Martin Mulsow begibt sich auf die Spur der prekären Seite neuzeitlicher Wissensgeschichte in Europa: der Unsicherheit und Gefährdung von Theorie- und Wissensbeständen, des heiklen Status ihres Trägermaterials, des Risikos häretischen Transfers. Er präsentiert Taktiken, die Intellektuelle ersonnen haben, um mit diesen Fährnissen zu leben, ihre Rückzugsgesten und Ängste, aber auch ihre Versuche, verlorenes Wissen wiederzugewinnen. Prekäres Wissen handelt nicht von den großen Themen der Metaphysik und Epistemologie, sondern von Randzonen. Ein Buch voller spannender Fallstudien, eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit und der Versuch, den Begriff des Wissens neu zu denken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2012Gelehrten auf der Wissenschaftsbühne ist alles zuzutrauen
Unterwegs auf den unsicheren Seitenpfaden und Holzwegen der Ideengeschichte: Martin Mulsow folgt den Geschicken des gelehrten Prekariats in der Frühen Neuzeit.
Von Daniel Jütte
Johann Jakob Brucker hatte einen ehrgeizigen Plan, als er sich 1730 aus dem schwäbischen Kaufbeuren brieflich an den Theologen und Polyhistor Christoph August Heumann in Göttingen wandte. Brucker, ein junger Pfarrer und Schulrektor, schickte sich damals an, ein Schulbuch zur Einführung in die gesamte Philosophiegeschichte zu verfassen. Was ihm vorschwebte, hatte freilich nichts mit jenen schmalen "Lektürehilfen" zu tun, die heute den Schulbuchmarkt überschwemmen. Am Ende sollten vielmehr ein Lehrbuch in sieben dicken Bänden und eine fünfteilige kritische Philosophiegeschichte stehen, in die sich übrigens einige Jahre später auch ein Student namens Goethe vertiefte. Ein solches Riesenwerk zu schreiben war für einen Autor im Allgäu ohne Unterstützung kaum möglich. Hier nun kam der Gelehrte Heumann in Göttingen ins Spiel: Er war bereit, seine dicken Bände mit Notizen und Exzerpten zur Philosophiegeschichte - die Frucht jahrzehntelanger Lektüre - dem jungen Kollegen auszuleihen. Als Brucker die Bände nach getaner Arbeit wieder an seinen Förderer zurückschickte, kam es zum Malheur: Das Paket ging unterwegs verloren. Ein Rechtsstreit drohte. Bei einer Befragung konnte ein Postmeister in Leipzig belegen, dass das Paket als Nr. 14 der seinerzeitigen Sendung abgefertigt worden war; in Braunschweig - der nächsten Poststation - gab der Postmeister hingegen zu Protokoll, diese Sendung habe nur zwölf Pakete enthalten. Nun wurde es offenkundig: Hier stimmte etwas nicht.
"Wer hatte ein Motiv?", fragt der Erfurter Frühneuzeithistoriker Martin Mulsow in seinem neuen Buch und stößt dabei auf eine akademische Kabale, die Licht ins Dunkel bringen könnte: Möglicherweise hatte kein Geringerer als der große Gelehrte Johann Christoph Gottsched, der damals in Leipzig wirkte, die Hände im Spiel. Kurz zuvor nämlich hatten sich Gottscheds Hoffnungen auf eine Professur in Göttingen zerschlagen, und er vermutete, dass der in dortigen Kreisen einflussreiche Heumann die Berufung hintertrieben hatte. Ob es nun die Bestechung des Postmeisters durch Gottsched oder doch nur ein Zufall war - die Folgen des Verschwindens des Pakets waren gravierend: Heumann konnte fortan mangels Material kein eigenes Werk mehr zur Philosophiegeschichte schreiben - eine bedauerliche Leerstelle in der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts.
Für Mulsow ist diese Episode ein Paradebeispiel für das, was er "prekäres Wissen" nennt, also für ein Wissen, das jederzeit verlorengehen oder vernichtet werden kann. Und es gab in der Frühen Neuzeit in der Tat permanent Situationen, in denen Wissen verschüttgehen konnte: Unsichere Postwege zählten ebenso dazu wie die Gefährdungen, die auf Papier gebanntem Wissen - namentlich Handschriften - von Natur aus drohten. Allerdings gab es auch institutionelle und politische Faktoren, und auf ihnen liegt Mulsows Hauptaugenmerk: "Wer nicht veröffentlicht, wer kein akademisches Amt innehat, keine Schüler hat und kein gesichertes Publikum, dem kann schnell abhanden kommen, was er gedacht hat." Genau dies sei der Alltag für zahlreiche Intellektuelle in der Frühen Neuzeit gewesen, speziell jene, die heute der "Radikalaufklärung" zugerechnet werden.
Mulsow selbst hat in den vergangenen Jahren wichtige Arbeiten zur Erhellung dieses Milieus vorgelegt. Es mag daher zunächst überraschen, dass er nun Abstand davon nimmt, die Ideengeschichte der Frühen Neuzeit auf traditionelle Weise in radikale, moderate und orthodoxe Strömungen einzuteilen. Im Mittelpunkt jener anderen Ideengeschichte, deren Grundzüge er hier zu umreißen versucht, steht nicht länger die Klassifikation von Überzeugungen, sondern der "Status des Wissensträgers, und zwar ob dieser Status sicher und wie sicher er ist". Hier setzt auch Mulsows Unterscheidung zwischen einem "Wissensprekariat" und einer "Wissensbourgeoisie" an. Das Wissensprekariat sei geprägt von klandestinen Praktiken und dem, was man mit Leo Strauss ein "Schreiben zwischen den Zeilen" nennen kann; für die "Wissenschaftsbourgeoisie" hingegen seien "sichere Formen von Publikation, Institutionalisierung und Schülerschaft" kennzeichnend.
Es geht Mulsow wohlgemerkt nicht so sehr um eine "Geschichte von unten" im (post-)marxistischen Sinne, zumal das Wissensprekariat der Frühen Neuzeit häufig bis in die oberen Schichten der etablierten Wissenschaft hineingereicht habe. Vielmehr plädiert er für eine Ideengeschichte, die sich nicht primär als Innovationsgeschichte begreift: Die Wissensgeschichte des neuzeitlichen Europas - so heißt es programmatisch zu Beginn des Buches - sei bereits ausreichend als Geschichte der Anhäufung, Organisation und Nutzung von Informationen gefeiert worden. Nun sei es erforderlich, die prekäre Seite, die Verlustseite, zu beleuchten, also insbesondere die "Unsicherheit und Gefährdung von bestimmten Theorieund Wissensbeständen". Man könnte auch sagen, dass Mulsow die Seitenpfade ebenso wie die Holzwege der Ideengeschichte in den Blickpunkt rückt - und hier ist er ganz in seinem Element.
Mit großer Gelehrsamkeit entwirft Mulsow ein Kaleidoskop des Wissensprekariats in der Vormoderne, vorwiegend im Heiligen Römischen Reich - ein Milieu, das er, in Anspielung auf das zwanzigste Jahrhundert, zugespitzt als das "geheime Deutschland" der Frühen Neuzeit bezeichnet. Die Protagonisten des Buches sind dabei oft jene Personen, die Mulsow "Theoretiker zweiter oder dritter Klasse" nennt: Unter ihnen finden sich ungestüme Vordenker, die ihre Schriften im Geheimen verbreiteten (und dann mitunter deren öffentlicher Verbrennung zusehen mussten); Eigenbrötler, die verschrobene Privat- und Arkanlehren entwickelten; oder auch geschickt taktierende Gelehrte, die in der damaligen Wissensökonomie - die man in der Tat häufig als theatrum auffasste - verschiedene Rollen zu spielen verstanden, also sich beispielsweise öffentlich als gläubige Christen darstellten, im Privaten aber dem Atheismus anhingen.
Der Schwerpunkt der Studie liegt auf solchen biographischen Fallstudien (von denen einige bereits separat veröffentlicht wurden). Mulsow versteht es, diese häufig disparaten Lebensgeschichten elegant, ja oft unterhaltsam zu erzählen und dabei gleichzeitig in eine gesamt europäische Perspektive zu rücken. Zu Recht betont er eingangs, dass eine Geschichte des Wissens - nicht nur des prekären - stets auch eine Geschichte der Objekte, der Praktiken und der Gesten sein müsse. Diese Aspekte werden im Buch verschiedentlich aufgegriffen, hätten aber vielleicht noch etwas systematischer ausgeführt werden können. Ganz am Ende des Buches charakterisiert Mulsow seine eigene Studie als einen "Episodenfilm". Das trifft das Verfahren gut. Bleibt zu hoffen, dass das Paket, das Mulsow für die Zunft der Ideenhistoriker geschnürt hat, nicht das Schicksal prekären Wissens teilt, sondern ankommt und gelesen wird.
Martin Mulsow: "Prekäres Wissen". Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 556 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unterwegs auf den unsicheren Seitenpfaden und Holzwegen der Ideengeschichte: Martin Mulsow folgt den Geschicken des gelehrten Prekariats in der Frühen Neuzeit.
Von Daniel Jütte
Johann Jakob Brucker hatte einen ehrgeizigen Plan, als er sich 1730 aus dem schwäbischen Kaufbeuren brieflich an den Theologen und Polyhistor Christoph August Heumann in Göttingen wandte. Brucker, ein junger Pfarrer und Schulrektor, schickte sich damals an, ein Schulbuch zur Einführung in die gesamte Philosophiegeschichte zu verfassen. Was ihm vorschwebte, hatte freilich nichts mit jenen schmalen "Lektürehilfen" zu tun, die heute den Schulbuchmarkt überschwemmen. Am Ende sollten vielmehr ein Lehrbuch in sieben dicken Bänden und eine fünfteilige kritische Philosophiegeschichte stehen, in die sich übrigens einige Jahre später auch ein Student namens Goethe vertiefte. Ein solches Riesenwerk zu schreiben war für einen Autor im Allgäu ohne Unterstützung kaum möglich. Hier nun kam der Gelehrte Heumann in Göttingen ins Spiel: Er war bereit, seine dicken Bände mit Notizen und Exzerpten zur Philosophiegeschichte - die Frucht jahrzehntelanger Lektüre - dem jungen Kollegen auszuleihen. Als Brucker die Bände nach getaner Arbeit wieder an seinen Förderer zurückschickte, kam es zum Malheur: Das Paket ging unterwegs verloren. Ein Rechtsstreit drohte. Bei einer Befragung konnte ein Postmeister in Leipzig belegen, dass das Paket als Nr. 14 der seinerzeitigen Sendung abgefertigt worden war; in Braunschweig - der nächsten Poststation - gab der Postmeister hingegen zu Protokoll, diese Sendung habe nur zwölf Pakete enthalten. Nun wurde es offenkundig: Hier stimmte etwas nicht.
"Wer hatte ein Motiv?", fragt der Erfurter Frühneuzeithistoriker Martin Mulsow in seinem neuen Buch und stößt dabei auf eine akademische Kabale, die Licht ins Dunkel bringen könnte: Möglicherweise hatte kein Geringerer als der große Gelehrte Johann Christoph Gottsched, der damals in Leipzig wirkte, die Hände im Spiel. Kurz zuvor nämlich hatten sich Gottscheds Hoffnungen auf eine Professur in Göttingen zerschlagen, und er vermutete, dass der in dortigen Kreisen einflussreiche Heumann die Berufung hintertrieben hatte. Ob es nun die Bestechung des Postmeisters durch Gottsched oder doch nur ein Zufall war - die Folgen des Verschwindens des Pakets waren gravierend: Heumann konnte fortan mangels Material kein eigenes Werk mehr zur Philosophiegeschichte schreiben - eine bedauerliche Leerstelle in der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts.
Für Mulsow ist diese Episode ein Paradebeispiel für das, was er "prekäres Wissen" nennt, also für ein Wissen, das jederzeit verlorengehen oder vernichtet werden kann. Und es gab in der Frühen Neuzeit in der Tat permanent Situationen, in denen Wissen verschüttgehen konnte: Unsichere Postwege zählten ebenso dazu wie die Gefährdungen, die auf Papier gebanntem Wissen - namentlich Handschriften - von Natur aus drohten. Allerdings gab es auch institutionelle und politische Faktoren, und auf ihnen liegt Mulsows Hauptaugenmerk: "Wer nicht veröffentlicht, wer kein akademisches Amt innehat, keine Schüler hat und kein gesichertes Publikum, dem kann schnell abhanden kommen, was er gedacht hat." Genau dies sei der Alltag für zahlreiche Intellektuelle in der Frühen Neuzeit gewesen, speziell jene, die heute der "Radikalaufklärung" zugerechnet werden.
Mulsow selbst hat in den vergangenen Jahren wichtige Arbeiten zur Erhellung dieses Milieus vorgelegt. Es mag daher zunächst überraschen, dass er nun Abstand davon nimmt, die Ideengeschichte der Frühen Neuzeit auf traditionelle Weise in radikale, moderate und orthodoxe Strömungen einzuteilen. Im Mittelpunkt jener anderen Ideengeschichte, deren Grundzüge er hier zu umreißen versucht, steht nicht länger die Klassifikation von Überzeugungen, sondern der "Status des Wissensträgers, und zwar ob dieser Status sicher und wie sicher er ist". Hier setzt auch Mulsows Unterscheidung zwischen einem "Wissensprekariat" und einer "Wissensbourgeoisie" an. Das Wissensprekariat sei geprägt von klandestinen Praktiken und dem, was man mit Leo Strauss ein "Schreiben zwischen den Zeilen" nennen kann; für die "Wissenschaftsbourgeoisie" hingegen seien "sichere Formen von Publikation, Institutionalisierung und Schülerschaft" kennzeichnend.
Es geht Mulsow wohlgemerkt nicht so sehr um eine "Geschichte von unten" im (post-)marxistischen Sinne, zumal das Wissensprekariat der Frühen Neuzeit häufig bis in die oberen Schichten der etablierten Wissenschaft hineingereicht habe. Vielmehr plädiert er für eine Ideengeschichte, die sich nicht primär als Innovationsgeschichte begreift: Die Wissensgeschichte des neuzeitlichen Europas - so heißt es programmatisch zu Beginn des Buches - sei bereits ausreichend als Geschichte der Anhäufung, Organisation und Nutzung von Informationen gefeiert worden. Nun sei es erforderlich, die prekäre Seite, die Verlustseite, zu beleuchten, also insbesondere die "Unsicherheit und Gefährdung von bestimmten Theorieund Wissensbeständen". Man könnte auch sagen, dass Mulsow die Seitenpfade ebenso wie die Holzwege der Ideengeschichte in den Blickpunkt rückt - und hier ist er ganz in seinem Element.
Mit großer Gelehrsamkeit entwirft Mulsow ein Kaleidoskop des Wissensprekariats in der Vormoderne, vorwiegend im Heiligen Römischen Reich - ein Milieu, das er, in Anspielung auf das zwanzigste Jahrhundert, zugespitzt als das "geheime Deutschland" der Frühen Neuzeit bezeichnet. Die Protagonisten des Buches sind dabei oft jene Personen, die Mulsow "Theoretiker zweiter oder dritter Klasse" nennt: Unter ihnen finden sich ungestüme Vordenker, die ihre Schriften im Geheimen verbreiteten (und dann mitunter deren öffentlicher Verbrennung zusehen mussten); Eigenbrötler, die verschrobene Privat- und Arkanlehren entwickelten; oder auch geschickt taktierende Gelehrte, die in der damaligen Wissensökonomie - die man in der Tat häufig als theatrum auffasste - verschiedene Rollen zu spielen verstanden, also sich beispielsweise öffentlich als gläubige Christen darstellten, im Privaten aber dem Atheismus anhingen.
Der Schwerpunkt der Studie liegt auf solchen biographischen Fallstudien (von denen einige bereits separat veröffentlicht wurden). Mulsow versteht es, diese häufig disparaten Lebensgeschichten elegant, ja oft unterhaltsam zu erzählen und dabei gleichzeitig in eine gesamt europäische Perspektive zu rücken. Zu Recht betont er eingangs, dass eine Geschichte des Wissens - nicht nur des prekären - stets auch eine Geschichte der Objekte, der Praktiken und der Gesten sein müsse. Diese Aspekte werden im Buch verschiedentlich aufgegriffen, hätten aber vielleicht noch etwas systematischer ausgeführt werden können. Ganz am Ende des Buches charakterisiert Mulsow seine eigene Studie als einen "Episodenfilm". Das trifft das Verfahren gut. Bleibt zu hoffen, dass das Paket, das Mulsow für die Zunft der Ideenhistoriker geschnürt hat, nicht das Schicksal prekären Wissens teilt, sondern ankommt und gelesen wird.
Martin Mulsow: "Prekäres Wissen". Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 556 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Florian Welle scheint richtig dankbar über die Leistung des Verfassers zu sein. Wozu immer wieder über Descartes, Leibniz oder Hume lesen? Der Theologe Christoph August Herrmann oder der Jurist Theodor Ludwig Lau sind doch auch interessant. Wenn Martin Mulsow diese und andere vergessene Gelehrte in unseren Gesichtskreis stellt und seine "andere Ideengeschichte" mit ihnen bevölkert, lernt Welle nicht nur über die Unsicherheit von Wissen, sondern auch über prekäre Lebensumstände und die Gefährdung des Wissenstransfers. Dass Mulsow seine begeistert notierten Fallgeschichten immer wieder an übergreifende Fragestellungen zurückbindet, seine Monografie so für Spezialisten und Laien gleichermaßen urbar macht und dem Leser eine Menge Aha-Effekte beschert, macht das Buch für Welle so empfehlenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.04.2013Ein neue Geschichte der vergessenen Ideen
Denken in Gefahr! In einem material- und spannungsreichen Buch erkundet Martin Mulsow das Prekariat des Wissens
In dieser Studie wird man die großen Gelehrten der Frühen Neuzeit von Descartes über Leibniz bis Hume vergebens suchen. Stattdessen liest man von dem Juristen Theodor Ludwig Lau, dem Orientalisten Hermann von der Hardt und dem Philosophen und Theologen Christoph August Heumann. Nie gehört? Es sind Gelehrte aus der zweiten und dritten Reihe, heute entweder fast vergessen oder ganz aus unserem Gedächtnis verschwunden. Für Martin Mulsow ist es an der Zeit, eine „andere Ideengeschichte“ zu schreiben, die nicht mehr die „Anhäufung, Organisation und Nutzung von Informationen und Wissen“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, sondern die „Verlustseite: die Unsicherheit und Gefährdung von bestimmten Theorie- und Wissensbeständen, den prekären Status der Trägerschichten dieser Bestände, die Reaktion auf Verlust und Bedrohung“.
Die Monografie des Direktors des Forschungszentrums Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt trägt entsprechend den Titel „Prekäres Wissen“. Gewidmet ist sie keinem Geringeren als Carlo Ginzburg, den Mulsow mit höchstem Respekt als „miglior fabbro“, als den größeren Meister bezeichnet. Der italienische Historiker ist einer der Initiatoren der Mikrogeschichte, die angetreten sind, ganze Lebenszusammenhänge für kleine Räume und überschaubare soziale Gruppen zu rekonstruieren – ohne allerdings das große Ganze aus dem Auge zu verlieren. Beständig soll die Perspektive „zwischen Mikro- und Makro-Historie, zwischen Close-ups und Aufnahmen aus weiter bzw. sehr weiter Entfernung“ gewechselt werden, notierte Carlo Ginzburg einmal.
Auch Martin Mulsow bemüht das Kino, wenn er im Schlusswort sein Buch als „Episodenfilm“ verstanden wissen möchte, dessen Hauptpersonen und -themen aus einem Kapitel als Randfiguren und -bemerkungen in einem späteren wieder auftauchen, und verweist auf Regisseur Robert Altman und dessen Film „Short Cuts“. Und so stehen zwar in sich geschlossene Fallgeschichten im Vordergrund, die es erlauben, die vielschichtige Studie an jeder beliebigen Stelle aufzuschlagen. Sie werden jedoch von Mulsow in regelmäßigen Abständen an übergreifende Fragestellungen zurückgebunden. Eine von ihnen lautet, in welchem Maße die Lektüre klandestiner Schriften zur Radikalisierung eines Aufklärers wie des angesehenen Hermann Samuel Reimarus beitrug. Dieser schrieb klammheimlich mit seiner „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ eine Bibelkritik, wie sie radikaler kaum ausfallen konnte. Eine andere Frage, die weiter ausgreift: Wie verhält sich die Ideengeschichte des prekären Wissens zu einer Geschichte der Freiheit und Sicherheit?
All das sind heiß diskutierte Themen innerhalb der historischen Zunft, und Mulsows Arbeit mit ihrem über hundert Seiten starken Anmerkungsapparat dürfte die Debatten befeuern. Das ist das Futter für die Spezialisten – und trotzdem ist das materialreiche Buch auch für den geschichtsinteressierten Laien ein Lektüregenuss (sieht man einmal von den sehr klein geratenen Abbildungen ab). Verständlich und mit großer Begeisterung für den Gegenstand geschrieben, entführt es den Leser in die Welt prekären, unbekannten Wissens, dessen Erforschung gerade erst begonnen hat. Die Aha-Effekte sind Legion.
Unsicher konnten die Lebensumstände der Gelehrten sein. Unter der auf James Joyce anspielenden Überschrift „Porträt eines Freidenkers als junger Mann“ stellt Mulsow Theodor Ludwig Lau vor. Lau, Christian-Thomasius-Schüler der ersten Stunde, veröffentlichte 1717 und 1719 zwei philosophische Abhandlungen, die umgehend verboten wurden. Der Vorwurf: Atheismus. Lau wurde verhaftet, keine seiner späteren Schriften erblickte mehr das Licht der Öffentlichkeit. Seit seinem Tod 1740 ist sein Nachlass verschollen. Für Mulsow repräsentiert Lau als „Leitperson“ ein Milieu, das er mit dem Begriff des „Wissensprekariats“ umschreibt. Ihm stellt der Autor die „Wissensbourgeoisie“ gegenüber. Auch das Leben renommierter Gelehrter hätte schnell zerstört sein können, wenn etwa deren unter Pseudonym erschienene Schriften mit ihnen in Verbindung gebracht worden wären.
Unsicher waren schließlich auch die Transportwege des Wissens. Manuskripte gingen schon einmal auf dem Postweg verloren. Oder wurden verloren gegangen. Eines der spannendsten Kapitel, das einer Kriminalgeschichte nahe kommt, rekonstruiert das Verschwinden wertvoller Aufzeichnungen des in Göttingen lehrenden Christoph August Heumann. Dass der große Johann Christoph Gottsched in dieser Verlustgeschichte eine maßgebliche Rolle spielte, kann Mulsow zwar nicht letztgültig beweisen. Aber die Spekulation, der Gelehrte wollte sich für die Nicht-Berufung an die Göttinger Universität an seinem Widersacher Heumann rächen, hat einiges für sich.
Carlo Ginzburg machte einst mit dem Buch „Der Käse und die Würmer“ einen vollkommen unbekannten Müller namens Menocchio zum Star. Auch Martin Mulsow hat mit seinem Buch längst vergessene Gelehrte wieder in unser Bewusstsein gehoben.
FLORIAN WELLE
Heimliche Radikalität,
unsichere Transportwege
Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere
Ideengeschichte der
Frühen Neuzeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
558 Seiten, 39,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Denken in Gefahr! In einem material- und spannungsreichen Buch erkundet Martin Mulsow das Prekariat des Wissens
In dieser Studie wird man die großen Gelehrten der Frühen Neuzeit von Descartes über Leibniz bis Hume vergebens suchen. Stattdessen liest man von dem Juristen Theodor Ludwig Lau, dem Orientalisten Hermann von der Hardt und dem Philosophen und Theologen Christoph August Heumann. Nie gehört? Es sind Gelehrte aus der zweiten und dritten Reihe, heute entweder fast vergessen oder ganz aus unserem Gedächtnis verschwunden. Für Martin Mulsow ist es an der Zeit, eine „andere Ideengeschichte“ zu schreiben, die nicht mehr die „Anhäufung, Organisation und Nutzung von Informationen und Wissen“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, sondern die „Verlustseite: die Unsicherheit und Gefährdung von bestimmten Theorie- und Wissensbeständen, den prekären Status der Trägerschichten dieser Bestände, die Reaktion auf Verlust und Bedrohung“.
Die Monografie des Direktors des Forschungszentrums Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt trägt entsprechend den Titel „Prekäres Wissen“. Gewidmet ist sie keinem Geringeren als Carlo Ginzburg, den Mulsow mit höchstem Respekt als „miglior fabbro“, als den größeren Meister bezeichnet. Der italienische Historiker ist einer der Initiatoren der Mikrogeschichte, die angetreten sind, ganze Lebenszusammenhänge für kleine Räume und überschaubare soziale Gruppen zu rekonstruieren – ohne allerdings das große Ganze aus dem Auge zu verlieren. Beständig soll die Perspektive „zwischen Mikro- und Makro-Historie, zwischen Close-ups und Aufnahmen aus weiter bzw. sehr weiter Entfernung“ gewechselt werden, notierte Carlo Ginzburg einmal.
Auch Martin Mulsow bemüht das Kino, wenn er im Schlusswort sein Buch als „Episodenfilm“ verstanden wissen möchte, dessen Hauptpersonen und -themen aus einem Kapitel als Randfiguren und -bemerkungen in einem späteren wieder auftauchen, und verweist auf Regisseur Robert Altman und dessen Film „Short Cuts“. Und so stehen zwar in sich geschlossene Fallgeschichten im Vordergrund, die es erlauben, die vielschichtige Studie an jeder beliebigen Stelle aufzuschlagen. Sie werden jedoch von Mulsow in regelmäßigen Abständen an übergreifende Fragestellungen zurückgebunden. Eine von ihnen lautet, in welchem Maße die Lektüre klandestiner Schriften zur Radikalisierung eines Aufklärers wie des angesehenen Hermann Samuel Reimarus beitrug. Dieser schrieb klammheimlich mit seiner „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ eine Bibelkritik, wie sie radikaler kaum ausfallen konnte. Eine andere Frage, die weiter ausgreift: Wie verhält sich die Ideengeschichte des prekären Wissens zu einer Geschichte der Freiheit und Sicherheit?
All das sind heiß diskutierte Themen innerhalb der historischen Zunft, und Mulsows Arbeit mit ihrem über hundert Seiten starken Anmerkungsapparat dürfte die Debatten befeuern. Das ist das Futter für die Spezialisten – und trotzdem ist das materialreiche Buch auch für den geschichtsinteressierten Laien ein Lektüregenuss (sieht man einmal von den sehr klein geratenen Abbildungen ab). Verständlich und mit großer Begeisterung für den Gegenstand geschrieben, entführt es den Leser in die Welt prekären, unbekannten Wissens, dessen Erforschung gerade erst begonnen hat. Die Aha-Effekte sind Legion.
Unsicher konnten die Lebensumstände der Gelehrten sein. Unter der auf James Joyce anspielenden Überschrift „Porträt eines Freidenkers als junger Mann“ stellt Mulsow Theodor Ludwig Lau vor. Lau, Christian-Thomasius-Schüler der ersten Stunde, veröffentlichte 1717 und 1719 zwei philosophische Abhandlungen, die umgehend verboten wurden. Der Vorwurf: Atheismus. Lau wurde verhaftet, keine seiner späteren Schriften erblickte mehr das Licht der Öffentlichkeit. Seit seinem Tod 1740 ist sein Nachlass verschollen. Für Mulsow repräsentiert Lau als „Leitperson“ ein Milieu, das er mit dem Begriff des „Wissensprekariats“ umschreibt. Ihm stellt der Autor die „Wissensbourgeoisie“ gegenüber. Auch das Leben renommierter Gelehrter hätte schnell zerstört sein können, wenn etwa deren unter Pseudonym erschienene Schriften mit ihnen in Verbindung gebracht worden wären.
Unsicher waren schließlich auch die Transportwege des Wissens. Manuskripte gingen schon einmal auf dem Postweg verloren. Oder wurden verloren gegangen. Eines der spannendsten Kapitel, das einer Kriminalgeschichte nahe kommt, rekonstruiert das Verschwinden wertvoller Aufzeichnungen des in Göttingen lehrenden Christoph August Heumann. Dass der große Johann Christoph Gottsched in dieser Verlustgeschichte eine maßgebliche Rolle spielte, kann Mulsow zwar nicht letztgültig beweisen. Aber die Spekulation, der Gelehrte wollte sich für die Nicht-Berufung an die Göttinger Universität an seinem Widersacher Heumann rächen, hat einiges für sich.
Carlo Ginzburg machte einst mit dem Buch „Der Käse und die Würmer“ einen vollkommen unbekannten Müller namens Menocchio zum Star. Auch Martin Mulsow hat mit seinem Buch längst vergessene Gelehrte wieder in unser Bewusstsein gehoben.
FLORIAN WELLE
Heimliche Radikalität,
unsichere Transportwege
Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere
Ideengeschichte der
Frühen Neuzeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
558 Seiten, 39,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Mulsows auf einem breiten Quellen- und Literaturfundament beruhende Studie glänzt mit einer unkonventionellen Thematik und sprachlicher Eleganz."
Wolfgang Hellmich, Zeitschrift für philosophische Forschung 68 (2014), Heft 4
Wolfgang Hellmich, Zeitschrift für philosophische Forschung 68 (2014), Heft 4
»Das ist Futter für die Spezialisten - und trotzdem ist das materialreiche Buch auch den geschichtsinteressierten Laien ein Lektüregenuss... Verständlich und mit großer Begeisterung für den Gegenstand geschrieben, entführt es den Leser in die Welt prekären, unbekannten Wissens, dessen Erforschung gerade erst begonnen hat.«