Produktdetails
- Verlag: edition q
- Seitenzahl: 307
- Abmessung: 285mm
- Gewicht: 1630g
- ISBN-13: 9783861241409
- Artikelnr.: 04907385
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1995Bedrohliche Nestwärme
Der Prenzlauer Berg - Korrekturen an einem noch jungen Mythos · Von Frank Böttcher
Busse aus Lörrach zwängen sich durch die enge Husemannstraße, japanische Touristen fotografieren in Parterrewohnungen hinein. Aufgeschlossene Lehrerehepaare geraten vor dem Charme ruinöser Fassaden und Hinterhöfe ins Schwärmen. Individualisten ohne Zahl stellen sich in schicken, professionell geführten "Szenekneipen" aus, um für einen Abend Freiheit, Ursprünglichkeit und Morbidität zu verspüren. Amerikanische Kunststudenten und romantische Steglitzer Rechtsanwälte suchen nur hier eine Wohnung. Kreuzberg ist out.
An der Verklärung und mithin Zerstörung des Prenzlauer Bergs stricken die Medien seit Jahren mit. Gleichgültig käuen sie einen Mythos wieder, der zwischen Berliner Arbeiterbezirk, Zentrum der sanften Revolution 1989, Bermudadreieck (wegen der Kneipen) und immer wieder Berliner Montmartre oder Hort der unangepaßten jungen Dichter schwankt. Viele Klischees haben ihren wahren Kern, aber er ist nie so griffig, wie Touristen und Journalisten ihn gern hätten. In der edition q ist jüngst ein Band erschienen, der den Mythen auf den Grund geht und sie, wenn nötig, auch korrigiert.
Auf über dreihundert Seiten werden mehr als einhundertfünfzig Jahre Bau- und Sozialgeschichte sachlich, ja wissenschaftlich gründlich, nie aber trocken dargestellt. Die Autoren Alexander Haeder und Ulrich Wüst sind seit Jahren selbst mit den stillsten, sprödesten und abgelegensten Winkeln ihres Kiezes bekannt. Wer begreifen möchte, was der Prenzlauer Berg wirklich ist, kommt an dem Band nicht vorbei.
Klischees werden hier alsbald durchschaut. Dem vielzitierten Bauhistoriker Werner Hegemann etwa, der das proletarische Elend in den Mietskasernen zum Thema machte, werden Ungenauigkeit und Einäugigkeit nachgewiesen. Bei aller berechtigten Kritik an den sozialen Zuständen ignorierte er, daß den Problemen des ungeheuren Wachstums der Stadt zwischen 1820 und 1920 damals mit einer Entschiedenheit und Weitsicht begegnet wurde, wie man sie bei den heute vergleichsweise geringen Herausforderungen kaum mehr zu wünschen wagt.
s hatte wohl andere als strukturelle Gründe, wenn das Elend grassierte. Wäre allein das Prinzip "Mietskaserne" von Übel, so wäre der Prenzlauer Berg keine so begehrte Adresse gerade unter Intellektuellen. Schon seit Jahrzehnten wird er wegen seines urbanen und doch familiären Klimas geschätzt. Ulbricht wollte ihn wegen ebendieser schwer zu kontrollierenden Nestwärme abreißen lassen.
Den Kunsthistoriker Haeder beschäftigt vor allem die Baugeschichte von den Anfängen bis in die NS-Zeit hinein. Die Planungen von Lenné und Hobrecht, die Ziegelei auf dem späteren Helmholtzplatz, das Obdachlosenasyl in der Fröbelstraße und das Bötzowviertel, die Gasanstalt, der Zentralviehhof, die Brauereien, Kirchen, Friedhöfe, die Hochbahn, die Taut-Siedlung, der Mauerbau: selten sind so materialreiche Darstellungen so lesenswert. Manchmal freilich wünscht man sich mehr als die streng objektive Beschreibung. Zur Geschichte des von Döblin besungenen Blankensteinschen Zentralviehhofs gehört leider auch, daß die meisten seiner Reste heute kurz davor stehen, abgerissen und überbaut zu werden.
Der Band besticht durch das spannungsvolle Verhältnis von Text und Bild. Die sachlich-melancholische Fotografien Ulrich Wüsts, die zum Teil vor 1989 entstanden sind, illustrieren die erste und erzählen zugleich eine zweite Geschichte. Als der gelernte Architekt Anfang der achtziger Jahre an den stillen, vergessenen, beschädigten Orten der Stadt deren Geschichte mit dem Fotoapparat nachging, war das noch ungewöhnlich. Wüst näherte sich den Bauten und ihren Details nicht voyeuristisch, sondern - bei allem künstlerischen Selbstbewußtsein - ehrfüchtig. Diese Haltung trägt bis heute. Eine der Fotografien zeigt ein gründerzeitliches gußeisernes Säulenkapitell am S-Bahnhof Greifswalder Straße; die lakonische Bildunterschrift besagt: inzwischen abgerissen. Auf der Seite daneben ein fast identisches Kapitell im nach vielen Bürgerprotesten unlängst doch für den Autoverkehr geöffneten Gleimtunnel.
Aber kein noch so gutes Buch, das nicht auch zu kritisieren wäre. Den Schrifttypus des Buches, die "AvantGarde", kann man ästhetisch reizvoll finden, aber im vorliegenden Buch ist er aus Gründen der Lesbarkeit wohl die falsche Wahl. Schlichtweg unverzeihlich aber, vor allem angesichts des stolzen Preises, ist das Fehlen eines Orts- und Namensregisters.
Alexander Haeder/Ulrich Wüst: "Prenzlauer Berg". Besichtigung einer Legende. edition q, Berlin 1994. 307 S., Abb., geb., 148,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Prenzlauer Berg - Korrekturen an einem noch jungen Mythos · Von Frank Böttcher
Busse aus Lörrach zwängen sich durch die enge Husemannstraße, japanische Touristen fotografieren in Parterrewohnungen hinein. Aufgeschlossene Lehrerehepaare geraten vor dem Charme ruinöser Fassaden und Hinterhöfe ins Schwärmen. Individualisten ohne Zahl stellen sich in schicken, professionell geführten "Szenekneipen" aus, um für einen Abend Freiheit, Ursprünglichkeit und Morbidität zu verspüren. Amerikanische Kunststudenten und romantische Steglitzer Rechtsanwälte suchen nur hier eine Wohnung. Kreuzberg ist out.
An der Verklärung und mithin Zerstörung des Prenzlauer Bergs stricken die Medien seit Jahren mit. Gleichgültig käuen sie einen Mythos wieder, der zwischen Berliner Arbeiterbezirk, Zentrum der sanften Revolution 1989, Bermudadreieck (wegen der Kneipen) und immer wieder Berliner Montmartre oder Hort der unangepaßten jungen Dichter schwankt. Viele Klischees haben ihren wahren Kern, aber er ist nie so griffig, wie Touristen und Journalisten ihn gern hätten. In der edition q ist jüngst ein Band erschienen, der den Mythen auf den Grund geht und sie, wenn nötig, auch korrigiert.
Auf über dreihundert Seiten werden mehr als einhundertfünfzig Jahre Bau- und Sozialgeschichte sachlich, ja wissenschaftlich gründlich, nie aber trocken dargestellt. Die Autoren Alexander Haeder und Ulrich Wüst sind seit Jahren selbst mit den stillsten, sprödesten und abgelegensten Winkeln ihres Kiezes bekannt. Wer begreifen möchte, was der Prenzlauer Berg wirklich ist, kommt an dem Band nicht vorbei.
Klischees werden hier alsbald durchschaut. Dem vielzitierten Bauhistoriker Werner Hegemann etwa, der das proletarische Elend in den Mietskasernen zum Thema machte, werden Ungenauigkeit und Einäugigkeit nachgewiesen. Bei aller berechtigten Kritik an den sozialen Zuständen ignorierte er, daß den Problemen des ungeheuren Wachstums der Stadt zwischen 1820 und 1920 damals mit einer Entschiedenheit und Weitsicht begegnet wurde, wie man sie bei den heute vergleichsweise geringen Herausforderungen kaum mehr zu wünschen wagt.
s hatte wohl andere als strukturelle Gründe, wenn das Elend grassierte. Wäre allein das Prinzip "Mietskaserne" von Übel, so wäre der Prenzlauer Berg keine so begehrte Adresse gerade unter Intellektuellen. Schon seit Jahrzehnten wird er wegen seines urbanen und doch familiären Klimas geschätzt. Ulbricht wollte ihn wegen ebendieser schwer zu kontrollierenden Nestwärme abreißen lassen.
Den Kunsthistoriker Haeder beschäftigt vor allem die Baugeschichte von den Anfängen bis in die NS-Zeit hinein. Die Planungen von Lenné und Hobrecht, die Ziegelei auf dem späteren Helmholtzplatz, das Obdachlosenasyl in der Fröbelstraße und das Bötzowviertel, die Gasanstalt, der Zentralviehhof, die Brauereien, Kirchen, Friedhöfe, die Hochbahn, die Taut-Siedlung, der Mauerbau: selten sind so materialreiche Darstellungen so lesenswert. Manchmal freilich wünscht man sich mehr als die streng objektive Beschreibung. Zur Geschichte des von Döblin besungenen Blankensteinschen Zentralviehhofs gehört leider auch, daß die meisten seiner Reste heute kurz davor stehen, abgerissen und überbaut zu werden.
Der Band besticht durch das spannungsvolle Verhältnis von Text und Bild. Die sachlich-melancholische Fotografien Ulrich Wüsts, die zum Teil vor 1989 entstanden sind, illustrieren die erste und erzählen zugleich eine zweite Geschichte. Als der gelernte Architekt Anfang der achtziger Jahre an den stillen, vergessenen, beschädigten Orten der Stadt deren Geschichte mit dem Fotoapparat nachging, war das noch ungewöhnlich. Wüst näherte sich den Bauten und ihren Details nicht voyeuristisch, sondern - bei allem künstlerischen Selbstbewußtsein - ehrfüchtig. Diese Haltung trägt bis heute. Eine der Fotografien zeigt ein gründerzeitliches gußeisernes Säulenkapitell am S-Bahnhof Greifswalder Straße; die lakonische Bildunterschrift besagt: inzwischen abgerissen. Auf der Seite daneben ein fast identisches Kapitell im nach vielen Bürgerprotesten unlängst doch für den Autoverkehr geöffneten Gleimtunnel.
Aber kein noch so gutes Buch, das nicht auch zu kritisieren wäre. Den Schrifttypus des Buches, die "AvantGarde", kann man ästhetisch reizvoll finden, aber im vorliegenden Buch ist er aus Gründen der Lesbarkeit wohl die falsche Wahl. Schlichtweg unverzeihlich aber, vor allem angesichts des stolzen Preises, ist das Fehlen eines Orts- und Namensregisters.
Alexander Haeder/Ulrich Wüst: "Prenzlauer Berg". Besichtigung einer Legende. edition q, Berlin 1994. 307 S., Abb., geb., 148,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main