Prag, das sind nahezu 1000 Jahre reicher und bewegter Geschichte. Das sind der glanzvolle Karl IV. und der melancholische Alchimist Rudolf II., das sind italienische Archtitekten und holländische Musiker, Mozart, Kafka und der brave Soldat Schwejk. Doch Prag bedeutet im Lauf seiner Geschichte immer wieder auch Rebellion, kultureller Nidergang und blutiger Terror wie nach dem verhängnisvollen Tod Masaryks im Jahre 1937. In sieben höchst lesenswerten Kapiteln erzählt Peter Demetz vom Schicksal Prags, von seiner sagenhaften Gründerin Libussa und dem revolutionären Theologen Jan Hus bis hin zu Milan Kundera und Vaclav Havel. Kenntnisreich und mit leichter Hand geschrieben beschwört Peter Demetz Prag, den mythischen Ort in Mitteleuropa, in dem das Gold der Macht und des schöpferischen Glanzes, die Kaiser, Künstler und großen Gelehrten eines regsamen Volkes nicht unberührt erscheinen vom Schwarz des Leidens und vom Schweigen der Opfer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998Im Duft des Puders von Mozarts Perücke
König Ottokars Glück und Erbe: Peter Demetz schaut Prag unter den Scheitel und liebt es bis zur Sohle / Von Karl Schlögel
Bücher über Städte haben, wenn sie gelungen sind, etwas von den Städten an sich, um die es geht. Nikolai Anziferows "Seele Petersburgs" hat etwas von dem Provisorisch-Schwebenden der Stadt an der Newa. "Delirious New York" von Rem Koolhaas scheint die Dichte der New Yorker Parzellenstruktur abzubilden. Die Szenen in Carl Schorskes Wien-Buch werden zusammengehalten vom imperialen "Ring". Und Peter Demetz' Buch über Prag - was muß ein Prag-Buch an sich haben? Etwas von Fülle und Dichte? Von den Ablagerungen und aufeinandergetürmten Schichten der mehr als tausend Jahre alten mitteleuropäischen Metropole?
Das Bild der Stadt Prag ist immer wieder gemalt und übermalt worden, bis es unter einer dicken Schicht verschwand. Die Betrachter haben sich schon daran gewöhnt, den dunklen und düsteren Ton, in dem Ansichten von Prag gehalten sind, für das Original zu halten. Sie kennen die Sujets schon, bevor sie die Stadt betreten haben. Zum Bild der Praga Magica gehören die Karlsbrücke mit ihren Statuen, die engen, dunklen Gassen, der Judenfriedhof und die Gestalt des Rabbi Löw, Tycho Brahes astronomisches Labor, die Gärten des Waldstein-Palais und die Ouvertüre von Mozarts "Don Giovanni", der hier uraufgeführt wurde, und natürlich: Kafka, der als T-Shirt-Aufdruck durch die Gassen wandert.
Das magische Prag gibt es seit dem modernen Prag-Tourismus des neunzehnten Jahrhunderts. Und nun kommt jemand und macht sich an dem Bild zu schaffen. Er trägt Schicht für Schicht, Millimeter um Millimeter ab. Die Arbeit dauert Jahre. Dann ist es soweit. Das Gerüst wird abgebaut, der Vorhang weggezogen, und wir sehen ein Bild in so frisch leuchtenden Farben, daß wir sicher sind, wir sehen jetzt zum ersten Mal. "Das Historische der Stadt in allen Ehren", sagt Demetz, "aber zwei schmutzige Hinterhöfe sind noch nichts Magisches oder Mystisches." Wie weggefegt sind auf einmal die Gemeinplätze von der geheimnisvollen Stadt, die sich längst schon in den Köpfen der Tschechen selbst festgesetzt haben. Hinter dem Golem Gustav Meyrinks und Paul Wegners wird plötzlich eine andere Stadt sichtbar. "Ich warte, daß endlich einmal einer das Argument umkehrt und von Prag als der Stadt der Analytiker und der Rationalisten zu sprechen beginnt - mit einem Blick auf den pragmatischen Administrator Karl IV., die soziale Theologie der Hussiten, die naturwissenschaftlichen Interessen Rudolfs II., der den bedeutenden Astronomen seiner Epoche ein modernes Observatorium baute, die tschechischen Philologen, die die Geschichtsklitterungen entlarvten, den Logiker Bernard Bolzano, den Humanisten Augustin Smetana, den Soziologen Tomas G. Masaryk."
Einer Stadt wie Prag ist nur jemand wie Peter Demetz gewachsen. 1922 in Prag geboren, aufgewachsen am Petersplatz, als halber Jude und halber Goi, "der seinen Weg zwischen Sprachen und Nationen finden mußte", ein Leben lang - ob als Gestapohäftling, Zwangsarbeiter in einem Halbjudenlager, als Student der Karlsuniversität, die der kommunistischen Gleichschaltung entgegengeht - den Überzeugungen der Republik Masaryks verbunden. Demetz ging 1948 ins Ausland und lehrte bis zu seiner Emeritierung Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Yale University. Seine Beziehung zu Prag beschreibt er als Widerstreit von Gefühlen, von Liebe und Haß. Demetz, der 1989 zum ersten Mal wieder seine Heimatstadt besuchte, war vierzig Jahre abwesend. Das schärft den Blick. In der Bibliothek von Yale wuchs aber auch sein Prag weiter.
So kommt zusammen, was für ein solches Buch nötig ist: die Melancholie der Erinnerung, das geschärfte Auge des Davongekommenen, der frische Blick dessen, der aus der Fremde zurückkehrt. "Wenn ich morgens durch die Gassen gehe, und das Licht ist hell, fühle ich mich (fast) wie zu Hause, aber ein Augenblick genügt, ein Schatten über dem Pflaster, und alles bricht wieder zusammen, und ich weiß, das ist kein Ort mehr für mich. Ich kenne die Stadt und kenne sie nicht mehr. Sie hat fortbestanden, ich habe fortgelebt, aber anderswo." Es gibt keine Spur zurück zu den Deportierten, zu den von Luftminen Zerrissenen oder den Opfern des kommunistischen Justizterrors.
Demetz kennt die Viertel seiner Stadt, bevor sie von der Stadtautobahn durchschnitten wurden, und die Karlsbrücke noch aus der Vortouristenzeit, als sie noch menschenleer war. Er kennt die Libuse-Fanfare, die bei Staatsakten ertönt, aus der Oper. Der Hauptlesesaal der Nationalbibliothek, in dem Demetz als Student gesessen hatte, ist für ihn noch das Refektorium des von den Jesuiten umgewandelten Komplexes des Clementinums. Demetz ist einer von jenen in seinem Buch zitierten "gelehrten Kennern, die alles genau wissen wollen". Aber seine Gelehrsamkeit stammt noch aus einer Zeit, da sie nicht erbarmungslos sein mußte, um zu imponieren, und bei ihm finden sich Formulierungen von einer großen Poesie, die heute in akademischen Kreisen verpönt ist.
Hinter jedem zu Ende geschriebenen Satz gibt es eine Biegung, hinter der eine neue Überraschung wartet. In Parenthesen scheinen ganz neue Welten auf. Wer weiß schon, daß Descartes in der Schlacht am Weißen Berg kämpfte oder daß Havels Vater den mondänen Lucerna-Komplex am Wenzelsplatz besaß?
Jede Seite erinnert an die dichtbebaute Prager Altstadt. Jede Zeile hat eine Fassade, einen Keller, ein Gewölbe, ist mehrfach überbaut und immer wieder abgerissen worden. Jede Geschichte ethält noch eine Geschichte - mindestens eine. Demetz hätte mühelos auch ein doppelt oder dreimal so umfangreiches Buch schreiben können. Aber Demetz ist kein Flaneur, der um die Schauplätze herumgeht, sondern ein Schriftgelehrter, der in den Bibliotheken gräbt und in zeitlichen Querschnitten die Biographie der Stadt rekonstruiert. Seine Sicht ist nicht topographisch-stadträumlich, sondern zielt auf die Schichten - oder wie er sagt: Momente - in der Entwicklung Prags.
Demetz hat sich für sieben "Momente" entschieden. Diese Abhandlungen über Prag in der Zeit könnten auch selbständig für sich stehen. Inspiriert von Grillparzers Drama und Smetanas Oper, geht Demetz dem Mythos um die Fürstentochter Libusa, die sagenhafte Gründerin Prags, nach. Er pflichtet in seiner Analyse von Männerherrschaft und Gynäkokratie dem "scharfsichtig-mürrischen Wiener" durchaus bei, "der die bittere Modernität des alten Mythos von Prag enthüllte und ihn mit seinen bohrenden Fragen gegen alle anderen Stadtursprungsgeschichten abhob".
Unter Ottokar wurde aus der Handelsstation die Königsresidenz. Laut Demetz war er der "erste Prager König, der die arbeitende Bevölkerung und die Kaufleute (gleich welcher Nation) gegen den raubgierigen Adel (gleich welcher Gesellschaft) beschützte und der den urbanen Raum schuf, in dem sich Gemeinwesen von Tschechen, Deutschen, Juden und Italienern bildeten, Menschen, die jahrhundertelang friedlich zusammen- oder mindestens nebeneinander leben, arbeiten und schöpferisch tätig sein sollten".
Lange schon Bekanntes kann man nun auf neue Weise im Kapitel über Karl IV., die Gründung der Universität und der Judenstadt nachlesen. Dem Abschnitt über das hussitische Prag, das die nationale tschechische Geschichtsschreibung bis in unsere Tage hinein in Atem hält, merkt man an, daß Demetz den hohen zivilisatorischen Preis für Revolte und fundamentalistische Abgrenzung kennt. Gleichwohl hält er kategorisch fest: "Das hussitische Prag war in der Tat das moderne Laboratorium religiöser und sozialer Ideen und Haltungen, als das T. G. Masaryk es gesehen hat."
Und es war eine große Bühne europäischer Geschichte - wie Paris nach 1780 oder Petrograd in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts. Demetz erinnert daran, daß Prag nicht nur die Stadt der Tschechen, Deutschen und Juden war, sondern auch der Italiener: So berühmter wie Cola di Rienzo und Petrarca, aber auch der namenlosen Stukkateure, Schneider, Hutmacher, Köche, Zimmerleute, Steinmetze und Musikanten, die jemanden wie Josef Myslivecek, "il divino Boemo" hervorgebracht haben, und die den jungen Jaroslav Seifert veranlaßten, zu sagen, er spüre "den Duft des Puders von Mozarts Perücke noch über den Dächern Prags schweben".
Im neunzehnten Jahrhundert wurde Prag zum Zentrum des nationalen Erwachens und panslawistischer Mobilmachung. Der erste tschechische Intellektuelle in Gestalt Karel Havliceks betrat die Bühne. Das Buch schließt ab mit Masaryks Prag, das André Breton und Paul Eluard 1935 aller Realität zum Trotz "la capitale magique de la vieille Europe" genannt hatten.
"Mit der fortschreitenden Modernisierung Prags entstand eine internationale Literatur über die Stadt, in deren Texten ihr magischer Reiz, ihre fast mystische Qualität zelebriert wurden. Dieser Weg folgte einer literarischen Konvention: Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert waren die Friedhöfe Orte süßer Melancholie, an denen man über das hinfällige Leben und den erhabenen Tod meditierte, und der Prager Judenfriedhof vermochte auch viele von der christlichen Tradition geprägte Besucher zu faszinieren. Diffuse Gefühle von Fremdheit, Geschichte und spukhafter Bedeutung vermischten sich." Die Niederlegung des Judenviertels wurde kompensiert durch die Literarisierung des Mythos. "Zu der Zeit, als der größte Teil der alten Judenstadt und andrer alter Viertel von den Stadtplanern zerstört worden war, kristallisierte sich der Mythos von Prag als der phantastischen Stadt in immer deutlicheren Konturen heraus." Mit den Erinnerungen Demetz' an Masaryks Begräbnis 1937, als eine Million Menschen die Straßen Prags säumte und "das gedämpfte Geräusch der Pferdehufe" erklang, endet das Buch.
Es ist offensichtlich, daß in diesem Buch "Momente" fehlen, die aus anderer Perspektive von großer Wichtigkeit sind: Prag als Hauptstadt des Exils im zwanzigsten Jahrhundert, als Fluchtort von Russen und Deutschen, als das "russische Oxford" oder als Labor des Prager linguistischen Kreises. Vom Prager Klang, von der Musik Smetanas und Dvoráks, hören wir nichts. Zum Antlitz der Stadt, ihren Baumeistern und Architekten findet der Leser nur wenige, dafür aber brillante Ausführungen wie die zu Josef Gocárs und Josef Chochols kubistischen und funktionalistischen Bauten.
Der Untergang Prags als mitteleuropäischer Metropole - 1938, auch 1948 und noch einmal 1968 - erscheint nur am Rande, also im Vorwort und im Postskriptum. Dort wird aber auch deutlich, daß nicht nur der Wille, die Stadt vor der Verkitschung durch ihre Liebhaber zu retten, ein starker Kraftquell für dieses Buch gewesen ist, sondern auch der Haß auf ihre Zerstörer. Dort finden sich darüber hinaus Beobachtungen von großer soziologischer Tiefenschärfe, etwa die über die Auflösung der Prager Kaffeehaus-Subkultur zugunsten der sozialistischen Wochenend-Chatas; oder der Verweis auf den singenden Tonfall, "der früher das Idiom der Vorstädte gewesen war und nun, nach dem Dahingehen der alten Bourgeoisie, ins Innere der Städte vorgedrungen war" und nur noch von den alten Frauen, die als Pförtnerinnen Dienst taten, gesprochen wird; oder die Erinnerung an den Augenblick 1989 droben auf der Burg, da die Polizisten sich nicht mehr trauten, durchzugreifen.
Zwischen dieser von Demetz beobachteten inneren Hemmung und den enthemmten Schlägern des Jahres 1948 liegt ein Menschenalter - es ist das erste Mal, daß der Heimkehrer seine Tränen nicht zurückhalten kann. Der Leser würde sich mehr solcher freier Reflexionen wünschen. Peter Demetz versagt sie sich wahrscheinlich aus einem Sinn für Proportionen. Doch sie sind der Keim eines neuen und anderen, nicht minder faszinierenden Buches.
Peter Demetz: "Prag in Schwarz und Gold". Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt. Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka. Piper Verlag, München 1998. 610 S., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
König Ottokars Glück und Erbe: Peter Demetz schaut Prag unter den Scheitel und liebt es bis zur Sohle / Von Karl Schlögel
Bücher über Städte haben, wenn sie gelungen sind, etwas von den Städten an sich, um die es geht. Nikolai Anziferows "Seele Petersburgs" hat etwas von dem Provisorisch-Schwebenden der Stadt an der Newa. "Delirious New York" von Rem Koolhaas scheint die Dichte der New Yorker Parzellenstruktur abzubilden. Die Szenen in Carl Schorskes Wien-Buch werden zusammengehalten vom imperialen "Ring". Und Peter Demetz' Buch über Prag - was muß ein Prag-Buch an sich haben? Etwas von Fülle und Dichte? Von den Ablagerungen und aufeinandergetürmten Schichten der mehr als tausend Jahre alten mitteleuropäischen Metropole?
Das Bild der Stadt Prag ist immer wieder gemalt und übermalt worden, bis es unter einer dicken Schicht verschwand. Die Betrachter haben sich schon daran gewöhnt, den dunklen und düsteren Ton, in dem Ansichten von Prag gehalten sind, für das Original zu halten. Sie kennen die Sujets schon, bevor sie die Stadt betreten haben. Zum Bild der Praga Magica gehören die Karlsbrücke mit ihren Statuen, die engen, dunklen Gassen, der Judenfriedhof und die Gestalt des Rabbi Löw, Tycho Brahes astronomisches Labor, die Gärten des Waldstein-Palais und die Ouvertüre von Mozarts "Don Giovanni", der hier uraufgeführt wurde, und natürlich: Kafka, der als T-Shirt-Aufdruck durch die Gassen wandert.
Das magische Prag gibt es seit dem modernen Prag-Tourismus des neunzehnten Jahrhunderts. Und nun kommt jemand und macht sich an dem Bild zu schaffen. Er trägt Schicht für Schicht, Millimeter um Millimeter ab. Die Arbeit dauert Jahre. Dann ist es soweit. Das Gerüst wird abgebaut, der Vorhang weggezogen, und wir sehen ein Bild in so frisch leuchtenden Farben, daß wir sicher sind, wir sehen jetzt zum ersten Mal. "Das Historische der Stadt in allen Ehren", sagt Demetz, "aber zwei schmutzige Hinterhöfe sind noch nichts Magisches oder Mystisches." Wie weggefegt sind auf einmal die Gemeinplätze von der geheimnisvollen Stadt, die sich längst schon in den Köpfen der Tschechen selbst festgesetzt haben. Hinter dem Golem Gustav Meyrinks und Paul Wegners wird plötzlich eine andere Stadt sichtbar. "Ich warte, daß endlich einmal einer das Argument umkehrt und von Prag als der Stadt der Analytiker und der Rationalisten zu sprechen beginnt - mit einem Blick auf den pragmatischen Administrator Karl IV., die soziale Theologie der Hussiten, die naturwissenschaftlichen Interessen Rudolfs II., der den bedeutenden Astronomen seiner Epoche ein modernes Observatorium baute, die tschechischen Philologen, die die Geschichtsklitterungen entlarvten, den Logiker Bernard Bolzano, den Humanisten Augustin Smetana, den Soziologen Tomas G. Masaryk."
Einer Stadt wie Prag ist nur jemand wie Peter Demetz gewachsen. 1922 in Prag geboren, aufgewachsen am Petersplatz, als halber Jude und halber Goi, "der seinen Weg zwischen Sprachen und Nationen finden mußte", ein Leben lang - ob als Gestapohäftling, Zwangsarbeiter in einem Halbjudenlager, als Student der Karlsuniversität, die der kommunistischen Gleichschaltung entgegengeht - den Überzeugungen der Republik Masaryks verbunden. Demetz ging 1948 ins Ausland und lehrte bis zu seiner Emeritierung Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Yale University. Seine Beziehung zu Prag beschreibt er als Widerstreit von Gefühlen, von Liebe und Haß. Demetz, der 1989 zum ersten Mal wieder seine Heimatstadt besuchte, war vierzig Jahre abwesend. Das schärft den Blick. In der Bibliothek von Yale wuchs aber auch sein Prag weiter.
So kommt zusammen, was für ein solches Buch nötig ist: die Melancholie der Erinnerung, das geschärfte Auge des Davongekommenen, der frische Blick dessen, der aus der Fremde zurückkehrt. "Wenn ich morgens durch die Gassen gehe, und das Licht ist hell, fühle ich mich (fast) wie zu Hause, aber ein Augenblick genügt, ein Schatten über dem Pflaster, und alles bricht wieder zusammen, und ich weiß, das ist kein Ort mehr für mich. Ich kenne die Stadt und kenne sie nicht mehr. Sie hat fortbestanden, ich habe fortgelebt, aber anderswo." Es gibt keine Spur zurück zu den Deportierten, zu den von Luftminen Zerrissenen oder den Opfern des kommunistischen Justizterrors.
Demetz kennt die Viertel seiner Stadt, bevor sie von der Stadtautobahn durchschnitten wurden, und die Karlsbrücke noch aus der Vortouristenzeit, als sie noch menschenleer war. Er kennt die Libuse-Fanfare, die bei Staatsakten ertönt, aus der Oper. Der Hauptlesesaal der Nationalbibliothek, in dem Demetz als Student gesessen hatte, ist für ihn noch das Refektorium des von den Jesuiten umgewandelten Komplexes des Clementinums. Demetz ist einer von jenen in seinem Buch zitierten "gelehrten Kennern, die alles genau wissen wollen". Aber seine Gelehrsamkeit stammt noch aus einer Zeit, da sie nicht erbarmungslos sein mußte, um zu imponieren, und bei ihm finden sich Formulierungen von einer großen Poesie, die heute in akademischen Kreisen verpönt ist.
Hinter jedem zu Ende geschriebenen Satz gibt es eine Biegung, hinter der eine neue Überraschung wartet. In Parenthesen scheinen ganz neue Welten auf. Wer weiß schon, daß Descartes in der Schlacht am Weißen Berg kämpfte oder daß Havels Vater den mondänen Lucerna-Komplex am Wenzelsplatz besaß?
Jede Seite erinnert an die dichtbebaute Prager Altstadt. Jede Zeile hat eine Fassade, einen Keller, ein Gewölbe, ist mehrfach überbaut und immer wieder abgerissen worden. Jede Geschichte ethält noch eine Geschichte - mindestens eine. Demetz hätte mühelos auch ein doppelt oder dreimal so umfangreiches Buch schreiben können. Aber Demetz ist kein Flaneur, der um die Schauplätze herumgeht, sondern ein Schriftgelehrter, der in den Bibliotheken gräbt und in zeitlichen Querschnitten die Biographie der Stadt rekonstruiert. Seine Sicht ist nicht topographisch-stadträumlich, sondern zielt auf die Schichten - oder wie er sagt: Momente - in der Entwicklung Prags.
Demetz hat sich für sieben "Momente" entschieden. Diese Abhandlungen über Prag in der Zeit könnten auch selbständig für sich stehen. Inspiriert von Grillparzers Drama und Smetanas Oper, geht Demetz dem Mythos um die Fürstentochter Libusa, die sagenhafte Gründerin Prags, nach. Er pflichtet in seiner Analyse von Männerherrschaft und Gynäkokratie dem "scharfsichtig-mürrischen Wiener" durchaus bei, "der die bittere Modernität des alten Mythos von Prag enthüllte und ihn mit seinen bohrenden Fragen gegen alle anderen Stadtursprungsgeschichten abhob".
Unter Ottokar wurde aus der Handelsstation die Königsresidenz. Laut Demetz war er der "erste Prager König, der die arbeitende Bevölkerung und die Kaufleute (gleich welcher Nation) gegen den raubgierigen Adel (gleich welcher Gesellschaft) beschützte und der den urbanen Raum schuf, in dem sich Gemeinwesen von Tschechen, Deutschen, Juden und Italienern bildeten, Menschen, die jahrhundertelang friedlich zusammen- oder mindestens nebeneinander leben, arbeiten und schöpferisch tätig sein sollten".
Lange schon Bekanntes kann man nun auf neue Weise im Kapitel über Karl IV., die Gründung der Universität und der Judenstadt nachlesen. Dem Abschnitt über das hussitische Prag, das die nationale tschechische Geschichtsschreibung bis in unsere Tage hinein in Atem hält, merkt man an, daß Demetz den hohen zivilisatorischen Preis für Revolte und fundamentalistische Abgrenzung kennt. Gleichwohl hält er kategorisch fest: "Das hussitische Prag war in der Tat das moderne Laboratorium religiöser und sozialer Ideen und Haltungen, als das T. G. Masaryk es gesehen hat."
Und es war eine große Bühne europäischer Geschichte - wie Paris nach 1780 oder Petrograd in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts. Demetz erinnert daran, daß Prag nicht nur die Stadt der Tschechen, Deutschen und Juden war, sondern auch der Italiener: So berühmter wie Cola di Rienzo und Petrarca, aber auch der namenlosen Stukkateure, Schneider, Hutmacher, Köche, Zimmerleute, Steinmetze und Musikanten, die jemanden wie Josef Myslivecek, "il divino Boemo" hervorgebracht haben, und die den jungen Jaroslav Seifert veranlaßten, zu sagen, er spüre "den Duft des Puders von Mozarts Perücke noch über den Dächern Prags schweben".
Im neunzehnten Jahrhundert wurde Prag zum Zentrum des nationalen Erwachens und panslawistischer Mobilmachung. Der erste tschechische Intellektuelle in Gestalt Karel Havliceks betrat die Bühne. Das Buch schließt ab mit Masaryks Prag, das André Breton und Paul Eluard 1935 aller Realität zum Trotz "la capitale magique de la vieille Europe" genannt hatten.
"Mit der fortschreitenden Modernisierung Prags entstand eine internationale Literatur über die Stadt, in deren Texten ihr magischer Reiz, ihre fast mystische Qualität zelebriert wurden. Dieser Weg folgte einer literarischen Konvention: Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert waren die Friedhöfe Orte süßer Melancholie, an denen man über das hinfällige Leben und den erhabenen Tod meditierte, und der Prager Judenfriedhof vermochte auch viele von der christlichen Tradition geprägte Besucher zu faszinieren. Diffuse Gefühle von Fremdheit, Geschichte und spukhafter Bedeutung vermischten sich." Die Niederlegung des Judenviertels wurde kompensiert durch die Literarisierung des Mythos. "Zu der Zeit, als der größte Teil der alten Judenstadt und andrer alter Viertel von den Stadtplanern zerstört worden war, kristallisierte sich der Mythos von Prag als der phantastischen Stadt in immer deutlicheren Konturen heraus." Mit den Erinnerungen Demetz' an Masaryks Begräbnis 1937, als eine Million Menschen die Straßen Prags säumte und "das gedämpfte Geräusch der Pferdehufe" erklang, endet das Buch.
Es ist offensichtlich, daß in diesem Buch "Momente" fehlen, die aus anderer Perspektive von großer Wichtigkeit sind: Prag als Hauptstadt des Exils im zwanzigsten Jahrhundert, als Fluchtort von Russen und Deutschen, als das "russische Oxford" oder als Labor des Prager linguistischen Kreises. Vom Prager Klang, von der Musik Smetanas und Dvoráks, hören wir nichts. Zum Antlitz der Stadt, ihren Baumeistern und Architekten findet der Leser nur wenige, dafür aber brillante Ausführungen wie die zu Josef Gocárs und Josef Chochols kubistischen und funktionalistischen Bauten.
Der Untergang Prags als mitteleuropäischer Metropole - 1938, auch 1948 und noch einmal 1968 - erscheint nur am Rande, also im Vorwort und im Postskriptum. Dort wird aber auch deutlich, daß nicht nur der Wille, die Stadt vor der Verkitschung durch ihre Liebhaber zu retten, ein starker Kraftquell für dieses Buch gewesen ist, sondern auch der Haß auf ihre Zerstörer. Dort finden sich darüber hinaus Beobachtungen von großer soziologischer Tiefenschärfe, etwa die über die Auflösung der Prager Kaffeehaus-Subkultur zugunsten der sozialistischen Wochenend-Chatas; oder der Verweis auf den singenden Tonfall, "der früher das Idiom der Vorstädte gewesen war und nun, nach dem Dahingehen der alten Bourgeoisie, ins Innere der Städte vorgedrungen war" und nur noch von den alten Frauen, die als Pförtnerinnen Dienst taten, gesprochen wird; oder die Erinnerung an den Augenblick 1989 droben auf der Burg, da die Polizisten sich nicht mehr trauten, durchzugreifen.
Zwischen dieser von Demetz beobachteten inneren Hemmung und den enthemmten Schlägern des Jahres 1948 liegt ein Menschenalter - es ist das erste Mal, daß der Heimkehrer seine Tränen nicht zurückhalten kann. Der Leser würde sich mehr solcher freier Reflexionen wünschen. Peter Demetz versagt sie sich wahrscheinlich aus einem Sinn für Proportionen. Doch sie sind der Keim eines neuen und anderen, nicht minder faszinierenden Buches.
Peter Demetz: "Prag in Schwarz und Gold". Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt. Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka. Piper Verlag, München 1998. 610 S., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main