Sind wir zum Egoismus verdammt? Oder gehört auch die Moral zu unserer Natur? Der Verhaltensforscher Frans de Waal präsentiert überraschende Antworten auf philosophische Fragen. Forschungen mit Affen haben seine Vermutung bestätigt, dass moralisches Verhalten evolutionäre Vorteile sichert, die für Tiere genauso bedeutsam sind wie für Menschen. Er widerlegt damit die Vorstellung, Menschen seien schon auf genetischer Ebene als egoistische Wesen konzipiert. Der Band stellt de Waals Theorien vor und dokumentiert die daran anschließende Diskussion.
Frans de Waal möchte wissen, wie die Moral unter Primaten entstanden ist / Von Helmut Mayer
Wir sprechen manchmal davon, dass ein Mensch sich "wie ein Tier" verhalten habe. Es ist eine Formel des moralischen Abscheus. Gegenüber Menschen, nicht gegenüber Tieren. Letzteren werfen wir nicht vor, sich ihrer Natur und momentanen Affektlage gemäß zu verhalten. Unterläuft das dagegen Menschen, trifft sie der Vorwurf.
Auf das Tier fällt dabei kein gutes Licht. Was bei ihnen Instinkt und Affekt ist, das scheint in diesem Vergleich immer auf etwas hinauszulaufen, das in der Welt menschlicher Handlungen moralisch verwerflich ist. Moralität wäre danach, was dem tierischen Verhalten, also auch unserem eigenen tierischen Erbteil, strikt entgegengesetzt ist. Etwas, das zwar zu diesem Erbteil hinzukommt, ihm aber äußerlich bleibt: eine kulturelle Hülle, die einen rohen natürlichen Kern umschließt, der hin und wieder nach außen fatal durchschlagen kann.
Fassadentheorie nennt Frans de Waal diese Vorstellung vom menschlichen Wesen, und dem renommierten Affenforscher geht es darum, ihre Unhaltbarkeit vor Augen zu führen: dass Moralität also nicht lediglich eine späte kulturelle Zugabe zum Zweck der mühsamen Einhegung widerstrebender Naturanlagen ist, sondern sich aus ebendiesen Anlagen irgendwie entwickelt hat. Diese Grundthese lässt freilich schon ahnen, womit de Waal in seinen nun auf Deutsch erschienenen "Tanner-Lectures on Human Value" als Erstes zu kämpfen hat: halbwegs interessante zeitgenössische Gegenpositionen auszumachen, von denen sich zu Recht behaupten lässt, dass sie auf eine solche Fassadentheorie menschlicher Natur hinauslaufen.
Wirklich erfolgreich ist er dabei nicht. Warum sollte man sich schließlich auch prinzipiell darauf festlegen wollen, dass unsere moralischen Kompetenzen sich gegen einen evolutionär herausgebildeten vorkulturellen Zustand unserer Natur durchgesetzt haben. Naheliegender ist es wohl, sie wie unsere anderen Fähigkeiten auch vor dem Hintegrund einer evolutionären Geschichte zu sehen, die sich spätestens für die Hominiden gar nicht mehr so einfach in Natur- und Kulturgeschichte aufspalten lässt. Zumal damit vorerst gar nicht viel behauptet ist. Denn die wirklich entscheidende Frage bleibt dabei offen: Wie man sich diese Herausbildung eines moralischen Sinns denn nun konkret vorstellen sollte. Wer sich für graduelle evolutionäre Übergänge stark macht, kann da immer noch schnell ins Schwimmen kommen.
De Waals Antwort auf diese Frage bleibt vor allem deshalb unscharf, weil er sich einen leichten Gegner zurechtmacht. Fassadentheorie meint bei ihm letztlich, dass der in ihr vorgestellte tierische Kern strikt asozial ist und nur die blinde, vollkommen unkooperative Durchsetzung von Überlebens- und Dominanzinteressen steuert. Dann ist aber im Gegenzug auch klar, dass weder Tier- noch Menschenaffen als Beispiel für einen solchen Naturzustand herhalten können: Natürlich sind sie als soziale Tiere zu beschreiben, und de Waal hat selbst einige faszinierende Züge zu diesen Beschreibungen beigetragen.
Aber wie lässt sich ein Weg beschreiben, der bei diesen Formen tierischer Sozialität beginnt und bei menschlicher Moralität endet? De Waal setzt dafür auf die bereits bei Affen ausgebildeten Fähigkeiten, sich in ihre Artgenossen hineinzuversetzen. Formen "emotionaler Ansteckung" lassen sich schon bei Tieraffen beobachten, während Menschenaffen Weisen des Einfühlens in den Gefühlszustand und die Absichten ihrer Genossen erkennen lassen, die mit kognitiven Zügen verknüpft sind: Ein Schimpanse kann zum Beispiel durchaus wissen, dass der Rivale nicht weiß, dass er selbst weiß, wo der Versuchsleiter den Leckerbissen versteckte - und sich entsprechend verhalten.
Als Basis der empathischen Fähigkeiten nimmt de Waal eine Art von Spiegelmechanismus an, der dafür sorgt, dass beim Beobachter, der bestimmte Zustände seines Artgenossen wahrnimmt, genau jene neuronalen und körperlichen Repräsentationen aktiviert werden, die diesen Zuständen entsprechen. Das lässt sich neurowissenschaftlich an die Annahme von Netzen sogenannter Spiegelneuronen knüpfen. Es ist dieser körperlich-emotive Kern von Empathie im sozialen Austausch, an den sich für de Waal dann kognitive Erweiterungen anlagern, die in Richtung unserer moralischen Vorstellungen von Reziprozität, Fairness und Angemessenheit weisen: Anbahnungen menschlicher Moralität, die selbst auf diesen emotiven Voraussetzungen aufbaut.
Soweit das bloß meint, dass die uns geläufigen Formen moralischer Praxis auf sozialen Kompetenzen aufruhen, die wiederum ohne evolvierte Formen des Wissens um die "inneren" Empfindungen und Einstellungen der anderen hinfällig wären, lässt sich dagegen absolut nichts sagen. Interessanter ist die Frage, wie weit man mit den auf Empathie gegründeten "sozialen Instinkten" bei Primaten an Verhaltensweisen herankommt, die man zu Recht unter moralischer Perspektive betrachten kann. Die von de Waal angeführten Beobachtungen sollen vor Augen führen, dass Affen in dieser Hinsicht bereits einige erstaunliche Verhaltensweisen demonstrieren.
Meist haben diese Beobachtungen anekdotischen Charakter, aber auch einige Experimente sind dabei. Darunter eines mit Kapuzineräffchen, denen beigebracht wird, Spielmarken gegen Nahrungshäppchen als Belohnung zu tauschen. Für Gurkenstückchen hält sich ihre Begeisterung dabei eher in Grenzen, während Trauben von ihnen sehr begehrt sind. Im Experiment wurde dann untersucht, wie die Affen bei diesem Tauschspiel reagierten, wenn sie einen anderen Affen beobachten konnten, der die delikaten Trauben umsonst, also ohne die Gegenleistung von Jetons bekam: Bot man ihnen danach die minderen Gurkenstückchen an, verweigerten sie den Tausch oder warfen die Belohnung samt Spielmarke gar aus dem Versuchskäfig. Ein Kontrollversuch konnte bestätigen, dass tatsächlich die kostenlose Vergabe an andere Affen diese Verweigerung auslöste.
Für de Waal lässt das Ergebnis erkennen, dass bereits bei diesen Tieraffen Erwartungshaltungen ausgebildet werden, die sich aus einer vergleichenden Bewertung von Leistungen ergeben. Die Protestreaktionen der Kapuzineräffchen zeigen implizit, wie die Nahrung fair hätte verteilt werden sollen, um das Spiel in Gang zu halten - und solche "Sollwerte" verweisen auf den Bereich der Moral.
Beweisen die Kapuzineräffchen am Ende sogar Gerechtigkeitssinn? Der Philosoph und Kenner evolutionstheoretischer Debatten Philipp Kitcher erinnert in seinem Kommentar daran, dass de Waal einer solchen Deutung ursprünglich nicht ganz abgeneigt war. Aber Proteste benachteiligter Parteien seien nun einmal kein besonders überzeugender Beleg für Gerechtigkeitsgefühl.
Solche kleinen Scharmützel um überzogene Deutungen einiger Beobachtungen und Experimente liegen aber nur am Rande der kritischen Einwendungen, mit denen de Waal von philosophischer Seite konfrontiert wird. Sowohl Kitcher wie auch Christine Koorsgaard und Peter Singer - eine exzellente Besetzung - halten sich ans Wesentliche. Für die attackierte Fassadentheorie haben alle drei nichts übrig, und dass moralische Kompetenzen sich irgendwie entwickelt haben müssen, stellen sie nicht in Abrede. Aber von de Waals konkreten Vorschlägen, Moral als Weiterentwicklung sozialer Instinkte aufzufassen, sind sie nicht beeindruckt.
Ihre Einwände zielen auf zu schnell gemachte Übergänge. Sie halten gegen die bei de Waal im Hintergrund stehende Annahme, dass Moralität letztlich auf eine Form von Altruismus, nämlich auf die Entwicklung von idiosynkratischem Mitgefühl, hinauslaufe: Die Entwicklung solcher Empathie mag notwendig sein, aber der Weg zur Moral ist damit nicht gleich gebahnt (Kitcher). Sie rücken die Annahme zurecht, dass Tieren überhaupt die Durchsetzung von Interessen zugesprochen werden kann, und nehmen die Vorstellung aufs Korn, wonach die Moral einer Handlung eine Sache der in ihr realisierten Absichten sei: Dass wir uns zu unseren Absichten wertend verhalten, eröffnet erst das Terrain von Moralität (Koorsgaard). Und sie erinnern an eine grundlegende Unterscheidung: Evolutionäre Voraussetzungen von Kompetenzen herauszufinden ist nicht zu verwechseln mit der Ableitung dieser Kompetenzen aus den evolutionären Wurzeln (Singer).
Durch die Kommentare, auf die de Waal zum Schluss noch einmal antwortet, gewinnt der Band ungemein. Er bietet eine gute Gelegenheit, sich mit evolutionsbiologisch grundierten Ansprüchen unserer Selbstdeutung auseinanderzusetzen. Festhalten kann man ja daran, dass unter den Bedingungen wachsender Lebenserfahrung die zoologische Perspektive auf unseren sozialen Austausch an Triftigkeit gewinnt: Wobei man nur im Auge haben sollte, dass unser Vergnügen an einer solchen Betrachtung aus genau dieser Perspektive sich nicht erhellt. Zurück führt eben kein Weg.
Frans de Waal: "Philosophen und Primaten". Wie die Evolution die Moral hervorbrachte. Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert, Birgit Brandau und Klaus Fritz. Carl Hanser Verlag, München 2008. 224 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Nicht ganz klar wir, ob Christian Thomas sich in dieser Rezension auf mehrere Bücher des Primatenforschers Frans de Waal bezieht oder nur auf "Primaten und Philosophen". Im neu erschienenen Werk untersucht de Waal jedenfalls die Frage nach dem Zustandekommen der "Sozialität der menschlichen Natur". Dabei geht er davon aus, dass menschliches Handeln immer mit dem Verhalten des Mitmenschen zu tun hat. Daraus lässt sich eine positive und eine negative Erkenntnis für den "Menschen als Gemeinschaftstier" gewinnen: Zum einen entsteht moralisches Handeln aus sozialen Emotionen; zum anderen entsteht das Gemeinschaftsgefühl durch Abgrenzung von Fremdem. Inwiefern diese menschlichen Eigenschaften auch auf Tiere angewandt werden können, diskutiert de Waals mit vier Forschern, deren Hintergrund nicht weiter erläutert wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"De Waal ist der Humanist unter den Verhaltensforschern und setzt dem Prinzip Eigennutz Mitleid, Einfühlung, Interesse und Selbstlosigkeit entgegen." Richard David Precht, Der Spiegel, 06.10.08 "Frans de Waal ergründet, wie sehr biologische Gemeinschaften Vorläufer unserer Gesellschaft sind und dessen, was als ihr wichtigster Kitt gilt: Die Moral. Der führende Primatologe weist nach, wie sehr soziale Gefühle bereits das Zusammenleben von Schimpansen und Bobos prägen." Andreas Weber, Die Zeit, 09.10.08 "Ist die Moral dem Menschen vorbehalten oder findet sie sich auch im Tierreich? Frans de Waal gibt darauf eine kluge Antwort. Sein Buch bietet nicht nur Einblick in einen bisher unterbelichteten Bereich des tierischen Verhaltens, sondern mahnt uns, nicht alles Leben nach menschlichen Kategorien zu bewerten." Thomas Groß, Die Welt, 11.10.08 "De Waal bringt den von der Philosophie eingeordneten Kompass gehörig durcheinander. ... Unvergesslich dabei eine wunderbare Anekdote: So beobachtete de Waal eines Tages ein Bonoboweibchen, das einem kleinen, hilflos hingesunkenen Vogel aufhalf - auf dass das so ganz andere Wesen wieder fliege." Christian Thomas, Frankfurter Rundschau, 14.10.08