Die poetischen Texte Yoko Tawadas versetzen die Bilder, das Denken, die Sprache in tänzerische Bewegung, Gegenwärtiges erscheint in einem anderen, klaren Licht. Leben wird spürbar, im Körper und über Grenzen hinaus. Bewegungen zwischen Zeichen, Existenzfomen, Gegenden der Welt, Wörtern, die wie in allen Texten der Autorin verborgenen Sinn sichtbar werden lassen. Es geht um Flucht, Kriege, Dichterinnen, um Tiere und Pflanzen, einmal auch um Strahlung. DichteTexte zur Zeit, auch wenn sie von weit Entferntem und lang Zurückliegendem handeln. Zusammenhänge zeigen sich, lösen sich auf. Dazwischen Klarheit, auch Erschrecken, eine Erkenntnis. Wenn etwas da ist und zugleich verschwindet, wie die Jahreszeiten, um die es im ersten Kapitel geht. Für dieses Kapitel übersetzte Yoko Tawada japanische Lyrik einer bekannten Sammlung aus dem Mittelalter und schrieb kurze Kommentare zu jedem einzelnen Gedicht, die sie in Beziehung treten lassen zu Tawadas eigenen Texten."Yoko Tawada beschreibt dieWelt so, wie sie aussähe, könnte man gleichzeitig träumen und hellwach sein." (Elke Brüns, taz)Zitate aus dem Buch:"Wer mit Worten spieltKennt keinen Stillstand ..."(aus: Die zweite Hälfte der Orange)"Eine 'Untertasse' ist ein letztes Überbleibsel aus dem bürgerlichen Leben, das keine existenzielle Bedrohung kannte. Nach dem Krieg fand sich die Untertasse in den Kaffeehäusern, wo die Autorin zu Hause war. Der gedeckte Tisch, gebügelte Servietten, glänzende Kuchengabeln und eine Kaffeetasse mit einer Untertasse. In einem Kaffeehaus bleibt die Schattenexistenz anonym in Sicherheit, bekannt und doch frei. Kaum geht sie nach Hause, verrät das Namensschild an der Tür die Identität der Bewohnerin. Sie muss dann schnell ihren Koffer packen und aus dem Haus flüchten, ohne dem Hausmeister, der ein Kollaborateur sein kann, Bescheid zu sagen."(aus: Ein Manuskript von Ilse Aichinger)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Steffen Gnam bestaunt Yoko Tawadas "grenzenlos hintersinnige" Poesie. In ihrem neuen Buch liefert die in Japan geborene und seit 1982 in Deutschland lebende Dichterin in einem ersten Teil Übersetzungen von japanischen Jahreszeitengedichten aus dem zehnten Jahrhundert, die sie mit spannenden Anmerkungen zum Thema Gender und Klimawandel neu interpretiere, lobt Gnam. In einem zweiten Teil finden sich eigene Gedichte und Essays der Autorin, die unter anderem die japanische und deutsche Kultur, die Moderne, Depressionen oder Fukushima zum Thema haben und auf den Kritiker "zeitkritischer" wirken als frühere Werke der Dichterin. Besonders beeindruckend findet er Tawadas poetische "Trugbilder", die einerseits verspielt mit Klangvertauschungen arbeiten, andererseits "Sicherheitsmythen der Moderne" gezielt unterlaufen: "Im ersten Jahr wächst kein Pilz im Wald / Bombenbeeren fallen ab bevor sie ausreifen", zitiert Gnam hier etwa. Für ihn legt die Könnerin Tawada noch eine Schippe drauf mit diesem gleichsam verzaubernden wie subversiven Band.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Was macht ein Eremit im Homeoffice?
Sprachspiele: Yoko Tawada dekonstruiert Sicherheitsmythen
"Wer mit Worten spielt / Kennt keinen Stillstand / Ohne Halt fährt der Zug." Die 1960 in Tokio geborene und seit 1982 in Deutschland lebende, auf Deutsch und Japanisch schreibende Yoko Tawada bezaubert und verstört im doppelzüngig-kreativen Spiel der Perspektiven und mit methodischen Grenzüberschreitungen ihre Leser in Fernost wie Fernwest.
"Portrait eines Kreisels" ist in zwei Teile unterteilt: In "Lyrikübersetzung als ein Naturprojekt" übersetzt Tawada Jahreszeitengedichte der aus dem zehnten Jahrhundert stammenden japanischen Sammlung "Kokinwakashu" - untypisch und doch wieder typisch für Tawada, für die Übersetzen eine literarische Tätigkeit und Literatur Übersetzen bedeutet. Die klassischen Gedichte interpretiert sie in originellen Fußnoten auch im Licht von Genderdebatte oder Klimawandel neu.
Der zweite Teil, "Das gewöhnliche Alphabet als poetisches Medium", enthält eigene Werke: Lyrik, Schriftstellerinnen-Hommagen und kunsttheoretische Essays (in "Bambusphönix" sinniert Tawada über den "Pinselansatz der Musik"), die Topoi wie Vergänglichkeit, Mond oder Nachtigall spiegeln, die wir aus dem ersten Teil kennen.
Tawadas Buch ist gewohnt sprachverspielt, doch wirkt ihr poetisches Spektrum politischer, zeitkritischer, auch katastrophenanfälliger als in früheren Werken. Themen sind hier Depressionen ("Meteo-lancholie"), Corona ("Was macht ein Eremit in seinem Homeoffice?" heißt es in "Ohne Gitter") und die Digitalisierung der Gefühle. Die Texte "Schweigen" ("Verschweigen ist ein falscher Bruder des Schweigens", lesen wir darin), "Hamlet No See" und "Komm nicht zu nah ich strahle" bilden eine Trilogie zu Fukushima. Das letztgenannte Gedicht kritisiert in schöpfungsfernen Szenarien die "euterlose Regierung" und Wiederaufbau-Patriotismus: "Im ersten Jahr wächst kein Pilz im Wald / Bombenbeeren fallen ab bevor sie ausreifen / Im dritten Jahr hört man einen Kinderchor."
Erratische Existenzen und Dekonstruktionen von Sicherheitsmythen der Moderne prägen Tawadas trugbilderreiche Poesie. Typisch sind das Spiel mit Homophonen, der Tausch klanglich erwarteter Wortbestandteile ("Bombenbeeren" statt "Brombeeren", "Schuldsahne" statt "Schlagsahne"), wörtlich genommene Redewendungen und surreale Assoziationsketten.
Zwischen Poststrukturalismus und Zen entwirft Tawada wundervolle Rätselbilder, so in ihren "Gedanken über unsichtbare Inselgruppen" oder im titelgebenden "Portrait eines Kreisels": "nichts weiter als ein pinselstrich: deine flucht oder meine arbeit an anatomischem gemälde der verdoppelten welt."
Schriftblindheit in der Fremde war schon Thema in ihrem Buch "Talisman" (1996). In "Ein Manuskript von Ilse Aichinger" gleicht das Alphabet nun einer kreativ den Blick versperrenden Buchstabenmauer. Analphabetismus ist ein Weg der Rückkehr zur vormodernen Unschuld der Interaktion und taktilen Erkundung des Eigensinns deutscher Sprache: So sind lange "Wortziegel" und Ungetüme wie "Niederlassungserlaubnis" auf der Baustelle der Behördensprache besonders zerbrechlich und aufkündigungsanfällig.
Neben Ilse Aichinger im erwähnten Text ("Aichinger war nicht immer unverdächtig, denn sie hat ständig gedacht") wird Annette von Droste-Hülshoff gewürdigt: In "Der Frühling wird aus der Nacht geboren" sind Zeilen wie "Geboren ins offene Münsterland / Blickte die Kurzsichtige weit über den Tellerrand" humorvoll-zärtliche Droste-Referenzen.
"Stille ist, wenn man Geister hört / Wie aus einer vorbeigefahrenen Zeit." So endet das eingangs zitierte Gedicht "Die zweite Hälfte der Orange". Tawadas grenzenlos hintersinnige Poesie vermag sowohl Dissonanzen in Japans Kultur der Stille als auch mit subversiver Mimikry und Sprachskepsis immanente Klischees und unbewusste Resonanzen ideologischen Denkens in unserer Sprache hörbar zu machen. STEFFEN GNAM
Yoko Tawada:
"Portrait eines
Kreisels".
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke,
Tübingen 2022. 113 S., geb., 12,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprachspiele: Yoko Tawada dekonstruiert Sicherheitsmythen
"Wer mit Worten spielt / Kennt keinen Stillstand / Ohne Halt fährt der Zug." Die 1960 in Tokio geborene und seit 1982 in Deutschland lebende, auf Deutsch und Japanisch schreibende Yoko Tawada bezaubert und verstört im doppelzüngig-kreativen Spiel der Perspektiven und mit methodischen Grenzüberschreitungen ihre Leser in Fernost wie Fernwest.
"Portrait eines Kreisels" ist in zwei Teile unterteilt: In "Lyrikübersetzung als ein Naturprojekt" übersetzt Tawada Jahreszeitengedichte der aus dem zehnten Jahrhundert stammenden japanischen Sammlung "Kokinwakashu" - untypisch und doch wieder typisch für Tawada, für die Übersetzen eine literarische Tätigkeit und Literatur Übersetzen bedeutet. Die klassischen Gedichte interpretiert sie in originellen Fußnoten auch im Licht von Genderdebatte oder Klimawandel neu.
Der zweite Teil, "Das gewöhnliche Alphabet als poetisches Medium", enthält eigene Werke: Lyrik, Schriftstellerinnen-Hommagen und kunsttheoretische Essays (in "Bambusphönix" sinniert Tawada über den "Pinselansatz der Musik"), die Topoi wie Vergänglichkeit, Mond oder Nachtigall spiegeln, die wir aus dem ersten Teil kennen.
Tawadas Buch ist gewohnt sprachverspielt, doch wirkt ihr poetisches Spektrum politischer, zeitkritischer, auch katastrophenanfälliger als in früheren Werken. Themen sind hier Depressionen ("Meteo-lancholie"), Corona ("Was macht ein Eremit in seinem Homeoffice?" heißt es in "Ohne Gitter") und die Digitalisierung der Gefühle. Die Texte "Schweigen" ("Verschweigen ist ein falscher Bruder des Schweigens", lesen wir darin), "Hamlet No See" und "Komm nicht zu nah ich strahle" bilden eine Trilogie zu Fukushima. Das letztgenannte Gedicht kritisiert in schöpfungsfernen Szenarien die "euterlose Regierung" und Wiederaufbau-Patriotismus: "Im ersten Jahr wächst kein Pilz im Wald / Bombenbeeren fallen ab bevor sie ausreifen / Im dritten Jahr hört man einen Kinderchor."
Erratische Existenzen und Dekonstruktionen von Sicherheitsmythen der Moderne prägen Tawadas trugbilderreiche Poesie. Typisch sind das Spiel mit Homophonen, der Tausch klanglich erwarteter Wortbestandteile ("Bombenbeeren" statt "Brombeeren", "Schuldsahne" statt "Schlagsahne"), wörtlich genommene Redewendungen und surreale Assoziationsketten.
Zwischen Poststrukturalismus und Zen entwirft Tawada wundervolle Rätselbilder, so in ihren "Gedanken über unsichtbare Inselgruppen" oder im titelgebenden "Portrait eines Kreisels": "nichts weiter als ein pinselstrich: deine flucht oder meine arbeit an anatomischem gemälde der verdoppelten welt."
Schriftblindheit in der Fremde war schon Thema in ihrem Buch "Talisman" (1996). In "Ein Manuskript von Ilse Aichinger" gleicht das Alphabet nun einer kreativ den Blick versperrenden Buchstabenmauer. Analphabetismus ist ein Weg der Rückkehr zur vormodernen Unschuld der Interaktion und taktilen Erkundung des Eigensinns deutscher Sprache: So sind lange "Wortziegel" und Ungetüme wie "Niederlassungserlaubnis" auf der Baustelle der Behördensprache besonders zerbrechlich und aufkündigungsanfällig.
Neben Ilse Aichinger im erwähnten Text ("Aichinger war nicht immer unverdächtig, denn sie hat ständig gedacht") wird Annette von Droste-Hülshoff gewürdigt: In "Der Frühling wird aus der Nacht geboren" sind Zeilen wie "Geboren ins offene Münsterland / Blickte die Kurzsichtige weit über den Tellerrand" humorvoll-zärtliche Droste-Referenzen.
"Stille ist, wenn man Geister hört / Wie aus einer vorbeigefahrenen Zeit." So endet das eingangs zitierte Gedicht "Die zweite Hälfte der Orange". Tawadas grenzenlos hintersinnige Poesie vermag sowohl Dissonanzen in Japans Kultur der Stille als auch mit subversiver Mimikry und Sprachskepsis immanente Klischees und unbewusste Resonanzen ideologischen Denkens in unserer Sprache hörbar zu machen. STEFFEN GNAM
Yoko Tawada:
"Portrait eines
Kreisels".
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke,
Tübingen 2022. 113 S., geb., 12,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main