Ein unbezahlter Wechsel und seine fatalen Folgen - als sich Don Tomàs de Lloberola, das kauzig-hypochondrische Oberhaupt einer verarmten Barceloneser Adelsfamilie, weigert, für die Spielschulden seines ältesten Sohnes Frederic zu bürgen, provoziert er mit seiner Entscheidung eine Reaktion mit weitreichenden Konsequenzen... In seinem bekanntesten Roman (erschienen 1932) beschreibt Josep Maria de Sagarra, der selbst der katalanischen Aristokratie entstammt, mehr als nur den finanziellen und moralischen Niedergang der mittellosen, aber stolzen Lloberolas. »Privatsachen« ist zugleich ein emblematischer Schlüsselroman von epischer Breite, der alle Gesellschaftsschichten Barcelonas umfasst: anachronistisch wirkende Aristokraten und neureiche Emporkömmlinge, geschäftstüchtige Konkubinen und falsche Heilige. Wortgewaltig, spöttisch bis zur Blasphemie und mit großer, kraftvoller Bildhaftigkeit blickt Sagarra auf das Doppelleben seiner Protagonisten hinter der wohlanständigen Fassade strenger Konventionen - und entlarvt auf diese Weise die Amoralität und Scheinheiligkeit des katalanischen Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Politik, Wirtschaft und Moral als Privatangelegenheit ansieht, aus der es möglichst großen persönlichen Nutzen zu ziehen gilt. Sagarra ist Chronist des radikalen Wandels von der Feudal- zur Industriegesellschaft, der soziale Machtverhältnisse auf den Prüfstand stellt und neu definiert. Den Resonanzboden des Romans bildet eine für Barcelona bedeutsame historische Zäsur: der Übergang von der Diktatur zur kurzlebigen Republik. Für kurze Zeit geben sich die Katalanen der Illusion einer politischen Emanzipation hin; Spaniens nationale Katastrophe, der Bürgerkrieg der Jahre 1936-1939, scheint zu diesem Zeitpunkt noch fern. Obwohl die Novellistik in Sagarras Gesamtwerk eine eher untergeordnete Rolle spielte, avancierte »Privatsachen« zu einem Klassiker der Moderne. Nachdem der Roman zunächst der Zensur der Franco-Diktatur anheim gefallen war, gilt er seit seiner 'Wiederentdeckung' unbestritten als Meilenstein der katalanischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.06.2009Der Reigen der Laster
Im fiebrigen Barcelona: Josep Maria de Sagarras Skandalroman „Privatsachen”
Im Jahr 1925 ruft Josep Maria de Sagarra die Schriftsteller seines Landes auf, endlich die „Angst vor dem Roman” zu überwinden und Bleibendes auch jenseits der Lyrik zu schaffen. „Das katalanische Publikum verlangt unmissverständlich und mit geradezu verzweifeltem Aufschrei, dass man ihm Romane liefert”, schreibt Sagarra in einem Zeitungsartikel. Er ist 31 Jahre alt, selbst ein bekannter Lyriker und Theaterautor und fordert „Personen guten Willens, die bereit sind, mit dem Verfassen von Romanen zu beginnen”. Der Aufruf ist Baustein eines kollektiven Traums. Das katalanische Nationalbewusstsein war seit Jahrzehnten beständig gewachsen, die heimische Kultur zog mit. Nur die Prosa hinkte hinterher. Und ohne e hausgemachte Romane würde Katalonien kaum zu anderen Kulturnationen aufschließen können.
Sagarra wollte selbst dazu beitragen. Er plante ein episches Werk, das vom zurückliegenden Jahrhundert katalanischer Geschichte im Spiegel verschiedener Milieus erzählen sollte. Das Vorhaben schien ihm so gewaltig, das er zunächst einmal trainieren wollte. Doch das Training im Sommer 1932 lief ihm aus dem Ruder. Nach zwei Monaten rastloser Arbeit hatte er ein 400seitiges Manuskript vor sich. Dessen Handlung umspannte zwar nur sechs bis sieben Jahre, aber es war panoramatisch, geschliffen und pikant genug für eine Veröffentlichung. „Vida privada” wurde zu einem Schlüssel- und Skandalwerk über Barcelonas feine Gesellschaft, zu einem „nationalen” Bestseller. Bis heute gilt er als bedeutendes literarisches Porträt der katalanischen Hauptstadt. Dass „Privatsachen” nun endlich auf deutsch vorliegt, ist auch eine Spätfolge von Kataloniens Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2007. Das katalanische Kulturinstitut förderte seinerzeit die Übersetzung als Teil seiner Image-Kampagne, in der wiederum die nationale Identität eine wichtige Rolle spielte.
Es ist allerdings nicht ohne Ironie, „Privatsachen” als Beleg für Kataloniens Größe anzusehen – damals wie heute. Denn der Roman handelt im Grunde von nichts anderem als von Dekadenz und Degeneration. Sagarra stellt eine dünkelhaft-dümmliche Adelsfamilie in den Vordergrund, umgibt deren Mitglieder aber mit genügend Begleitpersonal, um vom Einzelfall auf die Klasse und von der Klasse aufs Menschenmaterial im Allgemeinen zu schließen. Das alternde Oberhaupt der Familie de Lloberola, Don Tomàs, stammt „von dreißig Generationen ab, die nie auch nur einen Strohhalm vom Boden aufgehoben hatten”.
Die eitle Untüchtigkeit hat er geradewegs an seine längst erwachsenen Söhne Frederic und Guillem vererbt, wobei insbesondere der Lebemann Frederic dazu beiträgt, das rapide schrumpfende Restvermögen der Familie gänzlich durchzubringen. Als der verzweifelnde Vater für Frederics jüngste Schulden nicht mehr aufkommen mag, springt überraschend Guillem, der jüngere Bruder, ein: Er erpresst den Gläubiger, einen Baron, weil er – aus eigenem Mittun – über dessen geheime sexuelle Vorlieben bescheid weiß. Das beschwört einen Selbstmord und manche weitere Niedertracht herauf. Und obwohl Frederics jugendliche Kinder den eigenen Vater früh hassen lernen, gehen auch ihre Seelen bald auf Sturzflug ins Unglück.
Die Zuckungen des Überlebten
„Privatsachen” ist zunächst in großem Stil darauf aus, alle niederen Instinkte und alle Laster hinter der hochmögenden Fassade von Barcelonas Elite der späten 1920er Jahre ans Licht zu zerren. Dem intellektuellen Dandy Sagarra – auch er entstammte einer adligen Familie – war sicher vielerlei platte Scheinheiligkeit und mentale Verrohung zuwider. Außerdem beschreibt er die lächerlichen letzten Zuckungen von Denkformen des 19. Jahrhunderts in einer längst modernisierten Welt: das unsinnige Festhalten am alten Ballast bis zum Untergang; aber auch das unsinnige Überbordwerfen der alten Würde für den letzten Schrei.
So kommt niemand ungeschoren davon, der pervertierte Aristokrat so wenig wie der stinkreiche Emporkömmling, die avantgardistische Nackttänzerin so wenig wie der republikanische Funktionär. Sagarra deckt noch an jedem eine schleichende Korrosion, ewige Schwäche oder tiefe Schändlichkeit des Charakters auf. Das macht seinen differenziert entworfenen, schließlich aber undifferenziert ausgewalzten Reigen der Ungenügenden mit der Zeit etwas ermattend. Einzig eine edle Witwe hält Sagarra raus aus dem Sumpf. Sie verströmt für ihn „den Duft der Geschichte” und verkörpert „den Wesenskern eines aristokratischen und geschäftstüchtigen, eines volkstümlichen, stolzen und ein wenig kindischen Barcelona”. Mit anderen Worten: die Wunschvorstellung vom rundum guten Universalkatalanen.
Am Ende krankt „Privatsachen” doch an seiner fiebrigen Entstehung im „Trainingslager”. Die weiträumig orchestrierte und im Gleichgewicht gehaltene Geschichte, die Ton und Stoßrichtung des Buches eigentlich verlangten, gelingt Sagarra nicht. Sein Roman wirkt dramaturgisch wie psychologisch oft roh, nicht recht durchgearbeitet. Mal versenkt er sich nahezu proustianisch ins Ausdeuten feinster sinnlicher Details, dann wieder begnügt er sich mit amüsiert-gehobenem Kolportage-Stil. Doch findet Sagarra immer wieder großartige, verwegene Bilder, um eine Persönlichkeit, eine Stimmung oder ein Ambiente präzise zu beschreiben; darin verrät sich der erfahrene Lyriker. Aber immer wieder wundert man sich auch über eine Art Klassenblindheit, die zum heroisch-kritischen Röntgenblick des Autors nicht zu passen scheint und ihn mitunter auf eher fragwürdige Weise von „skrupellosem Volk” oder „herpesinfizierten Anhängern des Kommunismus” sprechen lässt.
Hätte sich Sagarra die Zeit genommen, aus diesem gewaltig aufbrausenden Text auch ein gewaltiges Werk zu bauen, er hätte solche Flüchtigkeitsfehler bestimmt ausgebessert. Doch er hat diesen Text rasch rausgehauen und sich danach wieder auf Poesie und Theater beschränkt. Vielleicht war er beim Schreiben auch seiner eigenen „Angst vor dem Roman” begegnet. MERTEN WORTHMANN
JOSEP MARIA DE SAGARRA: Privatsachen. Roman. aus dem Katalanischen übersetzt von Felice Balletta und Sven Limbeck. Elfenbein Verlag, Berlin 2009. 416 Seiten, 25 Euro.
Das Publikum für den modernen Roman gab es, er musste nur noch geschrieben werden: Café in Barcelona, 1930 Foto: Scherl
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Im fiebrigen Barcelona: Josep Maria de Sagarras Skandalroman „Privatsachen”
Im Jahr 1925 ruft Josep Maria de Sagarra die Schriftsteller seines Landes auf, endlich die „Angst vor dem Roman” zu überwinden und Bleibendes auch jenseits der Lyrik zu schaffen. „Das katalanische Publikum verlangt unmissverständlich und mit geradezu verzweifeltem Aufschrei, dass man ihm Romane liefert”, schreibt Sagarra in einem Zeitungsartikel. Er ist 31 Jahre alt, selbst ein bekannter Lyriker und Theaterautor und fordert „Personen guten Willens, die bereit sind, mit dem Verfassen von Romanen zu beginnen”. Der Aufruf ist Baustein eines kollektiven Traums. Das katalanische Nationalbewusstsein war seit Jahrzehnten beständig gewachsen, die heimische Kultur zog mit. Nur die Prosa hinkte hinterher. Und ohne e hausgemachte Romane würde Katalonien kaum zu anderen Kulturnationen aufschließen können.
Sagarra wollte selbst dazu beitragen. Er plante ein episches Werk, das vom zurückliegenden Jahrhundert katalanischer Geschichte im Spiegel verschiedener Milieus erzählen sollte. Das Vorhaben schien ihm so gewaltig, das er zunächst einmal trainieren wollte. Doch das Training im Sommer 1932 lief ihm aus dem Ruder. Nach zwei Monaten rastloser Arbeit hatte er ein 400seitiges Manuskript vor sich. Dessen Handlung umspannte zwar nur sechs bis sieben Jahre, aber es war panoramatisch, geschliffen und pikant genug für eine Veröffentlichung. „Vida privada” wurde zu einem Schlüssel- und Skandalwerk über Barcelonas feine Gesellschaft, zu einem „nationalen” Bestseller. Bis heute gilt er als bedeutendes literarisches Porträt der katalanischen Hauptstadt. Dass „Privatsachen” nun endlich auf deutsch vorliegt, ist auch eine Spätfolge von Kataloniens Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2007. Das katalanische Kulturinstitut förderte seinerzeit die Übersetzung als Teil seiner Image-Kampagne, in der wiederum die nationale Identität eine wichtige Rolle spielte.
Es ist allerdings nicht ohne Ironie, „Privatsachen” als Beleg für Kataloniens Größe anzusehen – damals wie heute. Denn der Roman handelt im Grunde von nichts anderem als von Dekadenz und Degeneration. Sagarra stellt eine dünkelhaft-dümmliche Adelsfamilie in den Vordergrund, umgibt deren Mitglieder aber mit genügend Begleitpersonal, um vom Einzelfall auf die Klasse und von der Klasse aufs Menschenmaterial im Allgemeinen zu schließen. Das alternde Oberhaupt der Familie de Lloberola, Don Tomàs, stammt „von dreißig Generationen ab, die nie auch nur einen Strohhalm vom Boden aufgehoben hatten”.
Die eitle Untüchtigkeit hat er geradewegs an seine längst erwachsenen Söhne Frederic und Guillem vererbt, wobei insbesondere der Lebemann Frederic dazu beiträgt, das rapide schrumpfende Restvermögen der Familie gänzlich durchzubringen. Als der verzweifelnde Vater für Frederics jüngste Schulden nicht mehr aufkommen mag, springt überraschend Guillem, der jüngere Bruder, ein: Er erpresst den Gläubiger, einen Baron, weil er – aus eigenem Mittun – über dessen geheime sexuelle Vorlieben bescheid weiß. Das beschwört einen Selbstmord und manche weitere Niedertracht herauf. Und obwohl Frederics jugendliche Kinder den eigenen Vater früh hassen lernen, gehen auch ihre Seelen bald auf Sturzflug ins Unglück.
Die Zuckungen des Überlebten
„Privatsachen” ist zunächst in großem Stil darauf aus, alle niederen Instinkte und alle Laster hinter der hochmögenden Fassade von Barcelonas Elite der späten 1920er Jahre ans Licht zu zerren. Dem intellektuellen Dandy Sagarra – auch er entstammte einer adligen Familie – war sicher vielerlei platte Scheinheiligkeit und mentale Verrohung zuwider. Außerdem beschreibt er die lächerlichen letzten Zuckungen von Denkformen des 19. Jahrhunderts in einer längst modernisierten Welt: das unsinnige Festhalten am alten Ballast bis zum Untergang; aber auch das unsinnige Überbordwerfen der alten Würde für den letzten Schrei.
So kommt niemand ungeschoren davon, der pervertierte Aristokrat so wenig wie der stinkreiche Emporkömmling, die avantgardistische Nackttänzerin so wenig wie der republikanische Funktionär. Sagarra deckt noch an jedem eine schleichende Korrosion, ewige Schwäche oder tiefe Schändlichkeit des Charakters auf. Das macht seinen differenziert entworfenen, schließlich aber undifferenziert ausgewalzten Reigen der Ungenügenden mit der Zeit etwas ermattend. Einzig eine edle Witwe hält Sagarra raus aus dem Sumpf. Sie verströmt für ihn „den Duft der Geschichte” und verkörpert „den Wesenskern eines aristokratischen und geschäftstüchtigen, eines volkstümlichen, stolzen und ein wenig kindischen Barcelona”. Mit anderen Worten: die Wunschvorstellung vom rundum guten Universalkatalanen.
Am Ende krankt „Privatsachen” doch an seiner fiebrigen Entstehung im „Trainingslager”. Die weiträumig orchestrierte und im Gleichgewicht gehaltene Geschichte, die Ton und Stoßrichtung des Buches eigentlich verlangten, gelingt Sagarra nicht. Sein Roman wirkt dramaturgisch wie psychologisch oft roh, nicht recht durchgearbeitet. Mal versenkt er sich nahezu proustianisch ins Ausdeuten feinster sinnlicher Details, dann wieder begnügt er sich mit amüsiert-gehobenem Kolportage-Stil. Doch findet Sagarra immer wieder großartige, verwegene Bilder, um eine Persönlichkeit, eine Stimmung oder ein Ambiente präzise zu beschreiben; darin verrät sich der erfahrene Lyriker. Aber immer wieder wundert man sich auch über eine Art Klassenblindheit, die zum heroisch-kritischen Röntgenblick des Autors nicht zu passen scheint und ihn mitunter auf eher fragwürdige Weise von „skrupellosem Volk” oder „herpesinfizierten Anhängern des Kommunismus” sprechen lässt.
Hätte sich Sagarra die Zeit genommen, aus diesem gewaltig aufbrausenden Text auch ein gewaltiges Werk zu bauen, er hätte solche Flüchtigkeitsfehler bestimmt ausgebessert. Doch er hat diesen Text rasch rausgehauen und sich danach wieder auf Poesie und Theater beschränkt. Vielleicht war er beim Schreiben auch seiner eigenen „Angst vor dem Roman” begegnet. MERTEN WORTHMANN
JOSEP MARIA DE SAGARRA: Privatsachen. Roman. aus dem Katalanischen übersetzt von Felice Balletta und Sven Limbeck. Elfenbein Verlag, Berlin 2009. 416 Seiten, 25 Euro.
Das Publikum für den modernen Roman gab es, er musste nur noch geschrieben werden: Café in Barcelona, 1930 Foto: Scherl
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eingenommen ist Kersten Knipp von Josep Maria de Sagarras erstmals 1932 erschienenem Roman über das Barcelona der 1920er Jahre. Im Mittelpunkt dieses großangelegten Panoramas um Verfall, erotische Erpressung und Geschäftemacherei sieht er die Geschichte der Familie Lloberola, die der Autor als "eine Art katalanischer Buddenbrooks" zeichnet. Allerdings fällt der Ton bei Sagarras zu seiner Freude wesentlich sarkastischer aus als bei Thomas Mann. Ja, für Knipp ist Sagarra einer der "großen Spötter der spanischen Literaturgeschichte bezeichnen". Zudem scheinen ihm die Figuren mehr Repräsentanten einer gesellschaftlichen Schicht als bei Mann. Besonders gelungen findet Knipp den Roman, wo er nicht den privaten, sondern allgemeinen Zerfall beschreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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