Der vorliegende Roman gilt neben Heinrich Manns Werk "Die kleine Stadt" als eine der besten Schöpfungen aus der Frühzeit des Dichters. Er erschien erstmalig im Jahre 1905 und schildert die makabre Geschichte eines professoralen Gymnasiastenschrecks, einer Spießerexistenz, die in später Leidenschaft einer Kleinstadtkurtisane verfällt und aus den gewohnten bürgerlichen Bahnen entgleist.Mit diesem Roman, dessen Verfilmung mit Emil Jannings und Marlene Dietrich unter dem Titel "Der blaue Engel" zu einem der wenigen wirklichen Welterfolge des deutschen Films wurde, gelang Heinrich Mann eine meisterhafte Karikatur der Wilhelminischen Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2005Verliebt, gehörnt, gerächt, gefallen
Warum wir den "Professor Unrat" nicht verachten dürfen - eine Handreichung zur Neuauflage / Von Gregor Hens
Es ist ein Schlachtfeld. Bücher liegen herum wie die römischen Soldaten im Teutoburger Wald. Blutend und dampfend und stinkend. Manche zucken noch. Die Gymnasialzeit hat für mich einen beträchtlichen Teil der Weltliteratur zerstört. Bücher sind niedergekämpft, erstochen und gewürgt worden. "Hamlet", "Animal Farm" vom wohlmeinenden Englischlehrer. Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart" und Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe" vom Deutschlehrer, einem mit braunem Cordjackett bewehrten Altachtundsechziger. "Faust", "Die Verwandlung". die "Ansichten eines Clowns", sogar "Madame Bovary"! Alles zerstört. Die Curricula lasen sich wie Handlungsanweisungen für ein Femegericht: In der elften Klasse nehmen Sie sich den "Kohlhaas" vor. Quälen Sie ihn, lassen Sie ihn zappeln. Treiben Sie ihm Holzspäne unter die Fingernägel. Quetschen Sie den Text aus, bis kein Blutstropfen, kein Lebenssaft mehr in ihm sind. Und vergessen Sie nicht, am Ende den Puls zu prüfen: Setzen Sie eine fünfstündige Klausur an.
Es hat sich wenig geändert in hundert Jahren. In Heinrich Manns "Professor Unrat" steht das alles schon drin. Vor den Augen der Schüler zerlegt der Gymnasiallehrer Schillers "Jungfrau von Orleans": "Man hatte sie vorwärts und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa wieder in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatte, waren sie längst erblindet . . ." Poetik an ihr getrieben! Das Mädchen war geschändet worden, zweifellos. Von einem höchst unappetitlichen Alten.
Heinrich Manns Roman war die für meine Unterprima erkorene Lektüre im Grundkurs Deutsch. Eigentlich erfolgversprechend: Der Lehrer war nett und klug, auch wenn er Biermann für einen großen Lyriker hielt. Und "Professor Unrat", der Roman, hatte immerhin Sex-Appeal. Uns wurde die Geschichte eines Professors geboten, der Rache an einer Kleinstadt übt, indem er sich zum Zuhälter seiner Frau macht: Verliebt, gehörnt, gerächt und gefallen. Ein echter Reißer also und immerhin die Grundlage für einen Welterfolg des deutschen Kinos: Sternbergs "Blauen Engel" von 1930. Marlene Dietrich verkörperte als Tänzerin Lola Lola weit mehr als eine überschminkte Provinzkokotte. Sie war eine Künstlerin neuen Typs, eine exotische Verführerin irgendwo zwischen George Sand und Lola Montez. Emil Jannings brillierte als Unrat. Heinrich Manns zuerst ungnädig rezensierte Tragikomödie besaß sogar Fallhöhe, wenn man nur ein wenig an der Geschichte drehte. Weg also mit der Spielhölle, die der Professor vor den Toren der Stadt betreibt, weg mit der vielgeliebten Konsulin Dora Breetpoot. Und von extravaganten Sommerfrischen wollte das rabiate Drehbuchteam, darunter der Dramatiker Carl Zuckmayer, auch nichts wissen. Dafür erfand man eine Dandy-Rolle für Hans Albers. Und doch behauptete Heinrich Mann, Sternbergs Film sei eine "ziemlich genaue Photographie des Romans". Theodor W. Adorno dagegen bezeichnete den Film als "Absud" des literarischen Werks.
"Professor Unrat" ist das Urbild der modernen Schul- und Campussatire. Gerade im anglo-amerikanischen Raum geistert der Professor bis heute durch die Romanwelten, bis hin zu "Blue Angel", Francine Proses Bestseller aus dem Jahr 2000. Vladimir Nabokovs Professor "Pnin" und "Lolita" wären vielleicht auch ohne Mann und Sternberg entstanden, aber würden wir sie auf die gleiche Weise lesen? Und Martin Walsers "Brandung", über einen deutschen Lehrer, gehört in diese Reihe genauso wie Philip Roth' "The Human Stain". Und "Oleanna", der Text des Hyperrealisten und Dialogkünstlers David Mamet. Die bürgerliche Moral, mit der der Professor bei Heinrich Mann in Konflikt gerät, ist längst ersetzt worden durch politische Korrektheit - eine Bewegung, von der amerikanische Universitäten früher und stärker erfaßt wurden als jeder andere Bereich des öffentlichen Lebens.
Es spricht einiges gegen dieses Buch, nicht zuletzt der Erfolg seiner Verfilmung und die Zahl und Qualität seiner literarischen Remakes. Heinrich Mann hatte - inspiriert von einer kurzen Zeitungsnotiz - eine Geschichte geschrieben, die sich in einem einzigen Satz zusammenfassen ließ: Verstockter Kleinstadtpauker heiratet Kabaretttänzerin und wird zum Anarchisten. Oder: Gymnasiallehrer verfolgt Schüler und gerät in die Fänge einer singenden Femme fatale. Eine flotte, leicht erzählte Geschichte also, aus der sich etwas machen ließ. Dehnbares Material, wandelbarer Plot. Und trotzdem griffig. Thomas Mann wußte, woran er war, als er den "Professor Unrat" als "leichtfertiges Zeug" abtat. Heinrich produziere "künstlerische Unterhaltungslektüre"; es sei unmoralisch, "ein schlechtes Buch nach dem anderen zu schreiben". Was ihn nicht hinderte, das Prophetische darin zu loben. "Hitler", so verkündete er, "ist kein Professor - weit davon. Aber Unrat ist er, nichts als Unrat."
Zwar zwingt uns niemand, zu Thomas Mann als der höchsten Instanz literarischer Geschmacksbildung aufzublicken. Aber es scheint sich doch die ganze Welt verschworen zu haben gegen diesen Roman. Aus der einst scharfen wilhelminischen Satire sind im Laufe eines Jahrhunderts Klischees herausgetreten: Der Professor, schuppengeplagt, spricht mit homerischen Füllwörtern, die uns nichts bedeuten und nicht mehr berühren. Das Gymnasiastentrio ist in einem Maße typisiert, daß wir gar nicht genau hinschauen, was die drei im einzelnen motiviert. Wir wissen es ja längst. Wir kennen diese Typen - den Dummen, den Cleveren, den Verschlossenen - aus ungezählten Romanen und Filmen. "Kieselack hatte . . . ein Gefühl für das Spaßige, Ertzum für das Erniedrigende, Lohmann für das Armselige." Die drei wirken beinahe so harmlos wie Heinz Rühmann und seine Freunde in der "Feuerzangenbowle". Sogar der Schimpfname Unrat ist veraltet, klingt nach dem Muff des längst vergangenen bürgerlichen Jahrhunderts. Das Wort trifft nicht mehr. Und die Künstlerin Fröhlich erscheint weniger verrucht als vielmehr kleinmütig, dumm, erschwinglich. Ihr fehlt im Gegensatz zu ihrer Darstellerin Marlene Dietrich jegliche erotische Aura. Es fällt schwer, die späte Sinnlichkeit des Professors und die Ergebenheit der Schüler nachzuvollziehen. Sternberg hat das erkannt, und er hat der Figur den anzüglichen, um nicht zu sagen fellationalen Namen Lola Lola gegeben. Doch sollte man Nachsicht üben. Was kann der Autor dafür, daß sein Zeitalter mal mehr, mal weniger hoch im Kurs steht? Wer interessiert sich schon für Norddeutschland um 1905? Was bedeutet uns das schwache Fünkchen Eros aus dieser Zeit, wo wir selbst im Flammenmeer versinken? Und warum sollte man es einem Roman oder seinem Autor anlasten, daß Handlung und Figuren von ihrer Zeit geprägt sind - daß sie hundert Jahre später etwas angestaubt wirken? Immerhin gehörte es zu Manns dichterischem Selbstverständnis, der eigenen Gegenwart zu Leibe zu rücken: "Der Dichter", schrieb er, "soll unter allen Umständen der Herold seiner Zeit sein."
Allerdings hat der moderne Leser das Recht (und oft, so scheint es mir, den Willen), bei der Lektüre selbst eines von der Zeitgeschichte durchwirkten Buchs der allgegenwärtigen Erziehung für ein paar Stunden zu entkommen. Ganz Berlin ist ein Museum des Wilhelminismus und der Katastrophe, die ihm folgte. Deutschland, so scheint es manchmal, ist nicht ein Land mit einer Geschichte, sondern eine Geschichte mit einem Land. Wir sind eher zufällig noch da, als Gegenwartsmenschen. Als Sehende, Liebende - Lesende. In diesem Umfeld begegnen wir dem Unrat. Das Buch wird zur Belehrung. Die Komödie macht keinen Spaß mehr. "Die Beschreibung des auf der Varietébühne vor einem tobenden Publikum zelebrierten Flaggenliedes offenbart mehr von der Ontologie des neudeutschen Nationalismus, als historische Traktate umständlich zu entfalten vermöchten", meinte Adorno. Womit er leider, leider recht hat. Der Roman eignet sich hervorragend für den Geschichtsunterricht. Kein Wunder, daß er Generationen von Schülern verleidet worden ist. Selbsttherapierende Lehrer haben ihn herangezogen, um die politische Psyche ihrer Heimat zu sezieren. Der "Ordinarius der Untersekunda" - Machtmensch und Rächer - wurde zum Hauptakteur eines halben, furchtbar aus den Gleisen gelaufenen Jahrhunderts, zum Prototypen des häßlichen Deutschen. "Dieser Charakter", schrieb der Germanist Manfred Hahn, "ist ein gesellschaftlicher Zustand."
Das ist eigentlich keine schlechte These. Nur verstellt sie uns den Blick auf das, was an der Geschichte schön und ergreifend ist. Denn die Figur des Unrat oszilliert in einer Weise, die einen Adorno eher stören muß. Der Mann ist sicherlich ein cholerischer Tyrann, aber er verdient doch unser Mitleid. Gerade Lohmann scheint eine Schwäche zu haben für ihn: "Sieh dir den Menschen an", bittet er seinen Freund Ertzum. "Ist das einer, den man mordet?" Der Professor ist Unrat. Hitler ist Unrat. Aber der Professor ist bestimmt kein Hitler. Wir erfahren, daß er "eine Figur war, die für jeden Komik umhertrug, aber für manchen eine zärtliche Komik". Man darf Verständnis haben für die Wut des alternden Professors: "Gegen so'n Namen kann auf die Dauer keiner an." Wer läßt sich schon gern ein Leben lang beschimpfen? Der Roman ist keine, wie Adorno meinte, todernste "Denunziation des Inhumanen". Nein, in diesem Roman menschelt es ganz gewaltig. Dieser Charakter, dieser Unrat, ist mehr als ein gesellschaftlicher Zustand.
Schade, daß Dora Breetpoot, jene letztlich durch Unrats Baccarageschäft ruinierte Konsulin, den Sprung ins Drehbuch nicht geschafft hat. Vielleicht wäre die Rezeption des Romans anders verlaufen. Denn das Buch ist nicht nur die Geschichte einer etwas unappetitlichen Verbindung zwischen einem Gymnasialhitler und seiner verlotterten Barfußtänzerin, es ist auch die ergreifende Geschichte einer "Liebe, die so viel gewesen war wie eine Jugend". Lohmann, der den Namen seines Erfinders L.(uiz) H.(einrich) Mann in sich trägt, betet die Dreißigjährige an, er schreibt ihr Gedichte, die sie niemals sehen wird. Er leistet Minnedienst. Als sie ein Kind bekommt - Vaterschaft ungeklärt -, geht er nachts zu ihrem Haus und küßt das Tor. Er lebt "die wilde Keuschheit, die wollüstigen Bitternisse, die schüchterne, eitle, trostreiche Weltverachtung seiner siebzehn Jahre". Aber er bleibt nicht einfach stehen und schaut und schmachtet. Er schleicht weiter durch die dunklen Gassen, landet im Blauen Engel, in der Garderobe der Tänzerin. Und was er sich dort zusammenphantasiert, gehört zu dem Besten, dem Modernsten, das dieser Roman zu bieten hat. "Es gab Stunden", heißt es da, wo er die Künstlerin Fröhlich "zu seinen Füßen zu sehen wünschte, wo er sie begehrte, um sie zu demütigen, um ihren Liebkosungen den Geschmack düsteren Lasters zu geben - und durch solch Laster seine eigene Liebe zu beschmutzen, in der auf den Knien bettelnden Dirne sie, Dora Breetpoot selbst, zu erniedrigen und dann vor ihr hinzusinken und köstlich zu weinen."
Nach einem Englandaufenthalt kehrt Lohmann zurück in eine "entgötterte Stadt". Er liebt nicht mehr. Die Kräfte, die ihn zu Dora Breetpoot hingezogen haben, wirken nicht mehr. Aus der Konsulin ist eine "kleine Provinzdame" mit Geldsorgen geworden. Und die Künstlerin Fröhlich, mit der und an der er sich rächen wollte für seine eigene Demütigung, ist avanciert zur "eleganten Kokotte". Zwei Jahre sind vergangen - eine Ewigkeit für einen Heranwachsenden -, seit sie ihm "verzottelt, halb aufgeknöpft, mit zerlaufener Schminke" entgegengetreten ist. Beinahe wäre er ihr verfallen. Beinahe - hätte Unrat ihn gefaßt.
Das ist die Geschichte, ihr Rückgrat. Sie ist der Grund, warum der Roman bis heute funktioniert. Sie ist wehmütig und schön. Die Komödie vom Professor Unrat entlarvt sich selbst. Der Kleinstadttyrann wird abtransportiert, wir weinen ihm nicht nach. Was zurückbleibt, sind Lohmanns bereits ein wenig verklärte Erinnerung an die Provinzheimat, zwei gar nicht so unterschiedliche Frauen und die letztlich harmlosen Ausbrüche des alten Lehrers. "Lohmann", der Dichter, "liebte die Dinge vor allem um ihres Nachklangs willen."
Mann schrieb, es würde zwanzig Jahre dauern, bis die Schüler Unrats poetische Pedanterie, seine Jungfrauenschändung, überwunden hätten. "Wer den Triumph der Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit . . . je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben."
Es sind zwanzig Jahre vergangen, seit ich meine Abschlußklausur zum "Unrat" geschrieben habe. Es war grausam. Kein Puls mehr, keine Wärme, nichts. Aber jetzt nehme ich das zerfledderte Buch noch einmal in die Hand. Ich blättere darin. Lese hier einen Satz, dort eine ganze Szene. Entdecke Randnotizen in einer Handschrift, die nicht mehr meine ist. Und siehe da, das Buch lebt. Die Künstlerin Fröhlich hat eine Stimme. Ich dachte, sie sei verstummt. Das Publikum im Blauen Engel ist ausgelassen wie eh und je. Der Professor schaut durch den Türspalt auf die Bühne, er schwitzt und schmunzelt. Er sieht nicht aus, als hätte er einen Genozid der Superlative auf dem Gewissen. Und Lohmann, der junge Dichter, der in meiner Erinnerung wie tot auf dem Boden der Garderobe gelegen hat - er steht auf. Wischt sich mit der Hand den Staub vom Ärmel, als wäre er nur kurz gestrauchelt.
Die Jubiläumsausgabe von "Professor Unrat" erscheint bei S. Fischer und kostet 14 Euro.
Gregor Hens hat zuletzt veröffentlicht "Matta verläßt seine Kinder". S. Fischer, 14 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum wir den "Professor Unrat" nicht verachten dürfen - eine Handreichung zur Neuauflage / Von Gregor Hens
Es ist ein Schlachtfeld. Bücher liegen herum wie die römischen Soldaten im Teutoburger Wald. Blutend und dampfend und stinkend. Manche zucken noch. Die Gymnasialzeit hat für mich einen beträchtlichen Teil der Weltliteratur zerstört. Bücher sind niedergekämpft, erstochen und gewürgt worden. "Hamlet", "Animal Farm" vom wohlmeinenden Englischlehrer. Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart" und Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe" vom Deutschlehrer, einem mit braunem Cordjackett bewehrten Altachtundsechziger. "Faust", "Die Verwandlung". die "Ansichten eines Clowns", sogar "Madame Bovary"! Alles zerstört. Die Curricula lasen sich wie Handlungsanweisungen für ein Femegericht: In der elften Klasse nehmen Sie sich den "Kohlhaas" vor. Quälen Sie ihn, lassen Sie ihn zappeln. Treiben Sie ihm Holzspäne unter die Fingernägel. Quetschen Sie den Text aus, bis kein Blutstropfen, kein Lebenssaft mehr in ihm sind. Und vergessen Sie nicht, am Ende den Puls zu prüfen: Setzen Sie eine fünfstündige Klausur an.
Es hat sich wenig geändert in hundert Jahren. In Heinrich Manns "Professor Unrat" steht das alles schon drin. Vor den Augen der Schüler zerlegt der Gymnasiallehrer Schillers "Jungfrau von Orleans": "Man hatte sie vorwärts und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa wieder in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatte, waren sie längst erblindet . . ." Poetik an ihr getrieben! Das Mädchen war geschändet worden, zweifellos. Von einem höchst unappetitlichen Alten.
Heinrich Manns Roman war die für meine Unterprima erkorene Lektüre im Grundkurs Deutsch. Eigentlich erfolgversprechend: Der Lehrer war nett und klug, auch wenn er Biermann für einen großen Lyriker hielt. Und "Professor Unrat", der Roman, hatte immerhin Sex-Appeal. Uns wurde die Geschichte eines Professors geboten, der Rache an einer Kleinstadt übt, indem er sich zum Zuhälter seiner Frau macht: Verliebt, gehörnt, gerächt und gefallen. Ein echter Reißer also und immerhin die Grundlage für einen Welterfolg des deutschen Kinos: Sternbergs "Blauen Engel" von 1930. Marlene Dietrich verkörperte als Tänzerin Lola Lola weit mehr als eine überschminkte Provinzkokotte. Sie war eine Künstlerin neuen Typs, eine exotische Verführerin irgendwo zwischen George Sand und Lola Montez. Emil Jannings brillierte als Unrat. Heinrich Manns zuerst ungnädig rezensierte Tragikomödie besaß sogar Fallhöhe, wenn man nur ein wenig an der Geschichte drehte. Weg also mit der Spielhölle, die der Professor vor den Toren der Stadt betreibt, weg mit der vielgeliebten Konsulin Dora Breetpoot. Und von extravaganten Sommerfrischen wollte das rabiate Drehbuchteam, darunter der Dramatiker Carl Zuckmayer, auch nichts wissen. Dafür erfand man eine Dandy-Rolle für Hans Albers. Und doch behauptete Heinrich Mann, Sternbergs Film sei eine "ziemlich genaue Photographie des Romans". Theodor W. Adorno dagegen bezeichnete den Film als "Absud" des literarischen Werks.
"Professor Unrat" ist das Urbild der modernen Schul- und Campussatire. Gerade im anglo-amerikanischen Raum geistert der Professor bis heute durch die Romanwelten, bis hin zu "Blue Angel", Francine Proses Bestseller aus dem Jahr 2000. Vladimir Nabokovs Professor "Pnin" und "Lolita" wären vielleicht auch ohne Mann und Sternberg entstanden, aber würden wir sie auf die gleiche Weise lesen? Und Martin Walsers "Brandung", über einen deutschen Lehrer, gehört in diese Reihe genauso wie Philip Roth' "The Human Stain". Und "Oleanna", der Text des Hyperrealisten und Dialogkünstlers David Mamet. Die bürgerliche Moral, mit der der Professor bei Heinrich Mann in Konflikt gerät, ist längst ersetzt worden durch politische Korrektheit - eine Bewegung, von der amerikanische Universitäten früher und stärker erfaßt wurden als jeder andere Bereich des öffentlichen Lebens.
Es spricht einiges gegen dieses Buch, nicht zuletzt der Erfolg seiner Verfilmung und die Zahl und Qualität seiner literarischen Remakes. Heinrich Mann hatte - inspiriert von einer kurzen Zeitungsnotiz - eine Geschichte geschrieben, die sich in einem einzigen Satz zusammenfassen ließ: Verstockter Kleinstadtpauker heiratet Kabaretttänzerin und wird zum Anarchisten. Oder: Gymnasiallehrer verfolgt Schüler und gerät in die Fänge einer singenden Femme fatale. Eine flotte, leicht erzählte Geschichte also, aus der sich etwas machen ließ. Dehnbares Material, wandelbarer Plot. Und trotzdem griffig. Thomas Mann wußte, woran er war, als er den "Professor Unrat" als "leichtfertiges Zeug" abtat. Heinrich produziere "künstlerische Unterhaltungslektüre"; es sei unmoralisch, "ein schlechtes Buch nach dem anderen zu schreiben". Was ihn nicht hinderte, das Prophetische darin zu loben. "Hitler", so verkündete er, "ist kein Professor - weit davon. Aber Unrat ist er, nichts als Unrat."
Zwar zwingt uns niemand, zu Thomas Mann als der höchsten Instanz literarischer Geschmacksbildung aufzublicken. Aber es scheint sich doch die ganze Welt verschworen zu haben gegen diesen Roman. Aus der einst scharfen wilhelminischen Satire sind im Laufe eines Jahrhunderts Klischees herausgetreten: Der Professor, schuppengeplagt, spricht mit homerischen Füllwörtern, die uns nichts bedeuten und nicht mehr berühren. Das Gymnasiastentrio ist in einem Maße typisiert, daß wir gar nicht genau hinschauen, was die drei im einzelnen motiviert. Wir wissen es ja längst. Wir kennen diese Typen - den Dummen, den Cleveren, den Verschlossenen - aus ungezählten Romanen und Filmen. "Kieselack hatte . . . ein Gefühl für das Spaßige, Ertzum für das Erniedrigende, Lohmann für das Armselige." Die drei wirken beinahe so harmlos wie Heinz Rühmann und seine Freunde in der "Feuerzangenbowle". Sogar der Schimpfname Unrat ist veraltet, klingt nach dem Muff des längst vergangenen bürgerlichen Jahrhunderts. Das Wort trifft nicht mehr. Und die Künstlerin Fröhlich erscheint weniger verrucht als vielmehr kleinmütig, dumm, erschwinglich. Ihr fehlt im Gegensatz zu ihrer Darstellerin Marlene Dietrich jegliche erotische Aura. Es fällt schwer, die späte Sinnlichkeit des Professors und die Ergebenheit der Schüler nachzuvollziehen. Sternberg hat das erkannt, und er hat der Figur den anzüglichen, um nicht zu sagen fellationalen Namen Lola Lola gegeben. Doch sollte man Nachsicht üben. Was kann der Autor dafür, daß sein Zeitalter mal mehr, mal weniger hoch im Kurs steht? Wer interessiert sich schon für Norddeutschland um 1905? Was bedeutet uns das schwache Fünkchen Eros aus dieser Zeit, wo wir selbst im Flammenmeer versinken? Und warum sollte man es einem Roman oder seinem Autor anlasten, daß Handlung und Figuren von ihrer Zeit geprägt sind - daß sie hundert Jahre später etwas angestaubt wirken? Immerhin gehörte es zu Manns dichterischem Selbstverständnis, der eigenen Gegenwart zu Leibe zu rücken: "Der Dichter", schrieb er, "soll unter allen Umständen der Herold seiner Zeit sein."
Allerdings hat der moderne Leser das Recht (und oft, so scheint es mir, den Willen), bei der Lektüre selbst eines von der Zeitgeschichte durchwirkten Buchs der allgegenwärtigen Erziehung für ein paar Stunden zu entkommen. Ganz Berlin ist ein Museum des Wilhelminismus und der Katastrophe, die ihm folgte. Deutschland, so scheint es manchmal, ist nicht ein Land mit einer Geschichte, sondern eine Geschichte mit einem Land. Wir sind eher zufällig noch da, als Gegenwartsmenschen. Als Sehende, Liebende - Lesende. In diesem Umfeld begegnen wir dem Unrat. Das Buch wird zur Belehrung. Die Komödie macht keinen Spaß mehr. "Die Beschreibung des auf der Varietébühne vor einem tobenden Publikum zelebrierten Flaggenliedes offenbart mehr von der Ontologie des neudeutschen Nationalismus, als historische Traktate umständlich zu entfalten vermöchten", meinte Adorno. Womit er leider, leider recht hat. Der Roman eignet sich hervorragend für den Geschichtsunterricht. Kein Wunder, daß er Generationen von Schülern verleidet worden ist. Selbsttherapierende Lehrer haben ihn herangezogen, um die politische Psyche ihrer Heimat zu sezieren. Der "Ordinarius der Untersekunda" - Machtmensch und Rächer - wurde zum Hauptakteur eines halben, furchtbar aus den Gleisen gelaufenen Jahrhunderts, zum Prototypen des häßlichen Deutschen. "Dieser Charakter", schrieb der Germanist Manfred Hahn, "ist ein gesellschaftlicher Zustand."
Das ist eigentlich keine schlechte These. Nur verstellt sie uns den Blick auf das, was an der Geschichte schön und ergreifend ist. Denn die Figur des Unrat oszilliert in einer Weise, die einen Adorno eher stören muß. Der Mann ist sicherlich ein cholerischer Tyrann, aber er verdient doch unser Mitleid. Gerade Lohmann scheint eine Schwäche zu haben für ihn: "Sieh dir den Menschen an", bittet er seinen Freund Ertzum. "Ist das einer, den man mordet?" Der Professor ist Unrat. Hitler ist Unrat. Aber der Professor ist bestimmt kein Hitler. Wir erfahren, daß er "eine Figur war, die für jeden Komik umhertrug, aber für manchen eine zärtliche Komik". Man darf Verständnis haben für die Wut des alternden Professors: "Gegen so'n Namen kann auf die Dauer keiner an." Wer läßt sich schon gern ein Leben lang beschimpfen? Der Roman ist keine, wie Adorno meinte, todernste "Denunziation des Inhumanen". Nein, in diesem Roman menschelt es ganz gewaltig. Dieser Charakter, dieser Unrat, ist mehr als ein gesellschaftlicher Zustand.
Schade, daß Dora Breetpoot, jene letztlich durch Unrats Baccarageschäft ruinierte Konsulin, den Sprung ins Drehbuch nicht geschafft hat. Vielleicht wäre die Rezeption des Romans anders verlaufen. Denn das Buch ist nicht nur die Geschichte einer etwas unappetitlichen Verbindung zwischen einem Gymnasialhitler und seiner verlotterten Barfußtänzerin, es ist auch die ergreifende Geschichte einer "Liebe, die so viel gewesen war wie eine Jugend". Lohmann, der den Namen seines Erfinders L.(uiz) H.(einrich) Mann in sich trägt, betet die Dreißigjährige an, er schreibt ihr Gedichte, die sie niemals sehen wird. Er leistet Minnedienst. Als sie ein Kind bekommt - Vaterschaft ungeklärt -, geht er nachts zu ihrem Haus und küßt das Tor. Er lebt "die wilde Keuschheit, die wollüstigen Bitternisse, die schüchterne, eitle, trostreiche Weltverachtung seiner siebzehn Jahre". Aber er bleibt nicht einfach stehen und schaut und schmachtet. Er schleicht weiter durch die dunklen Gassen, landet im Blauen Engel, in der Garderobe der Tänzerin. Und was er sich dort zusammenphantasiert, gehört zu dem Besten, dem Modernsten, das dieser Roman zu bieten hat. "Es gab Stunden", heißt es da, wo er die Künstlerin Fröhlich "zu seinen Füßen zu sehen wünschte, wo er sie begehrte, um sie zu demütigen, um ihren Liebkosungen den Geschmack düsteren Lasters zu geben - und durch solch Laster seine eigene Liebe zu beschmutzen, in der auf den Knien bettelnden Dirne sie, Dora Breetpoot selbst, zu erniedrigen und dann vor ihr hinzusinken und köstlich zu weinen."
Nach einem Englandaufenthalt kehrt Lohmann zurück in eine "entgötterte Stadt". Er liebt nicht mehr. Die Kräfte, die ihn zu Dora Breetpoot hingezogen haben, wirken nicht mehr. Aus der Konsulin ist eine "kleine Provinzdame" mit Geldsorgen geworden. Und die Künstlerin Fröhlich, mit der und an der er sich rächen wollte für seine eigene Demütigung, ist avanciert zur "eleganten Kokotte". Zwei Jahre sind vergangen - eine Ewigkeit für einen Heranwachsenden -, seit sie ihm "verzottelt, halb aufgeknöpft, mit zerlaufener Schminke" entgegengetreten ist. Beinahe wäre er ihr verfallen. Beinahe - hätte Unrat ihn gefaßt.
Das ist die Geschichte, ihr Rückgrat. Sie ist der Grund, warum der Roman bis heute funktioniert. Sie ist wehmütig und schön. Die Komödie vom Professor Unrat entlarvt sich selbst. Der Kleinstadttyrann wird abtransportiert, wir weinen ihm nicht nach. Was zurückbleibt, sind Lohmanns bereits ein wenig verklärte Erinnerung an die Provinzheimat, zwei gar nicht so unterschiedliche Frauen und die letztlich harmlosen Ausbrüche des alten Lehrers. "Lohmann", der Dichter, "liebte die Dinge vor allem um ihres Nachklangs willen."
Mann schrieb, es würde zwanzig Jahre dauern, bis die Schüler Unrats poetische Pedanterie, seine Jungfrauenschändung, überwunden hätten. "Wer den Triumph der Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit . . . je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben."
Es sind zwanzig Jahre vergangen, seit ich meine Abschlußklausur zum "Unrat" geschrieben habe. Es war grausam. Kein Puls mehr, keine Wärme, nichts. Aber jetzt nehme ich das zerfledderte Buch noch einmal in die Hand. Ich blättere darin. Lese hier einen Satz, dort eine ganze Szene. Entdecke Randnotizen in einer Handschrift, die nicht mehr meine ist. Und siehe da, das Buch lebt. Die Künstlerin Fröhlich hat eine Stimme. Ich dachte, sie sei verstummt. Das Publikum im Blauen Engel ist ausgelassen wie eh und je. Der Professor schaut durch den Türspalt auf die Bühne, er schwitzt und schmunzelt. Er sieht nicht aus, als hätte er einen Genozid der Superlative auf dem Gewissen. Und Lohmann, der junge Dichter, der in meiner Erinnerung wie tot auf dem Boden der Garderobe gelegen hat - er steht auf. Wischt sich mit der Hand den Staub vom Ärmel, als wäre er nur kurz gestrauchelt.
Die Jubiläumsausgabe von "Professor Unrat" erscheint bei S. Fischer und kostet 14 Euro.
Gregor Hens hat zuletzt veröffentlicht "Matta verläßt seine Kinder". S. Fischer, 14 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main