balance-Akt inszeniert Rolin sprachlich und stilistisch souverän, indem er jedem Wort und jeder Analogie den richtigen Platz zuweist und dabei ganz ohne akademische Attitüde auskommt. Denn ein Roman, der mit Theorien verstellt ist, so hat er es einmal gesagt, sei wie ein Geschenk, auf dem noch der Preis klebt. In "Port Sudan" beschenkt Rolin uns mit einer federleicht erzählten Geschichte über das Gewicht der Vergangenheit und den Mut zum Selbstzweifel. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Olivier Rolin: "Port Sudan". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, München 2021. 144 S., geb., 20,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Cormelius Wüllenkemper erkennt in Olivier Rolins Roman um die Rückschau eines maoistischen Revolutionärs im Nachkriegsfrankreich auch ein Stück Autobiografie des Autors. Vor allem geht es um das "Gewicht der Vergangenheit" und den Selbstzweifel, erklärt der Rezensent. Revolutionsromatik kommt dabei aber nicht auf, versichert Wüllenkemper. Dafür ist der Text mit seiner "doppelbödigen Erzählhaltung" formal zu verspielt, findet er. Stilistisch und sprachlich souverän changiert der Text zwischen Realität und Literatur, erklärt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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