Produktdetails
- Verlag: ID-Verlag
- Seitenzahl: 253
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 536g
- ISBN-13: 9783894080679
- Artikelnr.: 36323349
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Kunstwissenschaftliche Experimente mit Blick und Bild
Man hört heute den Ruf nach einem "pictorial turn" in den Kulturwissenschaften. Die Beschwörung des Bildes, als Gegenstand und als Modell des Denkens, soll den Text als Leitfigur entmachten. Der "linguistic turn" hatte ein Verständnis der Welt als Text durchgesetzt, das auch das Bild erfaßte. Die Vereinnahmung des Bildes durch einen erweiterten Textbegriff konnte gerade deshalb gelingen, weil sich die Literaturwissenschaft von der Kunstgeschichte, nämlich der Ikonologie, inspirieren ließ. Nun aber soll getrennt werden, was die Warburg-Schule zu einem dichten Gewebe verknüpft hatte: Bild und Text werden als Gegensätze konturiert.
Auch der von Christian Kravagna herausgegebene Band leistet Trennungsarbeit. Die Wiederentdeckung des Bildes, auf die das Unternehmen zielt, soll jedoch keine Rückkehr zu Abbildtheorien oder gar zu metaphysischen Spekulationen bedeuten. Vielmehr geht es, in W. J. T. Mitchells Formulierung, um das "Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität", das ein Bild erst entstehen läßt.
Mitchell stellt sich die Wende zum Bild als eine Begegnung von Erwin Panofsky und Louis Althusser vor, bei der sich Ikonologie und Ideologie wechselseitig spiegeln und ihre Funktionsweise im anderen erkennen sollen. Die Räume, deren Perspektivierung Panofsky beschrieben hat, will Mitchell mit Althussers "theoretischen Szenen" beleben, um einen Weg von der Erkenntnistheorie zu Ethik, Politik und Hermeneutik zu finden. Der Glaube an die Möglichkeit einer Erkenntnis von Objekten durch souveräne Subjekte soll abgelöst werden von der Idee einer Begegnung zwischen Subjekten, die bestimmt ist durch die Figur des Wiedererkennens. In diesem allzu weiten Feld verliert sich leider die Pointe der Argumentation, und die durchaus interessante Begegnung von Panofsky und Althusser geht im Aufmarsch kulturwissenschaftlicher Gemeinplätze unter.
Das Thema des Blicks fordert die Reflexion über den Betrachter heraus. Laura Mulvey hatte in einer in den siebziger Jahren erstmals erschienenen Studie über narratives Kino und visuelle Lust die geschlechtliche Bestimmtheit des Sehens herausgearbeitet und die Unmöglichkeit einer weiblichen Betrachterposition behauptet. Linda Williams gibt nun der These von der Unentrinnbarkeit des voyeuristischen männlichen Blicks die Schuld an der Einseitigkeit der Pornographiedebatte. Unter Rückgriff auf die in diesem Band zu häufig zitierte Studie von Jonathan Crary über den Betrachter hofft Williams die körperlichen Sensationen, wie sie Bilder auslösen, besser fassen zu können. Der Glauben an die Widerständigkeit des Körpers, der durch ihre Ausführungen schimmert, verrät ein Verlangen nach Unmittelbarkeit, das den theoretischen Anspruch durchkreuzt.
Wie man dem Blickregime auf eine reflektierte Weise begegnet, beschreibt Kaja Silverman am Beispiel der "Film Stills" von Cindy Sherman. Diese führen vor, daß sich das Selbst als Schauspiel erfährt. Die Handlungsfähigkeit des Subjekts ist allerdings begrenzt, denn es kann sich nur über ein Bild zeigen, das aus dem Fundus verfügbarer Bilder stammt. Indem die "Film Stills" die Pose als "fotografische Prägung des Körpers" zu erkennen geben, der sich für einen imaginären Blick in Szene setzt, brechen sie die Möglichkeit identifikatorischer Betrachtung.
Auch Architektur kann den Blick lenken. Beatriz Colomina stellt die von Adolf Loos entworfenen Wohnungen als Konstruktionen vor, die dem Modell der Theaterloge folgen. Nach außen abgedichtet, verbinden die Räume Intimität und Kontrolle. Der Blick richtet sich nach innen, die Bewohner werden zu Beschauern ihrer selbst. Ganz anders Le Corbusier: Seine weit geöffneten Räume rahmen die Außenwelt. Im herrschaftlichen Blick nach draußen werden die Bewohner dem eigenen Heim entrückt und damit sich selbst entfremdet. Über eine Innenansicht anderer Art handelt Carol A. Stabile. Mit dem Blick in den Mutterleib, den der Ultraschall ermöglicht, wird der Fötus autonom und damit zum rechtsfähigen Wesen. Der weibliche Körper hingegen verwandelt sich von der nährenden Umgebung zum feindlichen Ödland, in dem der durch Technologie eigenständig gewordene Fötus um das Überleben kämpft. Wie derartige Beiträge zeigen, werden Blicke durch Fokussierung scharf. BEATE SÖNTGEN
Christian Kravagna (Hrsg.): "Privileg Blick". Kritik der visuellen Kultur. Edition ID-Archiv, Berlin 1997. 253 S., Abb., br., 29,80 DM.
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