Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 2,54 €
  • Gebundenes Buch

»Komm ins Zentrum. Und wo liegt das? Unterm Stolperstein / Dir zu Füßen, tief im Erdreich.« Der hier auffordert, ihm in die Unterwelt, an den Ort der Orte zu folgen, sieht mit dem inneren Auge das glanzvolle und düstere Bild einer, seiner Stadt: er sieht das Augusteische Dresden, den Ursprungsort des weißen Goldes, ein Zentrum des Erfindungsreichtums und Gewerbefleißes, das Elbflorenz der Vedutenmaler und der Flaneure - und er sieht das Dresden der totalen methodischen Zerstörung, den ausgebrannten Skelettbau. Es ist dieses Menetekel, die bis heute nicht gelöschte Flammenschrift auf Dresdens…mehr

Produktbeschreibung
»Komm ins Zentrum. Und wo liegt das? Unterm Stolperstein / Dir zu Füßen, tief im Erdreich.« Der hier auffordert, ihm in die Unterwelt, an den Ort der Orte zu folgen, sieht mit dem inneren Auge das glanzvolle und düstere Bild einer, seiner Stadt: er sieht das Augusteische Dresden, den Ursprungsort des weißen Goldes, ein Zentrum des Erfindungsreichtums und Gewerbefleißes, das Elbflorenz der Vedutenmaler und der Flaneure - und er sieht das Dresden der totalen methodischen Zerstörung, den ausgebrannten Skelettbau. Es ist dieses Menetekel, die bis heute nicht gelöschte Flammenschrift auf Dresdens Steinen, die den Dichter nicht ruhen läßt: »Was hätte sein können, wenn ...«
Aber diese 49 Strophen errichten kein urbanes Erinnerungswerk, sind weder Hymnus noch Abgesang auf etwas unwiderruflich Verlorenes. Was wäre auch im Wort zu retten von der einst schnee weißen Galatea, den kurvenreichen Porzellanfiguren, den Muscheln und Delphinen? Grünbeins Poem entfaltet sich in der Rückbesinnung auf die eigene Prägung durch Erinnerungen, Berichte, Relikte und Ahnungen. Ein Widerstreit von Trauer und Sarkasmus, Spott, Liebe und Heimweh bestimmt diese Verse, und doch tritt ihr Dichter als Verfasser zurück, geht in sich, hört zu, als Empfänger, Antenne und Traumstation: Stimmen und Kindheitswellen sind es, die ihn von ferne erreichen, Muttersignale und Herztöne, in denen sich seine Frage nach dem Sinn der Geschichte vervielfacht.
Autorenporträt
Grünbein, DursDurs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkmächtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis sowie den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2006

Ja, es tut noch weh
Poetisches Gedächtnis: Durs Grünbeins Dresdner Elegien

Als "Komplizen der Vergänglichkeit" hat sich der "Silbenschmied" Dürs Grünbein einmal bezeichnet. Dazu paßt, daß er sich noch immer emphatisch als Dresdner versteht, obwohl er schon seit 1985 in Berlin lebt. In "Porzellan" erscheint "die ruinierte Stadt" als Chiffre eines poetischen Ingeniums, das nicht vergessen kann und will, was doch unwiederbringlich verloren und nie wiedergutzumachen ist. Diese Bindung ans Vergangene zeigt sich in Form und Gehalt des Erinnerns zugleich. In der Tradition der "Tableaux Parisiens" Charles Baudelaires versammelt der Band neunundvierzig Dresdner Bilder in je zehn unregelmäßig gereimten trochäischen Sechshebern, in denen sich Altes und Neues traumhaft überlagern. "Diese heiklen Formen. Worum geht es hier? - Einer lauscht, / Was die Töchter Mnemosynes ihm diktieren. / Und er tauscht die Zeiten, Räume, Maße, tauscht und tauscht." Für "Nimmerwiederkehr" aber weiß der Dichter nur ein anderes Wort: "heute".

Diese Elegien sind aber weder sentimentale Klagen um den Zustand der einst schönheitstrunkenen Stadt noch gar empörte Anklagen gegen ihre Zerstörung. "Nein, Erinnerung, der Vorrat an Legenden / Ist längst aufgebraucht, und jede Heimkehr wird bestraft." Das lyrische Ich erscheint in verschiedenen Haltungen distanzierter und desillusionierter Beobachtung und Untersuchung. Der Dichter ist wechselweise Flaneur, Chronist, Archäologe, Geograph oder Historiker, seine Verfahren sind Sondierung, Beschreibung, Abtragung von Schichten und Analyse der Quellen und Sachreste. Die Zerstörung Dresdens durch britische Bomber ist den Gedichten eingeschrieben, aber das Datum ist nicht unhintergehbar. Schon vorher wurde in Dresden viel Porzellan zerschlagen und Kristall. "Unschuld, sagt ihr? Lag die Stadt nicht längst geschändet?" Doch noch immer verursacht die Erinnerung Schmerzen: "Ja, es tut noch weh."

Und dennoch entziffert der poetische Cicerone in der ruinierten Gestalt Dresdens und des Elbtals immer wieder die Merkmale der Schönheit und der unerschütterlichen Haltung. So erinnert der Blick auf die Elbe noch immer an Hogarths Ideal der schönen Form, und die zerstörte Frauenkirche kann zum Emblem einer eigentümlichen Würde und Standhaftigkeit werden.

"Lange ist sie so, gebrochnen Rückgrats stehengeblieben." Das sind Bilder Dresdens, die man traumvertraut nur mit geschlossenen Augen sehen kann und die sich dem touristischen Blick nicht erschließen. "Das soll Dresden sein, Venedigs Schwester, Elbflorenz? / Dies Provinznest, in Beton ergraut, sowjetisch trist?" Der Genius loci Dresdens ist ein Restaurator jenseits des Wiederaufbaus von Gebäuden. "Nicht dort draußen spielt sie, die Musik - im Schädelinnern. / Hier, mémoire involontaire, hier geht sie aus und ein." Solche Erinnerung geht mehr noch als die Prousts über Zeiten und Räume hinweg und begreift auch die Städte in das Gedächtnis des Leidens ein, die das Schicksal Dresdens auf die eine oder andere Weise teilen mußten: Troja, Pompeji, Lissabon, Coventry, Guernica oder Warschau.

Dresden aber ist die Stadt, in der lauter Kurfürsten wohnen, die man um den Thron gebracht hat. Was ihnen bleibt, ist Spielraum für eine Phantasie, der die Zeitläufte nichts anhaben können. So ist sie auch der Ort für einen Lyriker, der wohl weiß, daß mit seiner Kunst kein gesellschaftlicher Lorbeer mehr zu erringen ist. Das imaginative Dresden Durs Grünbeins wird so zum Reflexionsmedium eines produktiven Aushaltens und Verwindens, eines unheroischen poetischen Widerstands gegen die zerstörerische Macht der Zeit und des blinden Interesses. "Von wegen Tragik, pah! Wo, wenn nicht hier, war man / Der Hans-im-Glück, dem Zeit nichts nehmen kann?" Die Gedichte bringen in ihrem Ineinander traditioneller Form und heutigen Ausdrucks das Haben zur Anschauung, das im Verlorenhaben steckt, und so sind sie auf höchst kunstvolle Weise tröstlich, nicht nur für Dresdner.

Durs Grünbein: "Porzellan". Poem vom Untergang meiner Stadt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 72 S., geb., 14,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Auf "höchst kunstvolle Weise tröstlich" findet Rezensent Friedmar Apel Durs Grünbeins Gedichtzyklus über den Untergang Dresdens. Das Besondere dieser Texte liegt für ihn im "Ineinander von traditioneller Form und heutigem Ausdruck". Eindruck macht Grünbein aber auch, weil seine neunundvierzig, in "unregelmäßig gereimten trochäischen Sechshebern" verfasste Dresdner Bilder aus Sicht des Rezensenten nicht als Anklage daherkommen. Stattdessen erscheine das "lyrische Ich" in verschiedenen Gestalten, sondiere und trage Erinnerungsschichten ab, analysiere, oder spreche schlicht von Trauer. Mit seiner Art des Erinnerns geht Grünbein für den faszinierten Rezensenten außerdem noch über Proust hinaus.

© Perlentaucher Medien GmbH