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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2000

Vorhang fällt, Spiel beginnt
Postdramatisch: Hans-Thies Lehmann blickt auf das Theater heute

Abseits der von Finanznöten und den Forderungen nach Strukturreformen beherrschten öffentlichen Diskussion um den Ort des Theaters in der Informationsgesellschaft hat der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann eine theoretische Bestandsaufnahme dessen vorgelegt, was auf deutschen und internationalen Bühnen in den letzten dreißig Jahren an neuen Stücken zur Aufführung gekommen ist. Dabei richtet der Autor dieses monumentalen Projekts den Blick auf jene radikalen Inszenierungen, in denen der dramatische Text als ästhetisches Fundament des Theaters zunehmend problematisiert wird. Wer dieses so genannte "postdramatische" Theater überwiegend im Umfeld der experimentierfreudigen, risikobereiten Off-Off-Bühnen vermutet hat, sieht sich von Lehmann eines Besseren belehrt. Auch etablierte Häuser und sogar die Wiener Festwochen hatten durch Aufführungen von Robert Wilson, Hans-Jürgen Syberberg, Bernard-Marie Koltès, Klaus Pohl, Heiner Müller und anderen dazu beigetragen, dass das Theater seine dramaturgischen Mittel überdacht und einer neuen, postdramatischen Theaterkonzeption den Weg bereitet hat.

In kaum zu übersehender Anlehnung an Peter Szondis neuhegelianisches Diktum, wonach die Geschichte der dramatischen Formen notwendig von ihren Inhalten, das heißt den geistesgeschichtlichen, sozialen und politischen Veränderungen in der Gesamtgesellschaft, bestimmt wird, schreibt Lehmann an der Fortsetzung der "Theorie des modernen Dramas" (1956), genauer: er ergänzt Szondis grundlegenden Text um ein Kapitel zur Postmoderne. Dass der Autor den inflationär gewordenen Begriff meidet, ihn gar durch den griffigen, direkt auf den Gegenstand der Untersuchung bezogenen Neologismus "postdramatisch" ersetzt, hat vor allem heuristische Ursachen. So stelle die gängige Bezeichnung "postmodernes Theater" zwar eine Reihe von Klassifikationsmerkmalen bereit, etwa die Bedeutung von Ambiguität, Enthierarchisierung der dramatischen Mittel, Pluralismus, offene Form; doch treffen viele dieser Merkmale, so Lehmann, auch auf frühere Theaterformen zu und seien deshalb kaum geeignet, die Vielfalt und Komplexität zeitgenössischer Theaterpraxis hinreichend zu beschreiben. Hier aber liegen gerade die Vorzüge der Wortschöpfung "postdramatisch", da sie bereits nominell auf Lehmanns wichtigstes Beschreibungskriterium des neuen Theaters verweist, nämlich seine radikale Abkehr vom dramatischen Text, sein Fragen nach der Dramatik jenseits des Dramas und nicht unbedingt, wie der Autor selbst hervorhebt, jenseits der Moderne.

So viel versprechend diese Unterscheidung sein mag, hinsichtlich der systematischen Erfassung der inhaltlichen und stilistischen Veränderungen im Theaterschaffen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ergeben sich dennoch gravierende Probleme. Lehmanns äußerst umfangreiche Studie ist weitgehend kumulativ und panoramisch angelegt. Der Autor versucht, anhand einer Vielzahl von Einzelaspekten - Performance, Text, Raum, Körper, Medien - eine Art "ästhetische Logik" des postdramatischen Theaters zu entwerfen. Was als interdisziplinäres Projekt auf der Schwelle zwischen Theaterwissenschaft und Philosophie gedacht war, versagt sich jedoch allzu oft den Vorzügen der ersteren Disziplin, nämlich des konkreten Bezugs zur einzelnen Aufführung, ohne dabei je die analytische Systematik eines rein ästhetiktheoretischen Diskurses über das Theater zu erreichen. Obwohl sich Lehmann in seiner Einleitung wiederholt zu den moralischen, politischen und rechtlichen Implikationen einer dergestalt theaterästhetischen Perspektive bekennt, lässt seine Untersuchung - mit Ausnahme des Kapitels über das Verhältnis von Theater und Massenmedien - eine mehr als nur kursorische Auseinandersetzung mit diesen Fragen vermissen.

Dabei erscheint vieles von dem, was der Autor dem interessierten Theaterbesucher zum zeitgenössischen Theater zu sagen hat, durchaus plausibel. Dass im experimentellen Theater die Performance, der Prozess der Darstellung selbst und nicht so sehr das Dargestellte, die dramatische Situation, im Vordergrund steht, ist einleuchtend. Ebenso richtig ist, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Bewertung der Stücke von Robert Wilson als einem Theater, in dem "psychologisch durchgearbeitete" oder "individuierte Figuren in einem kohärenten szenischen Zusammenhang" nicht mehr vorkommen. Stattdessen treffen wir auf "Gestalten, die wie unverständliche Embleme wirken: die ostentative Weise ihres Erscheinens drängt die Frage nach ihrer Bedeutung auf, ohne dass diese Frage eine Antwort findet".

Lehmann nennt Namen, zu viele Namen, von Autoren, Theatermachern, und Performance-Gruppen, deren Aufführungen und Stücke auf eine neue, postdramatische Ästhetik zu verweisen scheinen. Doch auch er bleibt letztlich dem Leser die Antwort auf die Frage schuldig, was denn nun eigentlich die Vertreter der radikalen Avantgarde der sechziger und frühen siebziger Jahre, Richard Schechners "Performance Group", das "Living Theatre" oder Jerzy Grotowskis "Theaterlaboratorium" mit Heiner Müller, Peter Handke, Peter Brook, Leander Haussmann, Frank Castorf oder Elfriede Jelinek verbindet. Zwar erfahren wir viel über den Einsatz bestimmter, postdramatischer Stilmittel (Tableaux versus Drama, unmittelbare Erfahrbarkeit von Raum und Zeit, Dominanz des Visuellen, Sprechakt als Ereignis und andere), in der konkreten Umsetzung erscheinen die einzelnen Repräsentanten des postdramatischen Dramas dann aber so heterogen und, gelegentlich, inkompatibel, dass die semantische Beschwörung der ihnen gemeinsamen Abkehr vom dramatischen Text allein nicht zu überzeugen vermag.

Das Problem dieser in ihrer enzyklopädischen Breite sicherlich nützlichen und verdienstvollen Untersuchung liegt deshalb in der allzu peniblen Beschränkung auf die theaterästhetische Perspektive selbst. Lehmanns Text ist eine Zusammenschau, nicht eine Analyse der gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Grundlagen zeitgenössischer Theaterpraxis.

Einzig in dem bereits erwähnten Kapitel zum Einfluss der Massenmedien auf das Theater gelingt ihm der Sprung von einer rein deskriptiven zu einer auf konkrete gesellschaftliche Veränderungen bezogenen Darstellung postdramatischer Formen. "Es ist kein Zufall", heißt es dort scharfsichtig, "dass zeitgleich mit dem Erscheinen und der Verbreitung der Mediatisierung . . . das bis dahin wesentlich ,dramatische' Theater der in dieser Studie beschriebenen Strukturumwandlung unterliegt. Die Dominante von Drama und Illusionierung wandert in die Medien ab, während die Aktualität der Performance zur neuen Dominante des Theaters wird."

KLAUS BENESCH

Hans-Thies Lehmann: "Postdramatisches Theater". Verlag der Autoren. Frankfurt am Main 1999. 506 S., geb., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Tobi Müller versucht in seiner Rezension die Wogen, die dieses Buch ausgelöst hat, durch eine sachliche Analyse etwas zu glätten. Denn seiner Ansicht nach gibt der Band - bei nüchterner Betrachtung - wenig Anlass zum Polarisieren. Statt einem "Paradigmenwechsel" zeige Lehmann hier vielmehr verschiedenen Möglichkeiten und Facetten des Postdramatischen Theaters auf, wodurch - was der Rezensent begrüßt - Denkanstöße und eine "Neuausrichtung des Blicks" ermöglicht werden. Keineswegs gehe es hier darum, "Begriffsmauern zwischen `realistisch-erzählendem` contra `postdramatisch-assoziativem`" Theater hochzuziehen. Und gerade deswegen erscheint Müller der Wirbel, den das Buch ausgelöst hat, besonders unverständlich. Müller betont mehrfach Lehmanns Fachkenntnis und seine "Schläue", aber auch die Liebe zum Theater, die selbst bei Kritik, die Lehmann äußert, stets spürbar bleibe. Lobend hebt Müller hervor, dass man das Buch "auch als theatergeschichtliche, ansatzweise als wissenschaftsgeschichtliche Abhandlung" lesen könne, vor allem aber, dass der Autor die Postmoderne im historischen Zusammenhang betrachtet. Dabei zeige Lehmann unter anderem auf, welche Möglichkeiten für das postmoderne Theater er bereits bei Aristoteles und Hegel angedeutet sieht, ohne dass er diese dabei allerdings "als frisch verbürgte Väter ins postdramatische Familienalbum" klebe.

© Perlentaucher Medien GmbH
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