Produktdetails
  • Verlag: Philo
  • ISBN-13: 9783825700614
  • ISBN-10: 3825700615
  • Artikelnr.: 20969271
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2000

Wer ist Corso Galileo Ferraris?
Zettelkasten: Myriam Anissimovs Biographie über Primo Levi

Am 19. Oktober 1945 kam Primo Levi nach Turin zurück. Er hatte - wie durch ein Wunder - das Arbeitslager Buna-Monowitz überlebt, das organisatorisch eine Art Dépendance von Auschwitz war. Der jüdische Glaube war dem naturwissenschaftlich gebildeten Agnostiker weitgehend gleichgültig. Wie so viele machten auch ihn erst die Rassegesetze und die Internierung im Sammellager Carpi nördlich von Modena zum bewussten "Juden". Wie die Verfolgung eine Identität herstellte, die zunächst nicht die seine war, so machte das Überleben den Chemiker zum Schriftsteller, der Zeugnis ablegen wollte. Nach langer Irrfahrt tat er, wovon er im Lager geträumt hatte: "Heimkehren, Essen, Berichten."

Im weiteren Sinn tat er es sein restliches Leben lang, bis zu jenem 11. April 1987, an dem der damals Siebenundsechzigjährige im Treppenschacht seines Turiner Wohnhauses aus ungeklärten Gründen zu Tode stürzte. "Se questo è un uomo" ("Ist das ein Mensch?", 1947, deutsch 1961) oder "La tregua" ("Atempause", 1963, deutsch 1964) gehören zu diesen Zeugnissen. Wenn wir uns in die Berichte von der Höllenwelt vertiefen, ereilt auch uns, wie Levi, das schlechte Gewissen der Lebenden gegenüber den Toten. Es wird von einer zusätzlichen Frage beschwert: Ist es angesichts einer Schilderung der entsetzlichsten Ereignisse angemessen, ja zulässig, über Druckfehler, Sprache und Grammatik, über Nuancen einer Übersetzung zu rechten?

Primo Levi selbst rechtfertigt uns. Er war, seine Biographin Myriam Anissimov betont es immer wieder, ein Perfektionist: "Sein Bedürfnis nach Klarheit, Genauigkeit und Eindeutigkeit erklärt sich aus seiner Erfahrung als Chemiker." In der Tat: die Größenordnung seiner Messungen lag im Molekularbereich, und seine Präzision - auch die des Ausdrucks - lag, für einen Laien, an der berufstypischen Grenze zur Zwangsneurose. Die Wahrheit steckt in der Genauigkeit. Kann der präzise Levi im Vorwort eines Bildbands den erkennbaren Unsinn behauptet haben, Turin habe "heute" - man schrieb das Jahr 1984 - "innerhalb von nur zwei oder drei Jahren fast sechshunderttausend Immigranten aufgenommen"? Levi meinte die Zuwanderer aus Süditalien der drei Jahrzehnte seit Kriegsende, nicht "Immigranten" aus dem Ausland. Wenn Frau Anissimov aus einer leicht zugänglichen Quelle falsch zitiert, was soll man dann von ihren schwieriger überprüfbaren Zahlenangaben im Zusammenhang mit dem Holocaust halten?

Die in Paris lebende Autorin - "1943 in einem Flüchtlingslager in der Schweiz geboren"-, die ihre Levi-Biographie ihren von den Nazis ermordeten Verwandten widmet, erweist dem Schriftsteller einen Bärendienst. Im Kontext der schludrigen Quellenauswertung wird selbst das Nachgewiesene in eine Aura des Zweifelhaften getaucht. Dazu gehört auch, dass Frau Anissimov, als hätten noch postum die Täter Recht, Begriffe der Nazi-Ideologie (ohne Anführungszeichen) verwendet, als halte sie sie für gültig, was sie doch gewiss nicht tut. Das Buch ist als vage Information, aber nicht als historisches Quellenwerk zu brauchen.

Das ist ein schwerer Vorwurf, und wir wollen ihn an einigen Beispielen darstellen. Dabei kann der Autorin nicht einmal zugute gehalten werden, dass sie unzureichend übersetzt wurde. Aus dem Impressum erfährt man, dass die deutsche Version "an vielen Stellen inhaltlich korrigiert und ergänzt" wurde, und wir wagen uns nicht vorzustellen, wie fehlerhaft das Original sein mag, das 1996 in Paris erschien. Dass die Originalform fremdsprachiger Namen beizubehalten ist, für die es nicht - etwa "Venedig" - eine deutsche Entsprechung gibt, gehört in die Klippschule des Übersetzens. In diesem Buch bewegt sich Levi durch eine Topographie, der man abliest, dass weder die Autorin noch die Übersetzer einen Blick auf eine italienische Landkarte geworfen haben. Aus dem Valmasino, einem Seitental des Veltlin, wird das "Mazino-Tal", aus Chiesa di Valmalenco wird "Chiesa an der Schweizer Grenze" - es ist kein Grenzort. Dort versucht der junge Levi den Piz Disgrazia zu besteigen, der Monte Disgrazia heißt, und weil das Tal ein Sperrbezirk für "Juden" ist, werden sie abends, es geht kein Bus mehr, von einem "Wachtmeister" - vermutlich einem Carabiniere - zur Rede gestellt: "Wir könnten höchstens zu Fuß nach Turin runterlaufen, das außerhalb des Zehn-Kilometer-Bezirks liegt", zitiert Anissimov aus einem Bericht Levis den Vorschlag von dessen Kletterpartner. Turin liegt knapp dreihundert Kilometer entfernt. Gemeint ist vermutlich Sondrio.

Bisher waren wir der Ansicht, dass Chronologie und Geographie bei der Arbeit eines Biographen eine Rolle spielen. Anissimov handhabt das Medium anders. Sie lässt den Leser erraten, wann was wo mit wem geschehen ist. Eine der Meisterleistungen im Rätselerfinden ist die Entdeckung eines bislang unbekannten Freundes von Primo Levi. Neben Bianca Guidetti Serra und Eugenio Gentili Tedeschi taucht ein gewisser Corso Galileo Ferraris auf. Wer ist denn das? Es ist eine der großen Straßen Turins, benannt nach einem bedeutenden Physiker. Zum Ausgleich lässt die Autorin bisweilen wirkliche Personen ohne Vornamen auftreten. Nur mit Hilfe von Spezialliteratur wird man einen Senator Della Torre oder einen Professor Ponzio identifizieren können, denn diese Namen sind nicht eben selten. In Osteuropa ist das Durcheinander von eingedeutschten und polnisch belassenen Ortsnamen nicht zu entwirren.

Diese Biographie entzieht dem Leser die Sicherheit ernsthaft recherchierter Fakten, hat aber dafür die Sicherheit der Überzeugungen. Sie beginnt mit einer Behauptung, die selbst die flüchtigsten italienischen Journalisten mit einem leichten Fragezeichen versahen: Levi stürzte "sich" in den Tod. Es bedurfte nicht der Rekapitulation der Fakten durch Diego Gambetta in der Literaturzeitschrift "Belfagor" (Nr. 3, 1999), um Levis Sturz, der keine Zeugen hatte, als rätselhaft und wohl für immer ungeklärt anzusehen. Die Selbstmord-These ist ebenso wenig beweisbar wie die Unfall-These. Es erübrigt sich deshalb, auf mystische Vorausahnungen einzugehen. Statt aus einer Analyse der nicht widerspruchsfreien Persönlichkeit Levis eine vorsichtige Hypothese über die Todesursache zu wagen, zieht Frau Anissimov aus dem für zweifelsfrei gehaltenen Selbstmord Schlüsse auf die psychische Konstitution ihres Opfers. Nicht weil ihn das Auschwitz-Trauma nicht losgelassen hat, brachte er sich vier Jahrzehnte später um, sondern weil er sich umbrachte, weiß Anissimov, dass er das Auschwitz-Trauma "letztlich" doch nicht verarbeitet hat.

Dabei lässt Levis Werk eher den gegenteiligen Schluss zu: dass es sein moralischer Rigor war, der ihm sowohl das Überleben wie die Objektivierung der Leiden im literarischen Protokoll ermöglichte, und nicht ein animalischer Überlebenswille. Der Vergleich Levis mit anderen autobiographischen Schriftstellern, die Auschwitz überlebt haben, lehrt, dass seine Haltung bewundernswert ist, aber nicht die einzige Überlebensstrategie. Insbesondere Roman Fristers als autobiographischer Roman deklariertes Werk "Die Mütze oder Der Preis des Lebens" (1998) kann als Antithese zu Levis "Se questo è un uomo" gelesen werden. Frister verhält sich eingestandenermaßen opportunistisch und belegt an sich selber die Ungeheuerlichkeit: dass die unmenschlichen Täter auch die Opfer zu Unmenschen machten. Sie nahmen ihnen das Leben, aber zuvor Würde und Moral. Einen Moralisten wie Norberto Bobbio plagt heute das Gewissen, weil er nicht das Zeug zum Helden hatte und den Weg der Anpassung ging. Wer kann sich heute darüber ein Urteil anmaßen?

DIETMAR POLACZEK

Myriam Anissimov: "Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten". Eine Biographie. Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Lou Gerstner, Peter Punin und Ronald Voullié. Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 1999. 640 S., Abb., geb., 59,80 DM.

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