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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2008

Deutschenhass als Bindeglied
Das "Protektorat" und der tschechische Nationalismus

In einer Deutsch-Tschechischen Erklärung, die im Dezember 1996 vereinbart und im Januar 1997 unterzeichnet wurde, sicherten sich die Regierungen der beiden Staaten zu, mit den Wunden, die sich Deutsche und Tschechen im 20. Jahrhundert geschlagen haben, behutsam umzugehen. Die schlimme Vergangenheit sollte als Belastung der friedlichen Gegenwart und künftigen Freundschaft ausgeschaltet werden. Die offiziellen Beziehungen sind mittlerweile gut, die Position Tschechiens in der EU wird von Deutschland nicht angefochten, der Wirtschaftsverkehr nimmt zu, und auf kulturell-wissenschaftlichem Felde gibt es mittlerweile - wie schon einmal in den Jahren vor 1968 - Zusammenarbeit selbst zwischen tschechischen und deutschen Zeitgeschichtsforschern. Dennoch kommt es nicht selten zu Ausbrüchen - auch wichtiger Politiker -, die zeigen, dass die Annäherung noch nicht sehr tief greift, die Wunden noch keineswegs verheilt sind.

Nach wie vor wird den Sudetendeutschen, und zwar oft und mit unverminderter Bitterkeit, vorgeworfen, 1938 an der Zerstörung der Ersten Tschechoslowakischen Republik mitgewirkt, ja Hitlers Erscheinen auf dem Prager Hradschin eigentlich erst ermöglicht zu haben. Aus solcher Anklage und aus zorniger Kritik an der drückenden und auch mit verbrecherischen Aktionen nicht knausernden deutschen Herrschaft im "Protektorat Böhmen und Mähren" ist dann auch heutzutage nur allzu häufig die Folgerung herauszuhören, mithin sei die Austreibung der Sudetendeutschen ein alternativloser politischer Akt, die während des Vollzugs zu verzeichnende Unzahl grausamer Handlungen unvermeidlich und irgendwie entschuldbar gewesen. Umgekehrt sehen sich viele Sudetendeutsche - und viele ihrer Nachkommen - als gänzlich unschuldige Opfer der Vertreibung, für sie das ungeheuerlichste politische Verbrechen, das im 20. Jahrhundert begangen wurde. Es existieren also auf beiden Seiten noch immer Geschichtsbilder, in denen Wahres und Falsches grob gemischt ist.

In solcher Situation könnte ein Buch befreiend wirken, das nicht anklagen, sondern erklären will. Chad Bryant von der University of North Carolina in Chapel Hill findet - auf breitestmöglicher Quellenbasis präzise analysierend - zu dem bislang wohl am tiefsten dringenden Verständnis der Entwicklung, die das deutsch-tschechische Verhältnis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genommen hat. Dabei will er keine umfassende Geschichte jener Entwicklung bieten, sondern etwas bescheidener nur die Wirkung der deutschen Herrschaft in Böhmen und Mähren auf den tschechischen Nationalismus darstellen. Wer so die Wahrheit sucht, muss naturgemäß liebgewordene Legenden beider Seiten zerstören. Zum Beispiel werden die Torheiten und der inhärente nationale Egoismus der Prager Nationalitätenpolitik nach 1918 deutlich, was wiederum die Vorstellung korrigiert, die Erste Tschechoslowakische Republik sei eine funktionierende Demokratie gewesen; die funktionierende Demokratie war auf die tschechische Bevölkerung beschränkt, während die ethnischen Minderheiten trotz freier persönlicher und politischer Existenz zu permanenter Einflusslosigkeit verurteilt blieben.

So wird immerhin begreiflicher, wie die Sudetendeutschen dazu kamen, im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker 1937/38 auf ihr Selbstbestimmungsrecht völlig zu verzichten, indem sie für ein totalitär gewordenes Deutschland optierten und damit Hitlers Expansionspolitik in der Tat erheblich erleichterten. Auf der anderen Seite wird der unter Sudetendeutschen häufigen Vorstellung der Garaus gemacht, der Deutschenhasser Edvard Benes habe bereits 1939 die Vertreibung der Sudetendeutschen als politisches Ziel verfolgt. Tatsächlich wurde Benes, der noch jahrelang an einen mit territorialem Austausch verbundenen partiellen Bevölkerungstransfer glaubte, erst in der zweiten Kriegshälfte unter dem Druck einheimischer Widerstandsgruppen und nicht zuletzt der Sowjetunion zum Apostel totaler Vertreibung. In diesem Zusammenhang wandelte er sich selber von einem humanistisch geprägten Politiker zu einem Anhänger auch innertschechischer totalitärer Ordnungsprinzipien. Ohne eine solche Wandlung, die viele seiner Landsleute ebenfalls vollzogen, war die Politik der "Benes-Dekrete" nicht machbar, und da sich beides gegenseitig bedingte, ist es erlaubt, in der tschechischen Verhärtung in der sudetendeutschen Frage einen der Faktoren bei der dann lange währenden Sowjetisierung der Tschechoslowakei zu sehen.

Ebenso spannend und überzeugend vermag Bryant seine Hauptthese zu entwickeln, dass es vor allem die deutsche Politik im "Protektorat Böhmen und Mähren" war, die einen integralen tschechischen Nationalismus erzeugte, der sich nach dem Ende der Besatzungsherrschaft in einem kollektiven Ausbruch gegen die bisherigen Herren entladen musste. Ironischerweise war es die Abkehr der Deutschen von den weitreichenden Austreibungsplänen der Jahre 1939 und 1940, die diese Konsequenz hatte. Unter den Zwängen des Krieges verschob sich nämlich der Schwerpunkt der deutschen Politik von Vertreibung zu Germanisierung - und Germanisierung hieß in der Praxis zunehmende Ächtung und Erstickung alles Tschechischen. Dass ein solcher Versuch als Gegenreaktion Hass auf alle Deutschen und alles Deutsche weckte, liegt auf der Hand. 1945 hatte der Hass eine Intensität erreicht, dass er zum Bindeglied aller Tschechen geworden war, ja, wie Bryant zeigt, zum Wesenskern des tschechischen Nationalbewusstseins: Deutschenhass als identitätsstiftendes Element. Bryant erklärt das, doch ist er weit davon entfernt, die Erklärung als Absolution zu verstehen. Auch verschweigt er keineswegs die zahllosen Brutalitäten, Grausamkeiten und Morde, die während der Vertreibung geschehen sind.

Nachdrücklich sagt er, dass sich in Deutschenhass und Vertreibung durchaus auch ein Gefühl der Scham äußerte, der Scham darüber, dass es in Böhmen und Mähren von 1939 bis 1945 nahezu keinen aktiven Widerstand gegeben hat. Von größerer Bedeutung ist aber, dass sein Skalpell die entscheidenden Linien des Geschehens freilegt und beiden Seiten sichtbar macht. Dem wichtigen Buch ist eine baldige Übersetzung sowohl ins Deutsche wie ins Tschechische zu wünschen.

HERMANN GRAML

Chad Bryant: Prague in Black. Nazi Rule and Czech Nationalism. Harvard University Press, Cambridge 2007. 378 S., 51,17 [Euro].

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