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Der Osten ist noch lange nicht entdeckt. Königsberg und Czernowitz, Lemberg und Odessa, die großen Flüsse und die unendlichen Landschaften - Karl Schlögel hat ein faszinierendes Buch über die Welt im Osten geschrieben. »Schlögel ist ein Ostverführer. Glücklich mischen sich in seinen Texten Essay und Reportage, Theorie und Anschauung, Enzyklopädie und Detailbeobachtung.« NZZ

Produktbeschreibung
Der Osten ist noch lange nicht entdeckt. Königsberg und Czernowitz, Lemberg und Odessa, die großen Flüsse und die unendlichen Landschaften - Karl Schlögel hat ein faszinierendes Buch über die Welt im Osten geschrieben. »Schlögel ist ein Ostverführer. Glücklich mischen sich in seinen Texten Essay und Reportage, Theorie und Anschauung, Enzyklopädie und Detailbeobachtung.« NZZ
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Autorenporträt
Karl Schlögel, geboren 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Sankt Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er war bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 1990 erhielt er den Europäischen Essaypreis Charles Veillon, 1999 den Anna Krüger Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin sowie 2005 den Hamburger Lessing-Preis. 2018 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt.Literaturpreise:Auswahl:2012 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis2012 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis2010 Samuel-Bogumil-Linde-Preis2009 Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung2005 Lessing-Preis2004 Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2001

Corso im Osten
Karl Schlögels Essaysammlung
mit europäischen Städtebildern
Über Mangel an Osteuropa-Experten kann sich man sich hierzulande sicher nicht beklagen. Kaum einer unter ihnen ist dabei so vielseitig wie Karl Schlögel. Er hat in Berlin, Moskau und St. Petersburg studiert, sich mit zahlreichen Büchern – darunter „Berlin – Ostbahnhof Europas” und „Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens” – sowie mit unzähligen Aufsätzen und Artikeln einen Namen gemacht und ist heute Professor für Osteuropäische Geschichte an der „Viadrina” in Frankfurt an der Oder.
Seit zehn Jahren erst gibt es diese Universität, sie wird von deutschen, aber auch osteuropäischen, vor allem polnischen Studenten besucht. Ihre kurze Geschichte ist gleichsam ein Beweis für die These, die Schlögel in seinem neuen Buch „Promenade in Jalta und andere Städtebilder” vertritt: Europa hat sich zu einem neuen Kontinent gewandelt, und diese Tatsache ist in erster Linie auf die Entwicklung im Osten zurückzuführen. Allerdings, so Schlögels weitere Ausführungen, ist dieser Osten immer noch wenig bekannt, und wer sich aufmacht, um ihn kennenzulernen, der tut das nicht ohne gewisse Skepsis und Geringschätzung. Dass das Buch diesem Zustand abhelfen will, versteht sich von selbst – und wenn man sich genug Zeit nimmt, um es gründlich durchzulesen, wird man in der Tat reichlich mit Informationen versorgt und darüber hinaus dazu animiert, seine Einstellung zu den osteuropäischen Ländern zu revidieren.
Natürlich mangelt es nicht an Exkursionen in die Geschichte Osteuropas – der Verfasser ist schließlich Historiker. Doch geht es ihm dabei, wie er im Vorwort beteuert, weniger um die „historischen Augenblicke” als vielmehr um die „molekularen Vorgänge” – die durchaus entscheidend und dramatisch sind. Alltags-Beobachtungen nehmen also einen beträchtlichen Platz ein, die aus den Begegnungen mit Menschen und den Betrachtungen der Orte herrühren. Ein „Abenteuer- und Liebesroman” – wie der Verlag es preist – ist das Buch dann vielleicht doch nicht geworden, aber man findet viele stimmungsvolle, mitunter nostalgische Bilder zwischen jenen Passagen, die den Wissensdurst stillen sollen: „Die Stadt sinkt in die Dunkelheit zurück, und die Stadt der Lichter geht an”, heißt es im Titel-Essay: „Allabendlich verwandelt sich die Promenade in etwas, was Rummelplatz und Laufsteg, Bühne und Corso in einem ist. Es herrscht dichtes Gedränge. Die Leute kommen aus ihren Quartieren und genießen das Schauspiel, das sie selber sind.”
Beginn in Berlin
Die 25 Berichte, Essays und Vorträge, aus denen das Buch besteht, sind in den Jahren 1988 bis 2000 entstanden und in den meisten Fällen bereits in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Dem möglichen Vorwurf der Beiläufigkeit versucht Schlögel zu entgehen, indem er die Texte – die sich immer auf Städte konzentrieren – in mehrere Gruppen ordnet. Im ersten Teil, der mit einer Impression aus Berlin im ersten Jahr nach der Wende beginnt, geht es um die räumlichen Koordinate des neuen Europa, von denen der Autor eine Reflexion über die generelle Bedeutung dieser Dimension ableitet. Die zweite Gruppe umfasst Texte zu sowjetischen Städten, die Schlögel noch vor der Wende, aber schon im beginnenden Umbruchstadium besuchte; dazu gehören Porträts von Wilna, Lemberg oder Nishnij Novgorod. Die dritte Gruppe, die sich mit Städten der Region befasst (Lodz, Riga, Wladiwostok, Odessa), geht der Frage nach, inwieweit das östliche Europa aus eigener Kraft die Schwierigkeiten der postkommunistischen Phase meistern und eine Erneuerung tragen kann.
In der vierten Gruppe sind Städte wie Breslau oder Königsberg zu finden. Mit gutem Grund: Wer sich in den Osten Europas begibt, stößt zwangsläufig auf die Spuren deutscher Geschichte, die sich dort eingegraben haben. Dies gilt vor allem für die polnischen, litauischen und ukrainischen Gebiete, deren Geschichte, so Schlögels Überzeugung, „noch einmal neu erzählt werden wird – jetzt, wo endlich alle Schlachten geschlagen sind, jenseits allen Revisionismus und jenseits aller Verdächtigungen”. Diese Annahme ist durchaus berechtigt, vor allem wenn es um die deutsch-polnische Geschichte geht. Jahrzehntelang wurde verschwiegen und verfälscht, was für Hunderttausende Polen und Deutschen die wichtigste und zugleich schmerzvollste Erfahrung ihres Lebens war – wobei die einen die Erfahrung der „Vertreibung” mit Danzig und Breslau assoziieren, die anderen mit Wilna und Lemberg assoziieren.
Die letzte Gruppe schließlich bringt Texte, die sich mit neuen Kriegen und Vertreibungen, etwa in Tschetschenien oder auf dem Balkan, beschäftigen. Im Vorwort entschuldigt sich Karl Schlögel dafür, dass er kein Kapitel dem neuen „Städtetod” gewidmet hat – dem von Vukovar, Grosny oder Sarajewo. Er besitze nicht die Gabe, Gräuel zu beschreiben, der Härte und den Bildern des Todes gerecht zu werden. Dennoch lässt er sich seine Zuversicht nicht nehmen. Schlögel ist überzeugt, dass die Gesellschaften des mittleren und östlichen Europa stark genug sind, die letzten Katastrophen ohne Panik und Hysterie zu bewältigen und ihr Leben neu einzurichten. Dann aber fügt er dieser optimistischen Prognose die Frage an, ob das westliche Europa mit ähnlicher Gelassenheit dem Neuen begegnen werde – und diese Skepsis wirkt ein wenig ehrlicher als der Optimismus.
MARTA KIJOWSKA
KARL SCHLÖGEL: Promenade in Jalta und andere Städtebilder. Hanser Verlag, München Wien 2001. 312 S., 39,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2001

Professor Schlögel, we presume?
Der Livingstone des Wilden Ostens versammelt seine Reisefrüchte

Auf der Karte der Welt, heißt es, gebe es keine weißen Flecken mehr. Aber das ist nicht wahr. Als vor dreizehn Jahren absehbar wurde, daß man plötzlich auf eigene Faust auch wieder nach St. Petersburg, Lemberg, Irkutsk, Ulan Bator oder Wladiwostok reisen konnte - da entstand der Wilde Osten. Es handelte sich um eine Gegend, in der man nicht in jedem Fall ungestraft wandelte; zum ersten Mal seit dem neunzehnten Jahrhundert gab es solche Länder wieder.

Der Unterschied zu dem weißen Flecken auf der Landkarte von damals bestand allerdings darin, daß die No-go-areas, die sich zum Ausgang des unsrigen dann doch noch aufgetan hatten, nicht natürliche, sondern gesellschaftlich-historisch-kunsthistorische Gefahren- und Abenteuerzonen darstellten, eine Art Afrika der Kulturgeschichte und der Lektüre. Man sah dort nicht vom Kilimandscharo auf weite Ebenen herab, sondern von derselben Treppe in Odessa, die man aus Eisensteins Film kannte, in eine durch Jahrzehnte zerstörte und sich jetzt skurril, turbulent oder unheimlich belebende Stadtlandschaft hinaus. Zu erobern waren nicht die Steppe und der Dschungel, sondern die Straße und der Platz. Man holte sich nicht die Malaria; das Auto wurde geklaut. Und die glaubwürdigsten Schurken und die schönsten Frauen in Hollywoodfilmen haben seither Namen, die tschechisch klingen, und Gesichter, die aussehen, wie man sich Clawdia Chauchat in Thomas Manns "Zauberberg" vorstellt.

Daß das westliche Publikum sich über dieses östliche Grusel- und Sehnsuchtsland inzwischen diese oder jene Meinung gebildet, manches Wissen angesammelt oder auch schon eigene Anschauungen gewonnen hat, liegt zu einem großen Teil daran, daß während dieser Öffnungsdekade ein Mann regelmäßig hingefahren und von dort berichtet hat, der seither zu einer Art David Livingstone unseres Schwarzen Kontinents geworden ist. Und wo immer wir Hinterherreisenden staunend stehen, auf jener Odessaer Treppe, auf dem Petersburger Newski-Prospekt, auf dem Marktplatz von Breslau oder der Lódzer Piotrkowska-Straße, unsere Blicke und Eindrücke sind zu einem gut Teil geleitet und präfiguriert von Texten eines Mannes, der überall schon da war. Denn auch wir sind ja schon einmal dagewesen, in den Städtebildern eines an der Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrenden Historikers und Slawisten: "Prof. Dr. Karl Schlögel, we presume?"

Die jetzt in dem Band "Promenade in Jalta" wieder abgedruckten Essays und Reportagen Schlögels (fast ein ganzer Band der "Anderen Bibliothek" ist in das neue Buch hineingeraten, ein publizistisch ungewöhnliches, aber durch den Erkenntnisgewinn wohl doch gerechtfertigtes Verfahren) zeigen, daß wir auf all jenen Lektüre-Reisen der Führung eines kundigen und begeisterten Mannes gefolgt sind; eines Cicerone aber auch, der uns die Freiheit gelassen hat, eigene Erfahrungen zu machen und Eindrücke zu sammeln. Wer in Breslau, Vilnius oder Lemberg schon war, erkennt seine eigenen Städte in Schlögels Text zwanglos wieder, auch wo er dort etwas anderes gesehen und erfahren hat. Und für die Vorbereitung solcher Reisen gibt es kaum etwas Besseres als die Lektüre von Schlögels Band.

Blickwinkel und Erkenntnisinteresse Schlögels stammen dabei durchaus noch aus der großen Zeit der Mitteleuropa-Begeisterung Mitte und Ende der achtziger Jahre, als man in Stadtcharakteren wie Prag, Krakau, Wien, Triest und Lemberg oder in Landschaften wie jenem Galizien-Lodomerien der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie eine postsozialistische Utopie zu entdecken glaubte, ein zivilgesellschaftliches Never-never-land friedlichen und kulturell fruchtbaren Zusammenlebens verschiedener Ethnien, Kulturen, Religionen und Sprachen - ohne sich freilich klarzumachen, daß man den Kaiser Franz Joseph nicht aus der Kapuzinergruft holen und Heinrich Himmler nicht aus der Geschichte herausoperieren konnte; daß, wie Dan Diner geschrieben hat, die Umstände, die jenes geträumte Mitteleuropa einmal möglich gemacht haben, schon durch Revolution und Nationalismus (und erst recht durch die Nazis und Stalinisten) wie durch ein abgefeuertes Projektil, unwiderruflich also, durchschlagen worden sind.

Und doch ist es nicht nur sympathisch, sondern es schärft auch den eigenen Blick, jener Utopie in Schlögels Texten wiederzubegegnen: in dem sozusagen atemlosen und immer begeisterten Staunen, das seinem Stil übrigens nicht auf jeder Seite seines Buchs nur gutgetan hat. Diese Begeisterung beachtet vor allem anderen die Vielfalt und das Kleine, das Turbulente und das Abseitige. Die Toleranz im Improvisierten fallen ihr auf, der Erfolg der bricolage, kurz: das Neue, das sich in diesen Gegenden und Gesellschaften zeigt. Denn das scheint ja der eigentliche Grund unserer Faszination für Mittel- und Osteuropa zu sein: daß dort der Kapitalismus und die Welt noch nicht fertig sind, sondern erst entstehen. Daß dort so vieles, von den Firmenkonstruktionen bis zur Art, wie die Frauen sich anziehen, selbstgebastelt und gerade erst erfunden wirkt, daß dort im Nachholen eine Moderne entsteht, die ihren Erbauern nicht an der Wiege gesungen worden ist: learning on the job.

Sich vom Neuen im Unfertigen gesellschaftspolitisch inspirieren zu lassen ist Schlögel wahrscheinlich nirgends einleuchtender gelungen als in der Beschreibung des osteuropäischen Basars, den als Phänomen und historischen Indikator entdeckt und als erster beschrieben zu haben er beanspruchen darf: "Wahrscheinlich gibt es keinen genaueren Gradmesser für den Stand der ,Transformation' der ehemals sozialistischen Länder als Aufkommen und Verschwinden des Basars: wo er verschwunden ist, ist der Prozeß abgeschlossen, wo er noch da ist, wird er noch gebraucht."

Es ist das Turbulente, Unkonventionelle, Fraktale, Halbkriminelle, Spekulative der neuen ökonomischen Verhältnisse, wie sie Mitte der neunziger Jahre auf dem Potsdamer Platz und dem Warschauer "Plac Defilad" sich gezeigt hat, es sind die "Kriechströme" des Ameisenhandels unzähliger Kleinkapitalisten, die "Tausend Plateaus" der neuen Verhältnisse im Osten, die Schlögel mit fast utopischer, wahrscheinlich aus Enzensbergers berühmtem Aufsatz "Vermutungen über die Turbulenz" entlehnter Emphase beschreibt (wobei zuweilen auch das Stilideal des "Kommunistischen Manifests" hineinzuspielen scheint): "Das Lebensgefühl ganzer Generationen ist dahin. Nicht die Arbeit oder die Ausbildung, die man genossen hat, entscheidet darüber, ob es einem gutgeht, sondern ob man im richtigen Augenblick an der richtigen Stelle zugegriffen hat. Statussymbole und Rangunterschiede sind umgestürzt. Der Kioskbesitzer, der seine erste Million gemacht hat, fährt im Mercedes vor, um sich die Lizenz abzuholen bei einem hohen Beamten der Stadt, den er jederzeit kaufen kann. Die Belegschaften ganzer Fabriken kann man auf Basaren wiederfinden. Aus Ingenieuren wurden commis voyagers. Tausende von Menschen, die ihr Leben lang ein seßhaft-bürgerliches Leben geführt haben, sind unterwegs in Istanbul, Charbin, Saloniki, Lódz Es gibt inzwischen eine ganze Generation, die im Sog des Basars aufgewachsen ist, Kinder, die ihre Väter nur in großen Abständen sehen, weil sie Autos von Dortmund nach Kaunas überführen."

Daß Schlögel die "sozialen Unkosten" dieser Transformationen außer acht ließe, kann man ihm nicht vorwerfen. Und doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er die Turbulenz im Osten manchmal auch unzulässig idealisiert oder zumindest heroisiert hat. Denn gerade nachdem die "Basarphase" der Transformationsgesellschaften in den Ländern westlich der GUS-Staaten inzwischen abgeschlossen ist, gerät das Gefahrenpotential in den Blick, das während ihrer frühkapitalistischen Heldenzeit in die Gesellschaften unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarländer eingedrungen ist. Daß sich Kioskbesitzer hohe Kommunalbeamte kaufen können, mag einem als Betrachter jener individuellen Lebensgeschichte imponieren. Für die Gesellschaft, in der dieser Vorgang möglich ist, stellt es ein riesiges Problem dar. Wie die Immunsysteme einer offenen Gesellschaft mit solchen Erbschaften in Zukunft fertig werden (zumindest in Polen, Tschechien und Ungarn hat man bewiesen, daß posttotalitäre Gesellschaften mit ihnen fertig werden können), wäre das interessanteste Thema für eine Fortsetzung dieser "Promenade in Jalta".

STEPHAN WACKWITZ

Karl Schlögel: "Promenade in Jalta und andere Städtebilder". Hanser Verlag, München und Wien 2001. 312 S., geb., 39,80 DM.

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