Die Ur- und Frühgeschichte als wissenschaftliche Disziplin widmete sich in der NS-Zeit zu einem erheblichen Teil der Erforschung einer vermeintlich germanischen Frühzeit, der Leitvorstellungen wie Gefolgschaft, Führer- und Kriegertum, letztlich ein Großteil des Kernbestands der NS-Weltanschauung, zugeschrieben wurden. Die Frage nach der Bedeutung der Prähistorie für die nationalsozialistische Ideologie und ihrer Funktionalisierung durch das NS-Regime wurde jedoch in den Nachkriegsjahren erfolgreich verdrängt und auch in der Folgezeit nie umfassend thematisiert. Erst im Zuge der deutschen Vereinigung und der damit einhergehenden Öffnung zahlreicher bis dahin unzugänglicher Archive stellte sich die europäische Prähistorie zunehmend dieser fachgeschichtlichen Herausforderung. Einen Meilenstein in dieser Entwicklung markierte eine internationale Tagung, die auf Initiative von Achim Leube im November 1998 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand.
Die dort gehaltenen Vorträge bilden die Grundlage des vorliegenden Bandes, in dem nicht nur Vertreter der deutschen Frühgeschichtsforschung, sondern auch Prähistoriker aus Frankreich, Norwegen, Schweden, Österreich, Rußland, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik zu Wort kommen. Er fügt der Aufarbeitung der Wissenschafts- und Ideologiegeschichte der NS-Zeit ein wesentliches Kapitel hinzu und dokumentiert zugleich einen exemplarischen Prozeß fachgeschichtlicher Selbstreflexion.
Aus dem Inhalt
REINHARD BOLLMUS: Das "Amt Rosenberg", das "Ahnenerbe" und die Prähistoriker; UWE PUSCHNER: Grundzüge völkischer Rassenideologie; INGWIWJORRA: "Ex oriente lux" - "Ex septentrione lux"; HENNING HASSMANN: Archäologie und Jugend im "Dritten Reich"; MARTIN SCHMIDT: Die Rolle der musealen Vermittlung in der nationalsozialistischen Bildungspolitik; WOLFGANG PAPE: Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945; DIETWULF BAATZ: Limesforschung zwischen den Weltkriegen; UTA HALLE: Die Externsteine; MARION BERTRAM: Wilhelm Unverzagt; MICHAEL STROBEL: Die Ausgrabungen des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte; MARIA MAGDALENA BLOMBERGOWA: Archäologische Funde im Dienst der Propaganda; SABINE HEINZ: Julius Pokorny; HEINZ GRÜNERT: Gustaf Kossinna _ ein Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologie; GUNTER SCHÖBEL: Hans Reinerth; GÜNTER WEGNER: Karl Hermann Jacob-Friesen und Hans Reinerth; IRENE ZIEHE: Hans Hahne; VEIT STÜRMER: Hans Schleif; JÖRN JACOBS: Peter Paulsen; HELMUT SWOZILEK: Vorarlberg und die prähistorische Forschung; KARLA MOTYKOVÁ: Die Ur- und Frühgeschichtsforschung in Böhmen; TITUS KOLNÍK: Prähistorische Forschung in der Slowakei; BOGUSLAW GEDIGA: Die Ur- und Frühgeschichte in Breslau; MAGDALENA MACZYNSKA: Ur- und Frühgeschichte in Kraków; TADEUSZ MAKIEWICZ: Archäologische Forschung in Poznan; VLADIMIR I. KULAKOV: Archäologische Forschungen im Baltikum; ANJA HEUSS: Prähistorische "Raubgrabungen" in der Ukraine; MARTIJN EICKHOFF: Bedeu-tung der Archäologie während der deutschen Besetzung der Niederlande; LAURENT OLIVIER: L'archéologie du " 3ème Reich " et la France; JES MARTENS: Die Nordische Archäologie und das "Dritte Reich"; OLAV SVERRE JOHANSEN: Anmerkungen zur archäologischen Tätigkeit in Norwegen; MAGDALENA MACZYNSKA: Lehren aus der Vergangenheit; HEINNEUMAYER: Tagungsbericht; TIMM WESKI: Schlussbemerkungen; MARTIN MAISCHBERGER: Das Projekt "Archives of European Archaeology" (AREA); Über die Autoren; Abkürzungsverzeichnis; Namenregister
Die dort gehaltenen Vorträge bilden die Grundlage des vorliegenden Bandes, in dem nicht nur Vertreter der deutschen Frühgeschichtsforschung, sondern auch Prähistoriker aus Frankreich, Norwegen, Schweden, Österreich, Rußland, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik zu Wort kommen. Er fügt der Aufarbeitung der Wissenschafts- und Ideologiegeschichte der NS-Zeit ein wesentliches Kapitel hinzu und dokumentiert zugleich einen exemplarischen Prozeß fachgeschichtlicher Selbstreflexion.
Aus dem Inhalt
REINHARD BOLLMUS: Das "Amt Rosenberg", das "Ahnenerbe" und die Prähistoriker; UWE PUSCHNER: Grundzüge völkischer Rassenideologie; INGWIWJORRA: "Ex oriente lux" - "Ex septentrione lux"; HENNING HASSMANN: Archäologie und Jugend im "Dritten Reich"; MARTIN SCHMIDT: Die Rolle der musealen Vermittlung in der nationalsozialistischen Bildungspolitik; WOLFGANG PAPE: Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945; DIETWULF BAATZ: Limesforschung zwischen den Weltkriegen; UTA HALLE: Die Externsteine; MARION BERTRAM: Wilhelm Unverzagt; MICHAEL STROBEL: Die Ausgrabungen des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte; MARIA MAGDALENA BLOMBERGOWA: Archäologische Funde im Dienst der Propaganda; SABINE HEINZ: Julius Pokorny; HEINZ GRÜNERT: Gustaf Kossinna _ ein Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologie; GUNTER SCHÖBEL: Hans Reinerth; GÜNTER WEGNER: Karl Hermann Jacob-Friesen und Hans Reinerth; IRENE ZIEHE: Hans Hahne; VEIT STÜRMER: Hans Schleif; JÖRN JACOBS: Peter Paulsen; HELMUT SWOZILEK: Vorarlberg und die prähistorische Forschung; KARLA MOTYKOVÁ: Die Ur- und Frühgeschichtsforschung in Böhmen; TITUS KOLNÍK: Prähistorische Forschung in der Slowakei; BOGUSLAW GEDIGA: Die Ur- und Frühgeschichte in Breslau; MAGDALENA MACZYNSKA: Ur- und Frühgeschichte in Kraków; TADEUSZ MAKIEWICZ: Archäologische Forschung in Poznan; VLADIMIR I. KULAKOV: Archäologische Forschungen im Baltikum; ANJA HEUSS: Prähistorische "Raubgrabungen" in der Ukraine; MARTIJN EICKHOFF: Bedeu-tung der Archäologie während der deutschen Besetzung der Niederlande; LAURENT OLIVIER: L'archéologie du " 3ème Reich " et la France; JES MARTENS: Die Nordische Archäologie und das "Dritte Reich"; OLAV SVERRE JOHANSEN: Anmerkungen zur archäologischen Tätigkeit in Norwegen; MAGDALENA MACZYNSKA: Lehren aus der Vergangenheit; HEINNEUMAYER: Tagungsbericht; TIMM WESKI: Schlussbemerkungen; MARTIN MAISCHBERGER: Das Projekt "Archives of European Archaeology" (AREA); Über die Autoren; Abkürzungsverzeichnis; Namenregister
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2002Trautes Heim in den Pfahlbauten
Mit dem Panzer auf Germanensuche: Eine Ausstellung in Trier und ein Aufsatzband erhellen die Rolle der Prähistoriker im nationalsozialistischen Deutschland
Blau steht der Himmel über dem Bodensee, sanft schwappen Wellen gegen die Stege, aber dann setzt das Kreischen einer Motorsäge ein: Nein, eine Idylle sind die schilfgedeckten Pfahlbauten am Seeufer nicht. Museumsleiter Gunter Schöbel lässt im flachen Wasser drei neue Holzhäuser errichten, denn bisher erinnert das Pfahlbaudorf Unteruhldingen noch immer an das Bild der Vorzeit, das nationalsozialistische Ideologen gezeichnet haben – und so ist es auch beabsichtigt. Vor 80 Jahren wurden die ersten Pfahlbauten als Freilichtmuseum eröffnet, es folgten weitere Häuser, und nach 1933 wurde die gesamte Anlage innen wie außen so gestaltet, wie es den neuen Herren passte: „Es ist eine perfekte Inszenierung”, sagt Schöbel, indem er eine Tür aus grobbehauenen Balken öffnet, „sauber hängt das Kleid neben dem bronzezeitlichen Umhang an der Wand, und jeder, der reinkommt, muss sofort denken: Hatten’s die gut!”
Nationalsozialistische Funktionäre, allen voran Reichsbauernführer Darré und der vergangenheitsbesessene SS-Chef Himmler, hatten schnell erkannt, wie gut man Unteruhldingen für Propaganda nutzen konnte: Die überlegene Lebensweise des angeblich kulturprägenden „Nordischen Menschen” konnte hier anschaulich demonstriert werden. Heute lässt sich anhand des Museumsdorfes begreiflich machen, wie die archäologischen Erkenntnisse manipuliert wurden. In der Wasserburg am Seeufer etwa, einer Anzahl Pfahlbauten, umgeben von einer Palisade, festen Toren und Türmen: „Man hatte die Vorgabe der Wehrhaftigkeit, baute kurzerhand die Palisade aus der Bronzezeit um eine Siedlung aus der Steinzeit” – und vereinte zwei Epochen, die 3000 Jahre auseinander lagen.
Zu viel Machtgier schadet nur
Gunter Schöbel kam nicht darum herum, sich mit der Verfälschung der Pfahlbau-Rekonstruktionen auseinanderzusetzen, in seinem Arbeitszimmer residierte bis 1986 einer der führenden Archäologen der NS-Zeit: Hans Reinerth, ein exzellenter Prähistoriker, seit 1919 am Bodensee aktiv, wandelte sich 1931 zum bekennenden Nazi, erlangte eine Professur in Berlin und wurde von Alfred Rosenberg zum Leiter des „Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte” ernannt. Sein Vorhaben, das gesamte Fach im „Reichsbund” gleichzuschalten, scheiterte allerdings an seiner für viele Kollegen unerträglichen Machtgier. Dazu kamen die system-typischen Rivalitäten innerhalb der Reichsregierung: Himmler wandte sich gegen Rosenbergs „Reichsbund”. Er gründete in seiner Forschungsorganisation, dem „SS-Ahnenerbe”, eine Abteilung für Archäologie und bestellte Herbert Jankuhn, den angesehenen Ausgräber der Wikingerstadt Haithabu, zum Leiter. Viele Vor- und Frühgeschichtsforscher, die unter Reinerth nicht arbeiten mochten, traten dem „Ahnenerbe” bei, derselben Organisation, der auch Mengele und Hirt angehörten.
Archäologen waren wohl nicht direkt an Verbrechen beteiligt: „Wir haben bisher keinen Beleg gefunden, dass durch Reinerth ein Wissenschaftler in das KZ gekommen ist, und das trifft für alle zu, die wir in dieser Zeit kennen”, formuliert Gunter Schöbel vorsichtig – die dunklen Epochen der Fachgeschichte sind noch lange nicht aufgehellt. Eine offene Diskussion wird auch dadurch behindert, dass Schüler der Prähistoriker, die das rassistische Konzept des „Nordischen Menschen” begründen halfen, immer noch Einfluss haben.
Im alten Stadtkern von Metz, gleich bei der gotischen Kathedrale – die deutsche Kunsthistoriker 1940 übrigens der Rheinischen Romanik unterordnen wollten –, residiert der Archäologische Dienst für Lothringen. Das Gebäude hat Geschichte: Als hier Wehrmachtsstiefel auf das Kopfsteinpflaster knallten, saßen die Archäologen der Besatzer im selben Haus. „Und die sahen ihre Aufgabe offensichtlich darin”, erklärt Jean-Pierre Legendre in seinem kleinen Büro im zweiten Stock, „hier Spuren einer germanischen Bevölkerung zu finden.” Ausgrabungen als Legitimation der deutschen Expansionspolitik: Nur Gebiete, die germanische „Vorfahren” schon einmal besessen hatten, sollten heimgeholt werden ins Deutsche Reich, verkündeten Nazi-Funktionäre – und um zu beweisen, dass überall, wo deutsche Panzer auftauchten, schon Germanen gewesen waren, benutzten sie die Archäologen.
Legendre hat ihre Spuren in Elsass und Lothringen verfolgt. Aus dem, was in den Archiven zutage kam, konzipierte er gemeinsam mit Kollegen aus Straßburg im vergangenen Jahr eine Ausstellung, die nun im Rheinischen Landesmuseum Trier zu sehen ist. („Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus.” Di - Fr 9.30 - 17 Uhr, bis Ende Oktober auch Mo. Sa - So 10.30-17 Uhr. Bis zum 6. Januar 2003.) Die Ausstellung gibt Einblick in Mechanismen der nationalsozialistischen Propaganda und dokumentiert die Rolle deutscher Ausgräber in besetzten Nachbarländern – zum Beispiel auf Fotos vom frühmittelalterlichen Gräberfeld in Ennery bei Metz: Die Latten der Vermesser umgeben das Gelände, der Boden ist sorgsam freigeräumt, nur eine Reihe gut erhaltener Skelette ruht noch auf einem Sockel aus Erde. In einer Nahaufnahme dann zwei Grabungsarbeiter mit Kelle und Schaufel: Stolz deuten sie auf ein freigelegtes Gerippe. Der Friedhof von Ennery stammt aus dem 6. Jahrhundert, der Zeit der Merowinger, und die deutschen Forscher, die in der lothringischen Erde weisungsgemäß germanische Spuren fanden, gruben ihn vorbildlich aus: Schicht für Schicht legten sie die historischen Bodenniveaus frei, fotografierten jeden Fund, restaurierten jede Grabbeigabe. Die Grabungstechnik, die deutsche Überlegenheit demonstrieren sollte, war so fortschrittlich, dass sie lange Vorbild blieb: „Bis in die siebziger, achtziger Jahre galt Ennery als eine der großen Merowinger-Grabungen im Osten Frankreichs”, berichtet Legendre. Dass dort Deutsche gearbeitet hatten, wurde allerdings verschwiegen.
Zu den ersten Prähistorikern, die sich in Deutschland mit dem brisanten Thema befasst haben, zählt Achim Leube. Der kürzlich emeritierte Professor hat sein fachgeschichtliches Archiv aber erst nach der Wende aufgebaut (viele Dokumente waren früher nicht zugänglich, zudem war Forschung zum Verhalten in der Diktatur auch in der DDR nicht beliebt). Leubes Dienstzimmer an der Humboldt-Universität liegt in den Nebenstraßen des Neuen Berlin, dort, wo das gelbliche Licht veralteter Straßenlaternen noch Fassaden im groben Rauhputz der DDR-Zeit beleuchtet. Mit dem Aufzug geht es hinunter, dann durch krankenhausähnliche Korridore, schließlich tut sich eine Stahltür auf: In zwei fensterlosen Zimmern mit Büromobiliar aus geretteten Ost- Beständen steht eine Reihe Aktenschränke, wohlverschlossen.
Leube sammelt darin vor allem Dokumente über den Einsatz deutscher Archäologen in Osteuropa: Ob in Polen, Weißrussland oder der Ukraine, anhand germanischer oder gotischer Funde hatten sie – wie im Westen – die Rechtfertigung für die deutschen Eroberungszüge zu liefern. Doch der rassistische Hintergrund des Ostkrieges verführte manche dazu, als „Herrenmenschen” aufzutreten: Die Prähistoriker Petersen und Paulsen zum Beispiel, beide mit SS-Rang, versuchten in Polen, die Intellektuellen aus Museen und Hochschulen hinauszudrängen und die wichtigen Fundstücke nach Berlin zu schaffen. Im Warthegau beteiligte sich der Prähistoriker Heinrich Butschkow daran, die einheimische Bevölkerung durch „Volksdeutsche” zu ersetzen. „Aber es waren nicht sehr viele”, betont Leube, der nichts so fürchtet wie eine pauschale Verurteilung des Fachs. Leubes Studien brachten auch Fälle von menschlichem Verständnis zutage. Dem in Prag stationierten Vorgeschichtler Lothar Zotz etwa widerfuhr, was damals jeder fürchtete: Nachdem er sich jahrelang sträubte, gegen einheimische Kollegen mit der verlangten Schärfe vorzugehen, wurde er zur Wehrmacht eingezogen.
Germanen nach der Stunde Null
Einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand bietet der soeben von Achim Leube und Morten Hegewisch veröffentlichte Band „Prähistorie und Nationalsozialismus”. Das Buch geht auf eine Tagung an der Humboldt-Universität zurück, auf der auch eine Reihe osteuropäischer Wissenschaftler Forschungen über die archäologische Ausbeutung ihrer Heimatländer unter der deutschen Besatzung vorstellte. Neben ihren Beiträgen finden sich Artikel namhafter deutscher Fachleute.
Der Band zeigt Fortschritte, neue Ansätze und offene Fragen in der Aufarbeitung der Fachgeschichte. Grundzüge prähistorischer Forschung und ihren Kontext im NS-(Wissenschafts-)System werden aber nur knapp erläutert. Dennoch kommen auch für den Laien aufschlussreiche Zusammenhänge zutage: So stellt der niedersächsische Landesarchäologe Henning Haßmann dar, wie prähistorische Themen zur Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen missbraucht wurden. Was Haßmann aus der einschlägigen Literatur der dreißiger und vierziger Jahre zitiert, mag nicht nur Zeitzeugen, sondern auch Jüngeren vertraut vorkommen: Manches Erdal-Sammelbild, mancher Jugendroman und viele der farbenfrohen, detailfreudigen Illustrationen kursierten bis weit in die Nachkriegszeit – da die untergründig vermittelte Ideologie nicht auffiel, wurde das Germanenbild weiterhin von nationalsozialistischen Mythen geprägt. Schade, dass gerade zu diesem Beitrag die Illustrationen fehlen.
Weithin unbekannt dürfte auch sein, in welchem Umfang wissenschaftliche Literatur aus Osteuropa geraubt worden ist. Dem bekannten Verbrechen des „Kunstraubs” stellt Anja Heuß, Expertin der Oberfinanzdirektion Berlin, daher den „Kulturraub” gegenüber: Mochte er weniger spektakulär sein, war er doch in der Menge offenbar weit bedeutender. Wissenschaftliche Schriften wurden buchstäblich „am laufenden Meter” nach Deutschland verschickt, aus Museumsbeständen (zumindest!) 550000 Objekte geraubt. Dass man auch 20000 bemalte Ostereier abtransportierte, scheint grotesk und passt doch ins Schema: Die Bemalung mit Hakenkreuzen sollte – wie so viele prähistorische Stücke – den Beweis liefern, dass „germanische” Motive von der Vorzeit bis in die Gegenwart kontinuierlich verwendet worden waren.
Die Beiträge des Bandes machen auch deutlich, dass die Bewertung der damaligen Fachkollegen im Detail durchaus unterschiedlich ausfällt. Achim Leube spricht wohl für alle, wenn er feststellt, dass es keinen Grund für „direkte Anschuldigungen” gegen Prähistoriker wegen der Beteiligung an Verbrechen gäbe. Insgesamt neigt Leube, wie offenbar die meisten Wissenschaftler aus der älteren Generation, zu einem zurückhaltenden Urteil. Das archäologische Beutegut sei wieder zurückgegeben worden, führt er an. Und „wie man in solche Situationen hineinkommt, wie man dann mitmacht oder stillschweigt”, hat er selbst erlebt. Aber er betont auch: Ihm sei kein Forscher untergekommen, der sich verweigert hätte. Durchgehend national gesinnt, erledigten sie unauffällig, was man ihnen auftrug. Mehr oder minder deutlich verfälschten sie ihre Wissenschaft für die propagandistische Rechtfertigung des NS-Systems.
MATTHIAS HENNIES
ACHIM LEUBE, MORTEN HEGEWISCH (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945. Synchron Wissenschaftsverlag, Heidelberg 2002. 674 Seiten, 64,80 Euro.
Germanenforschung ist 1938 in Mode: Der Putzmittelhersteller Erdal wirbt mit Sammelbildchen und einem Einklebealbum zur Vor- und Frühgeschichte.
Foto: Th. Zühmer / Rheinisches Landesmuseum
Trier
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Mit dem Panzer auf Germanensuche: Eine Ausstellung in Trier und ein Aufsatzband erhellen die Rolle der Prähistoriker im nationalsozialistischen Deutschland
Blau steht der Himmel über dem Bodensee, sanft schwappen Wellen gegen die Stege, aber dann setzt das Kreischen einer Motorsäge ein: Nein, eine Idylle sind die schilfgedeckten Pfahlbauten am Seeufer nicht. Museumsleiter Gunter Schöbel lässt im flachen Wasser drei neue Holzhäuser errichten, denn bisher erinnert das Pfahlbaudorf Unteruhldingen noch immer an das Bild der Vorzeit, das nationalsozialistische Ideologen gezeichnet haben – und so ist es auch beabsichtigt. Vor 80 Jahren wurden die ersten Pfahlbauten als Freilichtmuseum eröffnet, es folgten weitere Häuser, und nach 1933 wurde die gesamte Anlage innen wie außen so gestaltet, wie es den neuen Herren passte: „Es ist eine perfekte Inszenierung”, sagt Schöbel, indem er eine Tür aus grobbehauenen Balken öffnet, „sauber hängt das Kleid neben dem bronzezeitlichen Umhang an der Wand, und jeder, der reinkommt, muss sofort denken: Hatten’s die gut!”
Nationalsozialistische Funktionäre, allen voran Reichsbauernführer Darré und der vergangenheitsbesessene SS-Chef Himmler, hatten schnell erkannt, wie gut man Unteruhldingen für Propaganda nutzen konnte: Die überlegene Lebensweise des angeblich kulturprägenden „Nordischen Menschen” konnte hier anschaulich demonstriert werden. Heute lässt sich anhand des Museumsdorfes begreiflich machen, wie die archäologischen Erkenntnisse manipuliert wurden. In der Wasserburg am Seeufer etwa, einer Anzahl Pfahlbauten, umgeben von einer Palisade, festen Toren und Türmen: „Man hatte die Vorgabe der Wehrhaftigkeit, baute kurzerhand die Palisade aus der Bronzezeit um eine Siedlung aus der Steinzeit” – und vereinte zwei Epochen, die 3000 Jahre auseinander lagen.
Zu viel Machtgier schadet nur
Gunter Schöbel kam nicht darum herum, sich mit der Verfälschung der Pfahlbau-Rekonstruktionen auseinanderzusetzen, in seinem Arbeitszimmer residierte bis 1986 einer der führenden Archäologen der NS-Zeit: Hans Reinerth, ein exzellenter Prähistoriker, seit 1919 am Bodensee aktiv, wandelte sich 1931 zum bekennenden Nazi, erlangte eine Professur in Berlin und wurde von Alfred Rosenberg zum Leiter des „Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte” ernannt. Sein Vorhaben, das gesamte Fach im „Reichsbund” gleichzuschalten, scheiterte allerdings an seiner für viele Kollegen unerträglichen Machtgier. Dazu kamen die system-typischen Rivalitäten innerhalb der Reichsregierung: Himmler wandte sich gegen Rosenbergs „Reichsbund”. Er gründete in seiner Forschungsorganisation, dem „SS-Ahnenerbe”, eine Abteilung für Archäologie und bestellte Herbert Jankuhn, den angesehenen Ausgräber der Wikingerstadt Haithabu, zum Leiter. Viele Vor- und Frühgeschichtsforscher, die unter Reinerth nicht arbeiten mochten, traten dem „Ahnenerbe” bei, derselben Organisation, der auch Mengele und Hirt angehörten.
Archäologen waren wohl nicht direkt an Verbrechen beteiligt: „Wir haben bisher keinen Beleg gefunden, dass durch Reinerth ein Wissenschaftler in das KZ gekommen ist, und das trifft für alle zu, die wir in dieser Zeit kennen”, formuliert Gunter Schöbel vorsichtig – die dunklen Epochen der Fachgeschichte sind noch lange nicht aufgehellt. Eine offene Diskussion wird auch dadurch behindert, dass Schüler der Prähistoriker, die das rassistische Konzept des „Nordischen Menschen” begründen halfen, immer noch Einfluss haben.
Im alten Stadtkern von Metz, gleich bei der gotischen Kathedrale – die deutsche Kunsthistoriker 1940 übrigens der Rheinischen Romanik unterordnen wollten –, residiert der Archäologische Dienst für Lothringen. Das Gebäude hat Geschichte: Als hier Wehrmachtsstiefel auf das Kopfsteinpflaster knallten, saßen die Archäologen der Besatzer im selben Haus. „Und die sahen ihre Aufgabe offensichtlich darin”, erklärt Jean-Pierre Legendre in seinem kleinen Büro im zweiten Stock, „hier Spuren einer germanischen Bevölkerung zu finden.” Ausgrabungen als Legitimation der deutschen Expansionspolitik: Nur Gebiete, die germanische „Vorfahren” schon einmal besessen hatten, sollten heimgeholt werden ins Deutsche Reich, verkündeten Nazi-Funktionäre – und um zu beweisen, dass überall, wo deutsche Panzer auftauchten, schon Germanen gewesen waren, benutzten sie die Archäologen.
Legendre hat ihre Spuren in Elsass und Lothringen verfolgt. Aus dem, was in den Archiven zutage kam, konzipierte er gemeinsam mit Kollegen aus Straßburg im vergangenen Jahr eine Ausstellung, die nun im Rheinischen Landesmuseum Trier zu sehen ist. („Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus.” Di - Fr 9.30 - 17 Uhr, bis Ende Oktober auch Mo. Sa - So 10.30-17 Uhr. Bis zum 6. Januar 2003.) Die Ausstellung gibt Einblick in Mechanismen der nationalsozialistischen Propaganda und dokumentiert die Rolle deutscher Ausgräber in besetzten Nachbarländern – zum Beispiel auf Fotos vom frühmittelalterlichen Gräberfeld in Ennery bei Metz: Die Latten der Vermesser umgeben das Gelände, der Boden ist sorgsam freigeräumt, nur eine Reihe gut erhaltener Skelette ruht noch auf einem Sockel aus Erde. In einer Nahaufnahme dann zwei Grabungsarbeiter mit Kelle und Schaufel: Stolz deuten sie auf ein freigelegtes Gerippe. Der Friedhof von Ennery stammt aus dem 6. Jahrhundert, der Zeit der Merowinger, und die deutschen Forscher, die in der lothringischen Erde weisungsgemäß germanische Spuren fanden, gruben ihn vorbildlich aus: Schicht für Schicht legten sie die historischen Bodenniveaus frei, fotografierten jeden Fund, restaurierten jede Grabbeigabe. Die Grabungstechnik, die deutsche Überlegenheit demonstrieren sollte, war so fortschrittlich, dass sie lange Vorbild blieb: „Bis in die siebziger, achtziger Jahre galt Ennery als eine der großen Merowinger-Grabungen im Osten Frankreichs”, berichtet Legendre. Dass dort Deutsche gearbeitet hatten, wurde allerdings verschwiegen.
Zu den ersten Prähistorikern, die sich in Deutschland mit dem brisanten Thema befasst haben, zählt Achim Leube. Der kürzlich emeritierte Professor hat sein fachgeschichtliches Archiv aber erst nach der Wende aufgebaut (viele Dokumente waren früher nicht zugänglich, zudem war Forschung zum Verhalten in der Diktatur auch in der DDR nicht beliebt). Leubes Dienstzimmer an der Humboldt-Universität liegt in den Nebenstraßen des Neuen Berlin, dort, wo das gelbliche Licht veralteter Straßenlaternen noch Fassaden im groben Rauhputz der DDR-Zeit beleuchtet. Mit dem Aufzug geht es hinunter, dann durch krankenhausähnliche Korridore, schließlich tut sich eine Stahltür auf: In zwei fensterlosen Zimmern mit Büromobiliar aus geretteten Ost- Beständen steht eine Reihe Aktenschränke, wohlverschlossen.
Leube sammelt darin vor allem Dokumente über den Einsatz deutscher Archäologen in Osteuropa: Ob in Polen, Weißrussland oder der Ukraine, anhand germanischer oder gotischer Funde hatten sie – wie im Westen – die Rechtfertigung für die deutschen Eroberungszüge zu liefern. Doch der rassistische Hintergrund des Ostkrieges verführte manche dazu, als „Herrenmenschen” aufzutreten: Die Prähistoriker Petersen und Paulsen zum Beispiel, beide mit SS-Rang, versuchten in Polen, die Intellektuellen aus Museen und Hochschulen hinauszudrängen und die wichtigen Fundstücke nach Berlin zu schaffen. Im Warthegau beteiligte sich der Prähistoriker Heinrich Butschkow daran, die einheimische Bevölkerung durch „Volksdeutsche” zu ersetzen. „Aber es waren nicht sehr viele”, betont Leube, der nichts so fürchtet wie eine pauschale Verurteilung des Fachs. Leubes Studien brachten auch Fälle von menschlichem Verständnis zutage. Dem in Prag stationierten Vorgeschichtler Lothar Zotz etwa widerfuhr, was damals jeder fürchtete: Nachdem er sich jahrelang sträubte, gegen einheimische Kollegen mit der verlangten Schärfe vorzugehen, wurde er zur Wehrmacht eingezogen.
Germanen nach der Stunde Null
Einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand bietet der soeben von Achim Leube und Morten Hegewisch veröffentlichte Band „Prähistorie und Nationalsozialismus”. Das Buch geht auf eine Tagung an der Humboldt-Universität zurück, auf der auch eine Reihe osteuropäischer Wissenschaftler Forschungen über die archäologische Ausbeutung ihrer Heimatländer unter der deutschen Besatzung vorstellte. Neben ihren Beiträgen finden sich Artikel namhafter deutscher Fachleute.
Der Band zeigt Fortschritte, neue Ansätze und offene Fragen in der Aufarbeitung der Fachgeschichte. Grundzüge prähistorischer Forschung und ihren Kontext im NS-(Wissenschafts-)System werden aber nur knapp erläutert. Dennoch kommen auch für den Laien aufschlussreiche Zusammenhänge zutage: So stellt der niedersächsische Landesarchäologe Henning Haßmann dar, wie prähistorische Themen zur Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen missbraucht wurden. Was Haßmann aus der einschlägigen Literatur der dreißiger und vierziger Jahre zitiert, mag nicht nur Zeitzeugen, sondern auch Jüngeren vertraut vorkommen: Manches Erdal-Sammelbild, mancher Jugendroman und viele der farbenfrohen, detailfreudigen Illustrationen kursierten bis weit in die Nachkriegszeit – da die untergründig vermittelte Ideologie nicht auffiel, wurde das Germanenbild weiterhin von nationalsozialistischen Mythen geprägt. Schade, dass gerade zu diesem Beitrag die Illustrationen fehlen.
Weithin unbekannt dürfte auch sein, in welchem Umfang wissenschaftliche Literatur aus Osteuropa geraubt worden ist. Dem bekannten Verbrechen des „Kunstraubs” stellt Anja Heuß, Expertin der Oberfinanzdirektion Berlin, daher den „Kulturraub” gegenüber: Mochte er weniger spektakulär sein, war er doch in der Menge offenbar weit bedeutender. Wissenschaftliche Schriften wurden buchstäblich „am laufenden Meter” nach Deutschland verschickt, aus Museumsbeständen (zumindest!) 550000 Objekte geraubt. Dass man auch 20000 bemalte Ostereier abtransportierte, scheint grotesk und passt doch ins Schema: Die Bemalung mit Hakenkreuzen sollte – wie so viele prähistorische Stücke – den Beweis liefern, dass „germanische” Motive von der Vorzeit bis in die Gegenwart kontinuierlich verwendet worden waren.
Die Beiträge des Bandes machen auch deutlich, dass die Bewertung der damaligen Fachkollegen im Detail durchaus unterschiedlich ausfällt. Achim Leube spricht wohl für alle, wenn er feststellt, dass es keinen Grund für „direkte Anschuldigungen” gegen Prähistoriker wegen der Beteiligung an Verbrechen gäbe. Insgesamt neigt Leube, wie offenbar die meisten Wissenschaftler aus der älteren Generation, zu einem zurückhaltenden Urteil. Das archäologische Beutegut sei wieder zurückgegeben worden, führt er an. Und „wie man in solche Situationen hineinkommt, wie man dann mitmacht oder stillschweigt”, hat er selbst erlebt. Aber er betont auch: Ihm sei kein Forscher untergekommen, der sich verweigert hätte. Durchgehend national gesinnt, erledigten sie unauffällig, was man ihnen auftrug. Mehr oder minder deutlich verfälschten sie ihre Wissenschaft für die propagandistische Rechtfertigung des NS-Systems.
MATTHIAS HENNIES
ACHIM LEUBE, MORTEN HEGEWISCH (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945. Synchron Wissenschaftsverlag, Heidelberg 2002. 674 Seiten, 64,80 Euro.
Germanenforschung ist 1938 in Mode: Der Putzmittelhersteller Erdal wirbt mit Sammelbildchen und einem Einklebealbum zur Vor- und Frühgeschichte.
Foto: Th. Zühmer / Rheinisches Landesmuseum
Trier
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Band ist die schriftliche Version einer Tagung von deutschen und osteuropäischen Fachleuten an der Humboldt-Universität. Illustriert wird, in welchem Ausmaß die nationalsozialistische Ideologie die Vorgeschichte zu instrumentalisieren versuchten - und auch der Umfang, in dem sich die Wissenschaftler in weit gehendem nationalistischem Einverständnis dafür benutzen ließen. Die Wissenschaftler aus Osteuropa berichten von erstaunlichen Beutezügen der Nazis: Neben dem "Kunstraub" hat auch "Kulturraub" in großem Maßstab stattgefunden. So wurden wissenschaftliche Schriften ebenso wie mindestens 550.000 Objekte aus Museumsbeständen nach Deutschland verbracht. Besonders kurios: 20.000 bemalte Ostereier wurden gestohlen und in Deutschland mit Hakenkreuzen verziert, um die Kontinuität "germanischer" Symbole zu belegen. Der Rezensent Matthias Hennies konstatiert die deutliche Zurückhaltung des Herausgebers Achim Leube in der Verurteilung der damaligen Fachkollegen - dass sie mehr oder weniger bereitwillig mitwirkten an der "propagandistischen Rechtfertigung" der Nazi-Ideologie, will allerdings niemand bestreiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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