Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2024Stummer Dank
Suzie Millers Roman "Prima facie" um eine Rechtsanwältin
Tessa Ensler ist eine engagierte und überzeugte Strafverteidigerin in London. Aus ärmlichen Verhältnissen hat sie es nach Cambridge geschafft und konnte sich gegen Kommilitonen durchsetzen, in deren Familien der Anwaltsjob vererblich erscheint. Ihr Spezialgebiet ist die Verteidigung mutmaßlicher Sexualstraftäter, an deren Schuld sie in ihrer professionellen Distanz kein Interesse zeigt. Im Kreuzverhör mit mutmaßlichen Opfern kennt sie keine Gnade und übt sich in rhetorischen Tricks, um Zeugenaussagen unglaubwürdig erscheinen zu lassen; sie sieht sich gar als Meisterin in diesem Handwerk, mit dem sie glaubt, Gerechtigkeit walten zu lassen: "Wir glauben an Gerechtigkeit. Wir glauben an das Gesetz."
Schlagartig ändert sich diese Sichtweise, als sie in der Mitte der Handlung von "Prima facie", dem Romandebüt der australischen Schriftstellerin Suzie Miller, selbst Opfer einer Vergewaltigung wird. Julian Brookes heißt der Täter, ausgerechnet ein Kollege in der Kanzlei, für die Tessa arbeitet. Das Ereignis dreht ihr Leben auf links: Aus der eloquenten Verteidigerin wird ein stammelndes Opfer, dem es trotz seiner juristischen Erfahrung nicht gelingt, den Täter zu überführen. Denn Tessa steht jetzt selbst im Zeugenstand und sieht sich überheblichen Verteidigern gegenüber, die jeden Fehler bei der Aussage zum Angriff auf ihre Glaubwürdigkeit nutzen.
Suzie Millers Roman basiert auf ihrem gleichnamigen Theaterstück, das mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Schauspielerin Jodie Comer ("Killing Eve") erhielt im vergangenen Sommer für die Aufführung des Einpersonendramas im West End Theatre in London einen Tony Award für den besten weiblichen Hauptdarsteller. Der anhaltende Erfolg des Stücks im englischsprachigen Raum inspirierte Miller nun zur epischen Verarbeitung des Stoffs.
Knapp 350 Seiten braucht sie dabei für ein Geschehen, das sie immer wieder mit Zeitsprüngen in die Vergangenheit erzählt, um im Kontrast dazu die Aufstiegsgeschichte ihrer Protagonistin zu schildern. Das fordert dem Leser einen langen Atem ab, denn Miller hat sich nicht nur vorgenommen, über ihre Ich-Erzählerin den Umgang mit Opfern sexueller Gewalt im britischen Rechtssystem zu kritisieren, sie will zugleich auch den Klassenkonflikt zwischen Tessa Ensler und den Rest ihrer Anwaltskollegen thematisieren.
Die fehlende Sensibilität im beruflichen Umfeld gegenüber Menschen aus anderen sozialen Milieus und Tessas große Empathie für Putzfrauen oder Taxifahrer lässt Millers Protagonistin aber - sicherlich ungewollt - narzisstisch erscheinen. Ist sie doch die Einzige, die sich in beiden Welten immer exzellent zu verhalten weiß, aber trotzdem mit einiger Unsicherheit zu kämpfen hat: "Als die Putzfrau mit Alices Mülleimer den Raum verlässt, schaue ich sie an. Forme lächelnd ein stummes Danke mit dem Mund." Gleichzeitig wird der ihr fehlende Stallgeruch dem Leser überdeutlich skizziert: "Denn die Wahrheit ist, dass ich diese Mädchen über Jahre studiert habe, sogar Mia. Ich habe beobachtet, wie sie sich verhalten, sich nicht verstecken, voller Selbstbewusstsein das Wort ergreifen, sich sicher fühlen."
Dieser Konflikt wird in einer Vielzahl früherer Episoden dargestellt, bevor es zum eigentlichen Höhepunkt der Geschichte kommt: die alles verändernde Vergewaltigung. Bei der nachfolgenden Verhandlung erweist sich die Lektüre dank des erhöhten Erzähltempos als wesentlich interessanter.
Am Ende zeigt sich Tessa trotz enormer Anspannung als "krasse Kämpferin", wie es ihre Schwester in Millers milieugerechter Sprache ausdrückt. Eine finale politische Botschaft soll dann auf den letzten Seiten die moralische Relevanz des Romans unterstreichen - man könnte auch sagen, den Leser davor bewahren, sich zu sehr mit den großen Schwächen der Erzählung auseinanderzusetzen. HENDRIK BUCHHOLZ
Suzie Miller: "Prima facie". Roman.
Aus dem Englischen von Katharina Martl. Kjona Verlag, München 2024. 352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Suzie Millers Roman "Prima facie" um eine Rechtsanwältin
Tessa Ensler ist eine engagierte und überzeugte Strafverteidigerin in London. Aus ärmlichen Verhältnissen hat sie es nach Cambridge geschafft und konnte sich gegen Kommilitonen durchsetzen, in deren Familien der Anwaltsjob vererblich erscheint. Ihr Spezialgebiet ist die Verteidigung mutmaßlicher Sexualstraftäter, an deren Schuld sie in ihrer professionellen Distanz kein Interesse zeigt. Im Kreuzverhör mit mutmaßlichen Opfern kennt sie keine Gnade und übt sich in rhetorischen Tricks, um Zeugenaussagen unglaubwürdig erscheinen zu lassen; sie sieht sich gar als Meisterin in diesem Handwerk, mit dem sie glaubt, Gerechtigkeit walten zu lassen: "Wir glauben an Gerechtigkeit. Wir glauben an das Gesetz."
Schlagartig ändert sich diese Sichtweise, als sie in der Mitte der Handlung von "Prima facie", dem Romandebüt der australischen Schriftstellerin Suzie Miller, selbst Opfer einer Vergewaltigung wird. Julian Brookes heißt der Täter, ausgerechnet ein Kollege in der Kanzlei, für die Tessa arbeitet. Das Ereignis dreht ihr Leben auf links: Aus der eloquenten Verteidigerin wird ein stammelndes Opfer, dem es trotz seiner juristischen Erfahrung nicht gelingt, den Täter zu überführen. Denn Tessa steht jetzt selbst im Zeugenstand und sieht sich überheblichen Verteidigern gegenüber, die jeden Fehler bei der Aussage zum Angriff auf ihre Glaubwürdigkeit nutzen.
Suzie Millers Roman basiert auf ihrem gleichnamigen Theaterstück, das mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Schauspielerin Jodie Comer ("Killing Eve") erhielt im vergangenen Sommer für die Aufführung des Einpersonendramas im West End Theatre in London einen Tony Award für den besten weiblichen Hauptdarsteller. Der anhaltende Erfolg des Stücks im englischsprachigen Raum inspirierte Miller nun zur epischen Verarbeitung des Stoffs.
Knapp 350 Seiten braucht sie dabei für ein Geschehen, das sie immer wieder mit Zeitsprüngen in die Vergangenheit erzählt, um im Kontrast dazu die Aufstiegsgeschichte ihrer Protagonistin zu schildern. Das fordert dem Leser einen langen Atem ab, denn Miller hat sich nicht nur vorgenommen, über ihre Ich-Erzählerin den Umgang mit Opfern sexueller Gewalt im britischen Rechtssystem zu kritisieren, sie will zugleich auch den Klassenkonflikt zwischen Tessa Ensler und den Rest ihrer Anwaltskollegen thematisieren.
Die fehlende Sensibilität im beruflichen Umfeld gegenüber Menschen aus anderen sozialen Milieus und Tessas große Empathie für Putzfrauen oder Taxifahrer lässt Millers Protagonistin aber - sicherlich ungewollt - narzisstisch erscheinen. Ist sie doch die Einzige, die sich in beiden Welten immer exzellent zu verhalten weiß, aber trotzdem mit einiger Unsicherheit zu kämpfen hat: "Als die Putzfrau mit Alices Mülleimer den Raum verlässt, schaue ich sie an. Forme lächelnd ein stummes Danke mit dem Mund." Gleichzeitig wird der ihr fehlende Stallgeruch dem Leser überdeutlich skizziert: "Denn die Wahrheit ist, dass ich diese Mädchen über Jahre studiert habe, sogar Mia. Ich habe beobachtet, wie sie sich verhalten, sich nicht verstecken, voller Selbstbewusstsein das Wort ergreifen, sich sicher fühlen."
Dieser Konflikt wird in einer Vielzahl früherer Episoden dargestellt, bevor es zum eigentlichen Höhepunkt der Geschichte kommt: die alles verändernde Vergewaltigung. Bei der nachfolgenden Verhandlung erweist sich die Lektüre dank des erhöhten Erzähltempos als wesentlich interessanter.
Am Ende zeigt sich Tessa trotz enormer Anspannung als "krasse Kämpferin", wie es ihre Schwester in Millers milieugerechter Sprache ausdrückt. Eine finale politische Botschaft soll dann auf den letzten Seiten die moralische Relevanz des Romans unterstreichen - man könnte auch sagen, den Leser davor bewahren, sich zu sehr mit den großen Schwächen der Erzählung auseinanderzusetzen. HENDRIK BUCHHOLZ
Suzie Miller: "Prima facie". Roman.
Aus dem Englischen von Katharina Martl. Kjona Verlag, München 2024. 352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main