Pierre Bourdieu umreißt im vorliegenden Band seine theoretischen Grundannahmen, die zugleich auch immer aus der Praxis des konkreten Forschungsprozesses erwachsende und sich an ihr zu bewährende Prinzipien sind. Bei der Analyse u. a. des sozialen und des symbolischen Raums, der Soziologie des Kunstwerks, der Staatsbürokratie und in der Diskussion mit den Positionen »strukturalistischer« Philosophen, mit den Ansätzen von Strawson, Austin, Wittgenstein und Kripke wie klassischer Philosophen, erweist sich Pierre Bourdieu einmal mehr als ein »Philosoph wider Willen«, der wesentliche philosophische Probleme nicht nur neu formuliert, sondern sie auch einer neuartigen Lösung zuführt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.1998Ach so, er ist Professor, das ist etwas anderes
Ganz Frankreich ist in Beamtenhand, nur der Soziologe ist frei: Was Pierre Bourdieu alles besser weiß
Eine Kurzgeschichte der Handlungstheorie läßt sich so erzählen: Am Anfang war der gute Rat noch billig. Als Ethik versuchte die Philosophie den Handelnden mitzuteilen, wie sie es besser machen können. Deshalb beschrieb sie das Wesen des Handelns stets in Begriffen, die sich Akteure und Aktricen selbst zu eigen machen sollten: Tugend, Pflicht, Rationalität. Theoretische Einsicht und praktische Möglichkeit sollten konvergieren, wahre Erkenntnis und gute Tat dasselbe sein.
Dann aber wurde die Wissenschaft hintersinnig. Ihr fielen Ursachen im Rücken der Akteure auf. In Wahrheit sei alles Handeln von ökonomischen oder biologischen Triebfedern bestimmt, vom Klassenstandpunkt, vom Willen zur Macht, vom Über-und vom Unter-Ich. Die Motive, die die Handelnden selbst für ihr Tun angaben, erschienen demgegenüber als Formen des gepflegten Selbstbetrugs: Sublimationen, Ideologien, Rationalisierungen.
Jetzt wurde guter Rat teuer. Denn die verborgenen Ursachen ließen sich nicht mehr als Motive empfehlen. Nur als verborgene seien sie wirkungsmächtig. Wer wirklich erkennen würde, was er tut, verlöre den Mut oder die Dummheit, es zu tun. In der Folge laborierten die Handlungstheorien daran, daß sie es nun zwar immer noch besser wußten als die Handelnden. Aber dieses Wissen nützte nur noch der Theorie, nicht mehr dem Handeln. Der Sprung in die "Praxis", der dieses Dilemma von Marx und Nietzsche bis zu Freud und Heidegger lösen sollte, war dann zumeist noch kostspieliger als der gute Rat.
Die Soziologie ist eine Spätform dieses Leidens am Besserwissen. Niemand beweist das derzeit eindrucksvoller als Pierre Bourdieu. Denn niemand erneuert so energisch wie er den decouvrierenden Erkenntnisstil des neunzehnten Jahrhunderts. Hinter allem Handeln steckt bei ihm das Interesse an sozialer Selbstbehauptung. Die Handelnden sind, was sie sind, indem sie sich von anderen unterscheiden und miteinander auf engem Raum um soziale Positionen rivalisieren. Ihr Streit betrifft knappe Kapitalien, Lebensstile und symbolische Güter. Zur Beschreibung dieses sozialen Dauerkonflikts löst Bourdieu Begriffe wie "Kapital", "Güter", "Investition" und "Profit" aus ihrem wirtschaftlichen Kontext. Bei ihm gibt es bekanntlich kulturelles und politisches, juristisches und symbolisches Kapital. Und es gibt "Wechselkurse" zwischen diesen Besitztümern, die durch weitere Machtkämpfe bestimmt werden. Offen bleibt, auf welchen Banken die Gewinne des Sozialgerangels eingezahlt werden. Bourdieu aber vermag durch diese Wortwahl "kapitalistische" Motive hinter jeglicher Aktion aufzustöbern, ohne sich dem Vorwurf des Ökonomismus auszusetzen. Er entwirft eine Soziologie des "literarischen Feldes", auf dem um "Anerkennungskapital" in Hoch- und Tiefkultur gestritten wird. Er beschreibt, wie es Familien gelingt, "kulturelles Kapital" an ihre Nachkommen zu vererben. Das Bildungssystem dient solchen Strategien. Recht und Bürokratie wiederum erlauben den Beamten, "Verallgemeinerungsprofite" einzustreichen. Will sagen: sie stellen ihre Eigeninteressen zurück, um sie unterm Schirm des Gemeinwohls dann desto leichter durchzusetzen. In ähnlichem Stil wird erklärt, warum Bischöfe lachen, wenn sie nach ihrem Einkommen gefragt werden. Nicht, weil es das letzte wäre, woran sie denken. Sondern weil auf sozialen Feldern wie dem der Religion ein Tabu über berechnendes Verhalten verhängt ist. Aber, so weiß Bourdieu, unbewußt rechnen sie doch.
Man muß solche Beschreibungen nicht bestreiten. Vielleicht kann man es gar nicht. Sein argwöhnischer Blick auf die Gesellschaft eröffnet Bourdieu eine Fülle lesenswerter Perspektiven auf die verwickelten Machiavellismen der Moderne. Aber was er da sieht, hält er für das soziale Ganze. Die Religionssoziologie schrumpft ihm so zu einer Theorie der Kirche und ihrer Ämter, die Sozilogie des Rechts zu einer Berufssoziologie der Juristen. Der Staat, das sind die Beamten. Die Kunst, das ist das Karrieregerangel der Artisten. Wenn André Breton einem poetischen Rivalen den Arm bricht, sieht Bourdieu seine Literatursoziologie bestätigt. Um die Dauerkonflikte, die er überall vermutet, mit Personal zu versorgen, werden alle möglichen Berufstypen als "Stand" oder "Korporation" bezeichnet, so als handele es sich um interessenhomogene und handlungsfähige Gruppen. All das aber, was an Kunst, Religion, Recht oder Erziehung nicht auf solche Gruppen, ihre verdeckten Interessen und ihre Positionen im "sozialen Raum" zurückgerechnet werden kann, fällt unter den Tisch. Die Dichtungen selbst, die Gebete, Verträge oder Schulstunden - sie sind für Bourdieu nur die Nebenfolgen des Handelns interessierter Kreise.
Der klassische Schwachpunkt dieser Decouvriertechnik wird deutlich in Bourdieus äußerst lesenswerter Skizze einer Geschichte der Staatsentstehung. An deren Ende befindet sich ganz Frankreich in der Hand seines "Beamtenadels". Ganz Frankreich? Der Soziologe nicht. Er ist zwar Beamter. Er muß es sogar sein. Denn nur der Staat verschafft ihm "Unabhängigkeit vom Druck der gesellschaftlichen Nachfrage". Aber anders als andere Beamte, vermag er diese Freiheit gegen den Staat zu nutzen. Und das sei gut so. Denn nur die Soziologie mit ihren "rationalen Erkenntnisinstrumenten" sei in der Lage, all die Mechanismen der "Herrschaft" aufzudecken.
So bietet der Band eine vorzügliche Einführung in eine Soziologie, die das Besserwissen in ein Berufsethos überführt hat. Pierre Bourdieu löst das Dilemma der modernen Handlungstheorie nicht wie Marx durch das Phantasma des Klassenkampfs. Er rät nicht, wie Freud, zur Gesundung der Akteure. Und er straft auch nicht, wie Heidegger, alle "Uneigentlichen" mit uniformierter Verachtung. Statt dessen wirft er sich in den Putz einer mißmutigen Aufklärung und stellt alles Handeln unter den Verdacht, "irgend etwas" im Schilde zu führen. Aus der Theorie des Handelns wird so eine Logik der Machenschaften. Von ihr behauptet Bourdieu, sie sei die Soziologie. Nur der Verdacht gegen diesen Verdacht, der ist ihm offenkundig noch nicht gekommen. JÜRGEN KAUBE
Pierre Bourdieu: "Praktische Vernunft". Zur Theorie des Handelns. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 225 S., br., 19,80 DM.
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Ganz Frankreich ist in Beamtenhand, nur der Soziologe ist frei: Was Pierre Bourdieu alles besser weiß
Eine Kurzgeschichte der Handlungstheorie läßt sich so erzählen: Am Anfang war der gute Rat noch billig. Als Ethik versuchte die Philosophie den Handelnden mitzuteilen, wie sie es besser machen können. Deshalb beschrieb sie das Wesen des Handelns stets in Begriffen, die sich Akteure und Aktricen selbst zu eigen machen sollten: Tugend, Pflicht, Rationalität. Theoretische Einsicht und praktische Möglichkeit sollten konvergieren, wahre Erkenntnis und gute Tat dasselbe sein.
Dann aber wurde die Wissenschaft hintersinnig. Ihr fielen Ursachen im Rücken der Akteure auf. In Wahrheit sei alles Handeln von ökonomischen oder biologischen Triebfedern bestimmt, vom Klassenstandpunkt, vom Willen zur Macht, vom Über-und vom Unter-Ich. Die Motive, die die Handelnden selbst für ihr Tun angaben, erschienen demgegenüber als Formen des gepflegten Selbstbetrugs: Sublimationen, Ideologien, Rationalisierungen.
Jetzt wurde guter Rat teuer. Denn die verborgenen Ursachen ließen sich nicht mehr als Motive empfehlen. Nur als verborgene seien sie wirkungsmächtig. Wer wirklich erkennen würde, was er tut, verlöre den Mut oder die Dummheit, es zu tun. In der Folge laborierten die Handlungstheorien daran, daß sie es nun zwar immer noch besser wußten als die Handelnden. Aber dieses Wissen nützte nur noch der Theorie, nicht mehr dem Handeln. Der Sprung in die "Praxis", der dieses Dilemma von Marx und Nietzsche bis zu Freud und Heidegger lösen sollte, war dann zumeist noch kostspieliger als der gute Rat.
Die Soziologie ist eine Spätform dieses Leidens am Besserwissen. Niemand beweist das derzeit eindrucksvoller als Pierre Bourdieu. Denn niemand erneuert so energisch wie er den decouvrierenden Erkenntnisstil des neunzehnten Jahrhunderts. Hinter allem Handeln steckt bei ihm das Interesse an sozialer Selbstbehauptung. Die Handelnden sind, was sie sind, indem sie sich von anderen unterscheiden und miteinander auf engem Raum um soziale Positionen rivalisieren. Ihr Streit betrifft knappe Kapitalien, Lebensstile und symbolische Güter. Zur Beschreibung dieses sozialen Dauerkonflikts löst Bourdieu Begriffe wie "Kapital", "Güter", "Investition" und "Profit" aus ihrem wirtschaftlichen Kontext. Bei ihm gibt es bekanntlich kulturelles und politisches, juristisches und symbolisches Kapital. Und es gibt "Wechselkurse" zwischen diesen Besitztümern, die durch weitere Machtkämpfe bestimmt werden. Offen bleibt, auf welchen Banken die Gewinne des Sozialgerangels eingezahlt werden. Bourdieu aber vermag durch diese Wortwahl "kapitalistische" Motive hinter jeglicher Aktion aufzustöbern, ohne sich dem Vorwurf des Ökonomismus auszusetzen. Er entwirft eine Soziologie des "literarischen Feldes", auf dem um "Anerkennungskapital" in Hoch- und Tiefkultur gestritten wird. Er beschreibt, wie es Familien gelingt, "kulturelles Kapital" an ihre Nachkommen zu vererben. Das Bildungssystem dient solchen Strategien. Recht und Bürokratie wiederum erlauben den Beamten, "Verallgemeinerungsprofite" einzustreichen. Will sagen: sie stellen ihre Eigeninteressen zurück, um sie unterm Schirm des Gemeinwohls dann desto leichter durchzusetzen. In ähnlichem Stil wird erklärt, warum Bischöfe lachen, wenn sie nach ihrem Einkommen gefragt werden. Nicht, weil es das letzte wäre, woran sie denken. Sondern weil auf sozialen Feldern wie dem der Religion ein Tabu über berechnendes Verhalten verhängt ist. Aber, so weiß Bourdieu, unbewußt rechnen sie doch.
Man muß solche Beschreibungen nicht bestreiten. Vielleicht kann man es gar nicht. Sein argwöhnischer Blick auf die Gesellschaft eröffnet Bourdieu eine Fülle lesenswerter Perspektiven auf die verwickelten Machiavellismen der Moderne. Aber was er da sieht, hält er für das soziale Ganze. Die Religionssoziologie schrumpft ihm so zu einer Theorie der Kirche und ihrer Ämter, die Sozilogie des Rechts zu einer Berufssoziologie der Juristen. Der Staat, das sind die Beamten. Die Kunst, das ist das Karrieregerangel der Artisten. Wenn André Breton einem poetischen Rivalen den Arm bricht, sieht Bourdieu seine Literatursoziologie bestätigt. Um die Dauerkonflikte, die er überall vermutet, mit Personal zu versorgen, werden alle möglichen Berufstypen als "Stand" oder "Korporation" bezeichnet, so als handele es sich um interessenhomogene und handlungsfähige Gruppen. All das aber, was an Kunst, Religion, Recht oder Erziehung nicht auf solche Gruppen, ihre verdeckten Interessen und ihre Positionen im "sozialen Raum" zurückgerechnet werden kann, fällt unter den Tisch. Die Dichtungen selbst, die Gebete, Verträge oder Schulstunden - sie sind für Bourdieu nur die Nebenfolgen des Handelns interessierter Kreise.
Der klassische Schwachpunkt dieser Decouvriertechnik wird deutlich in Bourdieus äußerst lesenswerter Skizze einer Geschichte der Staatsentstehung. An deren Ende befindet sich ganz Frankreich in der Hand seines "Beamtenadels". Ganz Frankreich? Der Soziologe nicht. Er ist zwar Beamter. Er muß es sogar sein. Denn nur der Staat verschafft ihm "Unabhängigkeit vom Druck der gesellschaftlichen Nachfrage". Aber anders als andere Beamte, vermag er diese Freiheit gegen den Staat zu nutzen. Und das sei gut so. Denn nur die Soziologie mit ihren "rationalen Erkenntnisinstrumenten" sei in der Lage, all die Mechanismen der "Herrschaft" aufzudecken.
So bietet der Band eine vorzügliche Einführung in eine Soziologie, die das Besserwissen in ein Berufsethos überführt hat. Pierre Bourdieu löst das Dilemma der modernen Handlungstheorie nicht wie Marx durch das Phantasma des Klassenkampfs. Er rät nicht, wie Freud, zur Gesundung der Akteure. Und er straft auch nicht, wie Heidegger, alle "Uneigentlichen" mit uniformierter Verachtung. Statt dessen wirft er sich in den Putz einer mißmutigen Aufklärung und stellt alles Handeln unter den Verdacht, "irgend etwas" im Schilde zu führen. Aus der Theorie des Handelns wird so eine Logik der Machenschaften. Von ihr behauptet Bourdieu, sie sei die Soziologie. Nur der Verdacht gegen diesen Verdacht, der ist ihm offenkundig noch nicht gekommen. JÜRGEN KAUBE
Pierre Bourdieu: "Praktische Vernunft". Zur Theorie des Handelns. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 225 S., br., 19,80 DM.
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