Mit seinem Buch Postdemokratie sorgte Colin Crouch 2008 in Deutschland für Furore. In seiner so pointierten wie scharfsinnigen Analyse konstatiert er, dass die Demokratie in den westlichen Gesellschaften im Begriff sei, zur bloßen Hülle zu werden: demokratische Wahlen und Institutionen würden zwar aufrechterhalten, politische Entscheidungen jedoch de facto in den Chefetagen der Wirtschaft getroffen. Das Buch wurde zum Überraschungserfolg. Colin Crouch hatte eine Debatte um den Verfall der repräsentativen Demokratie losgetreten und ihr mit 'Postdemokratie' einen Namen gegeben.
Jetzt legt Crouch eine Bestandsaufnahme seiner Thesen vor: Wie gut haben verschiedene Demokratien die Corona-Pandemie bewältigt? Wie hat der Aufstieg des Rechtspopulismus demokratische Erosionsprozesse beeinflusst? Und welche Rolle spielen feministische Forderungen im Kampf gegen die Postdemokratie?
Jetzt legt Crouch eine Bestandsaufnahme seiner Thesen vor: Wie gut haben verschiedene Demokratien die Corona-Pandemie bewältigt? Wie hat der Aufstieg des Rechtspopulismus demokratische Erosionsprozesse beeinflusst? Und welche Rolle spielen feministische Forderungen im Kampf gegen die Postdemokratie?
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Otto Langels sieht im neuen Buch des Sozialwissenschaftlers Colin Crouch mehr als eine Bestandsaufnahme und Analyse des Zustands der Demokratie und eine Korrektur früherer Ansichten des Autors. Laut Langels hebt Crouch nach der Konstatierung der Erosion demokratischer Strukturen (nicht trotz, sondern mit Hilfe des Internets) zu einem griffig formulierten, undogmatischen Weckruf an: Die noch vorhandenen rechtsstaatlichen Institutionen und die unabhängige Wissenschaft stärken, in Bildung investieren, die Zivilgesellschaft stützen! Klingt teilweise etwas vage, aber jedenfalls wahr, findet Langels.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2021Nostalgien der gefährlichen Art
Colin Crouch sieht sich an, was aus den Entwicklungen zur "Postdemokratie" geworden ist, die er vor knapp zwanzig Jahren diagnostizierte.
Die Zeichen stehen auf Epochenwandel. Die Erdwissenschaften sprechen vom Anthropozän, einem Zeitalter, in dem das Schicksal unseres Planeten vom Handeln und Unterlassen der Menschen bestimmt wird. In den Sozial- und Kulturwissenschaften werden schon seit Jahrzehnten Begriffe mit der Vorsilbe "Post" geprägt - das war im vergangenen Jahrhundert erst die "postindustrielle Gesellschaft", und in den neunziger Jahren kam Francis Fukuyamas Version vom "Posthistoire", dem "Ende der Geschichte", hinzu. Anfang dieses Jahrtausends hat der britische Politikökonom Colin Crouch das Wort "Postdemokratie" populär gemacht.
Dieses Buch beschrieb nichts grundstürzend Neues, rückte Probleme aber in helleres Licht: Seine Warnung war, dass die Institutionen der liberalen Demokratien zwar nicht verschwänden, aber auf Kosten der politischen Gestaltungsmacht immer mehr von transnationalen Konzernen und ihren Lobbyisten ausgehöhlt würden. Auch dieses Thema war schon einmal in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts präsent.
Doch mit dem verstärkten Wettbewerb zwischen Staaten um private Investitionen (Stichwort "Globalisierung") und mit der zunehmenden Verflechtung der Weltwirtschaft (Stichwort "Lieferketten" ) hat sich die Problematik verschärft. Sie ist für die Staaten zum strukturellen Handicap geworden, das nationale Ressourcen, etwa die sozialpolitischen, stark strapaziert. Wolfgang Streeck, den Crouch mehrfach zitiert, hat das die Entwicklung "vom Steuerstaat zum Schuldenstaat" genannt, die in einem Teufelskreis neue "postdemokratische" Dilemmata produziere.
Mit seinem neuen Buch "Postdemokratie revisited" knüpft Crouch an die damaligen Warnungen an und konstatiert, dass sie von der Wirklichkeit weitgehend bestätigt worden seien. Er schlägt eine Revision einiger Thesen vor, die nach den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahrzehnte nötig geworden sei. Doch nimmt er die "neue politische Welt" auch noch einmal ins Visier, und dies auf gut lesbare, von Fachjargon weitgehend freie Weise.
Crouch korrigiert zunächst, was "Postdemokratie" (2002) vernachlässigt oder unterschätzt habe. Dazu gehört die Rolle von Institutionen, welche die Demokratie schützen und bewahren, auch wenn sie nur indirekt oder schwach demokratisch legitimiert seien: Das ist zuvörderst der Rechtsstaat mit seiner unabhängigen Justiz, es betrifft aber auch andere Gremien, die dem unmittelbaren Zugriff von Regierungen und Parlamenten entzogen sind; sie können demokratisch gewählten Repräsentanten auf die Finger schauen und ihnen Machtmissbrauch vorwerfen. Wo sie angetastet werden - derzeit etwa in Polen oder Ungarn, man denkt auch sofort an Trumps Kritik am amerikanischen Wahlsystem und an den Gerichten -, wird es gefährlich für die Demokratie, gerade weil die Populisten von links wie rechts behaupten, diese "undemokratischen Institutionen" verhinderten, dass die Politik dem angeblichen "Willen des Volkes" folge.
Ernüchterter Rückblick auf Erwartungen ans Internet
Crouch bekennt, dass er die Gefahr des "xenophoben Populismus" unterschätzt habe, ein Phänomen, das vor zwanzig Jahren am Rande des politischen Spektrums zu beobachten war und seither auf der ganzen Welt Zulauf gewonnen hat. Die entsprechenden Parteien oder Bewegungen fasst er unter der Bezeichnung "nostalgischer Pessimismus" zusammen; er zählt den integristischen, terroristischen Islamismus dazu, weil auch bei ihm die "Sehnsucht nach einer vergangenen Welt" vorherrsche. Crouch konstatiert, dass dieser Tendenz selbst linke Parteien stattgegeben hätten, die auf einwanderungsfeindliche und antieuropäische Positionen einschwenkten, etwa "Das unbeugsame Frankreich" von Jean-Luc Mélenchon oder einige sozialdemokratische Parteien in Skandinavien. Weil der Pinsel, mit dem er dieses Panorama ausmalt, sehr breit ist, bleiben dabei allerdings Differenzen und Details ziemlich unscharf.
Weiterhin konstatiert Crouch, dass er sich bei der Rolle sozialer Medien verschätzt habe. Da geht es nicht nur um deren explosionsartige Entwicklung, sondern auch um seine frühere Annahme, die allgemeine Zugänglichkeit des Internets könne ein Gegengewicht zu großen Konzernen und damit eine Stütze der Demokratie werden - ein Irrtum, wie er heute einsieht, weil sich durch die großen Plattformen neue Machtballungen ergeben hätten und weil es ausgerechnet die "Nostalgiker" am besten verstanden hätten, das Netz für ihre Zwecke zu nutzen.
Crouch korrigiert auch seine frühere Unterschätzung sozialer Bewegungen. Ausdrücklich wird der Feminismus erwähnt, von dem er glaubt, er könne zu einem Reformprogramm für die unteren und mittleren Klassen werden, was bisher allerdings noch nicht recht zu erkennen ist. Auch das Entstehen einer weltweiten Klimabewegung wie "Fridays for Future" sieht er als Chance, ein Gegengewicht zur postdemokratisch-neoliberalen Agenda zu bilden. Im Hauptteil des Buches dekliniert Crouch seine Neubewertung der Postdemokratie an mehreren Krisen durch: an der Finanzkrise 2008, an der anschließenden europäischen Schuldenkrise und an den politischen Implikationen der Corona-Pandemie.
Verwoben mit diesem Wandel ist eine Neuformatierung des Parteiensystems aufgrund der nachlassenden Bindungskraft von Religion und der Verwischung von Klassengegensätzen. Das im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert entstandene Parteiensystem erodiert, das zeigen inzwischen viele Studien. Trotz aller Unterschiede zwischen den Staaten ist für Crouch der gemeinsame Nenner, dass neue Bewegungen und Parteien das - vereinfacht gesagt - etablierte Duopol einer linken und einer rechten Volkspartei ablösen, soweit diese ihr Überleben nicht durch Wandel und Neuerfindung sichern können, was ein schwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang ist.
Von einem demokratischen Vorteil der Europäischen Union
Die Methode von Crouchs Untersuchung könnte man als dichte Beschreibung bezeichnen. Er fasst historische Erfahrungen und empirische Daten zusammen und ordnet sie mit seinen Kategorien. Man kann dabei über manche seiner Bewertungen streiten. Aber es ist anzuerkennen, dass er meist undogmatisch und unideologisch urteilt. Auch wenn er seinen "linksliberalen" Standpunkt nicht verleugnet, wägt er das Für und Wider von Entscheidungen ab. Beispielhaft ist dafür seine Haltung zur Finanzindustrie oder zu der "Griechenland-Rettung". Er geißelt nicht nur den "neoliberalen" Sündenbock, sondern beschreibt realistisch, dass die Alternative zur "Bankenrettung" ein Vermögensverlust für alle Kleinsparer gewesen wäre. Angesichts der "postdemokratischen" Methode bei der versuchten Sanierung Griechenlands vergisst er nicht, die Versäumnisse der griechischen Politik zu benennen.
Crouchs Fazit heißt, dass die liberalen Demokratien heute dem Typus Postdemokratie noch näher gekommen seien, was unter anderem damit zu tun habe, dass eine neoliberale Globalisierung die Verbreitung des "nostalgischen Pessimismus" fördere. Als Gegengift kommen dabei nicht nur Veränderungen der Wirtschaftspolitik zur Sprache, sondern wiederum die unabhängigen Institutionen, vor allem das Justizwesen. Dabei fällt auch ein Lob für die Europäische Union ab: Weil ihre Institutionen nicht von einer Partei gekapert werden könnten, sei sie "besser gegen Machtmissbrauch gefeit als der einzelne Nationalstaat. Auch das trägt zum Schutz der Demokratie bei."
Doch am nachdrücklichsten setzt Crouch auf eine Aktivierung der Bürger, auf die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte wie der weltweiten Bewegungen zum Klimaschutz. Es zeigt seine Klarsicht, dass er auch deren Schwächen in den Blick nimmt: Allein auf Werte ausgerichtete Bewegungen blieben weiterhin auf Parteien angewiesen, die Wählerblöcke bilden, in denen unterschiedliche Interessen austariert werden können. Es wäre interessant zu erfahren, was Crouch zum Aufstieg von Bündnis 90/Die Grünen in der deutschen Politik zu sagen hat, denn "grüne Bewegungen" können, entgegen seiner Prognose, offenbar doch mehrheitsfähig werden, wenn sie sich organisatorisch klassischen Parteien annähern und zu Koalitionen bereit sind. Das könnte ein Gegenstand für die nächste Revision von "Postdemokratie" werden, vielleicht in gar nicht allzu langer Zeit.
GÜNTHER NONNENMACHER
Colin Crouch:
"Postdemokratie
revisited".
Aus dem Englischen von Frank Jakubzig.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021. 278 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Colin Crouch sieht sich an, was aus den Entwicklungen zur "Postdemokratie" geworden ist, die er vor knapp zwanzig Jahren diagnostizierte.
Die Zeichen stehen auf Epochenwandel. Die Erdwissenschaften sprechen vom Anthropozän, einem Zeitalter, in dem das Schicksal unseres Planeten vom Handeln und Unterlassen der Menschen bestimmt wird. In den Sozial- und Kulturwissenschaften werden schon seit Jahrzehnten Begriffe mit der Vorsilbe "Post" geprägt - das war im vergangenen Jahrhundert erst die "postindustrielle Gesellschaft", und in den neunziger Jahren kam Francis Fukuyamas Version vom "Posthistoire", dem "Ende der Geschichte", hinzu. Anfang dieses Jahrtausends hat der britische Politikökonom Colin Crouch das Wort "Postdemokratie" populär gemacht.
Dieses Buch beschrieb nichts grundstürzend Neues, rückte Probleme aber in helleres Licht: Seine Warnung war, dass die Institutionen der liberalen Demokratien zwar nicht verschwänden, aber auf Kosten der politischen Gestaltungsmacht immer mehr von transnationalen Konzernen und ihren Lobbyisten ausgehöhlt würden. Auch dieses Thema war schon einmal in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts präsent.
Doch mit dem verstärkten Wettbewerb zwischen Staaten um private Investitionen (Stichwort "Globalisierung") und mit der zunehmenden Verflechtung der Weltwirtschaft (Stichwort "Lieferketten" ) hat sich die Problematik verschärft. Sie ist für die Staaten zum strukturellen Handicap geworden, das nationale Ressourcen, etwa die sozialpolitischen, stark strapaziert. Wolfgang Streeck, den Crouch mehrfach zitiert, hat das die Entwicklung "vom Steuerstaat zum Schuldenstaat" genannt, die in einem Teufelskreis neue "postdemokratische" Dilemmata produziere.
Mit seinem neuen Buch "Postdemokratie revisited" knüpft Crouch an die damaligen Warnungen an und konstatiert, dass sie von der Wirklichkeit weitgehend bestätigt worden seien. Er schlägt eine Revision einiger Thesen vor, die nach den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahrzehnte nötig geworden sei. Doch nimmt er die "neue politische Welt" auch noch einmal ins Visier, und dies auf gut lesbare, von Fachjargon weitgehend freie Weise.
Crouch korrigiert zunächst, was "Postdemokratie" (2002) vernachlässigt oder unterschätzt habe. Dazu gehört die Rolle von Institutionen, welche die Demokratie schützen und bewahren, auch wenn sie nur indirekt oder schwach demokratisch legitimiert seien: Das ist zuvörderst der Rechtsstaat mit seiner unabhängigen Justiz, es betrifft aber auch andere Gremien, die dem unmittelbaren Zugriff von Regierungen und Parlamenten entzogen sind; sie können demokratisch gewählten Repräsentanten auf die Finger schauen und ihnen Machtmissbrauch vorwerfen. Wo sie angetastet werden - derzeit etwa in Polen oder Ungarn, man denkt auch sofort an Trumps Kritik am amerikanischen Wahlsystem und an den Gerichten -, wird es gefährlich für die Demokratie, gerade weil die Populisten von links wie rechts behaupten, diese "undemokratischen Institutionen" verhinderten, dass die Politik dem angeblichen "Willen des Volkes" folge.
Ernüchterter Rückblick auf Erwartungen ans Internet
Crouch bekennt, dass er die Gefahr des "xenophoben Populismus" unterschätzt habe, ein Phänomen, das vor zwanzig Jahren am Rande des politischen Spektrums zu beobachten war und seither auf der ganzen Welt Zulauf gewonnen hat. Die entsprechenden Parteien oder Bewegungen fasst er unter der Bezeichnung "nostalgischer Pessimismus" zusammen; er zählt den integristischen, terroristischen Islamismus dazu, weil auch bei ihm die "Sehnsucht nach einer vergangenen Welt" vorherrsche. Crouch konstatiert, dass dieser Tendenz selbst linke Parteien stattgegeben hätten, die auf einwanderungsfeindliche und antieuropäische Positionen einschwenkten, etwa "Das unbeugsame Frankreich" von Jean-Luc Mélenchon oder einige sozialdemokratische Parteien in Skandinavien. Weil der Pinsel, mit dem er dieses Panorama ausmalt, sehr breit ist, bleiben dabei allerdings Differenzen und Details ziemlich unscharf.
Weiterhin konstatiert Crouch, dass er sich bei der Rolle sozialer Medien verschätzt habe. Da geht es nicht nur um deren explosionsartige Entwicklung, sondern auch um seine frühere Annahme, die allgemeine Zugänglichkeit des Internets könne ein Gegengewicht zu großen Konzernen und damit eine Stütze der Demokratie werden - ein Irrtum, wie er heute einsieht, weil sich durch die großen Plattformen neue Machtballungen ergeben hätten und weil es ausgerechnet die "Nostalgiker" am besten verstanden hätten, das Netz für ihre Zwecke zu nutzen.
Crouch korrigiert auch seine frühere Unterschätzung sozialer Bewegungen. Ausdrücklich wird der Feminismus erwähnt, von dem er glaubt, er könne zu einem Reformprogramm für die unteren und mittleren Klassen werden, was bisher allerdings noch nicht recht zu erkennen ist. Auch das Entstehen einer weltweiten Klimabewegung wie "Fridays for Future" sieht er als Chance, ein Gegengewicht zur postdemokratisch-neoliberalen Agenda zu bilden. Im Hauptteil des Buches dekliniert Crouch seine Neubewertung der Postdemokratie an mehreren Krisen durch: an der Finanzkrise 2008, an der anschließenden europäischen Schuldenkrise und an den politischen Implikationen der Corona-Pandemie.
Verwoben mit diesem Wandel ist eine Neuformatierung des Parteiensystems aufgrund der nachlassenden Bindungskraft von Religion und der Verwischung von Klassengegensätzen. Das im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert entstandene Parteiensystem erodiert, das zeigen inzwischen viele Studien. Trotz aller Unterschiede zwischen den Staaten ist für Crouch der gemeinsame Nenner, dass neue Bewegungen und Parteien das - vereinfacht gesagt - etablierte Duopol einer linken und einer rechten Volkspartei ablösen, soweit diese ihr Überleben nicht durch Wandel und Neuerfindung sichern können, was ein schwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang ist.
Von einem demokratischen Vorteil der Europäischen Union
Die Methode von Crouchs Untersuchung könnte man als dichte Beschreibung bezeichnen. Er fasst historische Erfahrungen und empirische Daten zusammen und ordnet sie mit seinen Kategorien. Man kann dabei über manche seiner Bewertungen streiten. Aber es ist anzuerkennen, dass er meist undogmatisch und unideologisch urteilt. Auch wenn er seinen "linksliberalen" Standpunkt nicht verleugnet, wägt er das Für und Wider von Entscheidungen ab. Beispielhaft ist dafür seine Haltung zur Finanzindustrie oder zu der "Griechenland-Rettung". Er geißelt nicht nur den "neoliberalen" Sündenbock, sondern beschreibt realistisch, dass die Alternative zur "Bankenrettung" ein Vermögensverlust für alle Kleinsparer gewesen wäre. Angesichts der "postdemokratischen" Methode bei der versuchten Sanierung Griechenlands vergisst er nicht, die Versäumnisse der griechischen Politik zu benennen.
Crouchs Fazit heißt, dass die liberalen Demokratien heute dem Typus Postdemokratie noch näher gekommen seien, was unter anderem damit zu tun habe, dass eine neoliberale Globalisierung die Verbreitung des "nostalgischen Pessimismus" fördere. Als Gegengift kommen dabei nicht nur Veränderungen der Wirtschaftspolitik zur Sprache, sondern wiederum die unabhängigen Institutionen, vor allem das Justizwesen. Dabei fällt auch ein Lob für die Europäische Union ab: Weil ihre Institutionen nicht von einer Partei gekapert werden könnten, sei sie "besser gegen Machtmissbrauch gefeit als der einzelne Nationalstaat. Auch das trägt zum Schutz der Demokratie bei."
Doch am nachdrücklichsten setzt Crouch auf eine Aktivierung der Bürger, auf die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte wie der weltweiten Bewegungen zum Klimaschutz. Es zeigt seine Klarsicht, dass er auch deren Schwächen in den Blick nimmt: Allein auf Werte ausgerichtete Bewegungen blieben weiterhin auf Parteien angewiesen, die Wählerblöcke bilden, in denen unterschiedliche Interessen austariert werden können. Es wäre interessant zu erfahren, was Crouch zum Aufstieg von Bündnis 90/Die Grünen in der deutschen Politik zu sagen hat, denn "grüne Bewegungen" können, entgegen seiner Prognose, offenbar doch mehrheitsfähig werden, wenn sie sich organisatorisch klassischen Parteien annähern und zu Koalitionen bereit sind. Das könnte ein Gegenstand für die nächste Revision von "Postdemokratie" werden, vielleicht in gar nicht allzu langer Zeit.
GÜNTHER NONNENMACHER
Colin Crouch:
"Postdemokratie
revisited".
Aus dem Englischen von Frank Jakubzig.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021. 278 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Colin Crouchs Postdemokratie revisited ist ein guter Kompass, um sich im politischen Feld zu orientieren.« Meike Fessmann Der Tagesspiegel 20210804