John Glueck ist im Krieg. Tief in Deutschland, im dunklen Hürtgenwald in der Eifel, 1944. Vor kurzem noch war er Student in New York, voller Liebe zur deutschen Kultur seiner Vorfahren; dann, als Offizier bei Sykewar, der Propaganda-Abteilung der US-Army, traf Glueck in Frankreich sein Idol Ernest Hemingway. Für ihn zieht Glueck in den scheinbar unbedeutenden, doch von der Wehrmacht eisern verteidigten Hürtgenwald bei Aachen. Er entdeckt das Geheimnis des Waldes, als eine der größten Katastrophen des Zweiten Weltkriegs beginnt: die «Allerseelenschlacht» mit über 15 000 Toten. Was kann John Glueck noch retten? Sein Kamerad Van, der waldkundige Seneca-Indianer? Seine halsbrecherischen Deutschkenntnisse? Ein Wunder?
Niemand trat unverändert wieder aus dem «Blutwald» heraus, den die Ignoranz der Generäle zu einem Menetekel auch folgender Kriege machte. Zwanzig Jahre später, in Vietnam, erfährt John Glueck: Die Politik ist zynisch und verlogen wie eh und je. Er wird handeln, und sein Weg führt von der vergessenen Waldschlacht direkt zu den Pentagon-Papers.
Steffen Kopetzkys großer Roman spannt einen gewaltigen Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis hin zu Vietnam. Ungeheuer spannend erzählt er von Krieg und Lüge, und von einem Mann, der alle falsche Wahrheit hinter sich lässt.
Niemand trat unverändert wieder aus dem «Blutwald» heraus, den die Ignoranz der Generäle zu einem Menetekel auch folgender Kriege machte. Zwanzig Jahre später, in Vietnam, erfährt John Glueck: Die Politik ist zynisch und verlogen wie eh und je. Er wird handeln, und sein Weg führt von der vergessenen Waldschlacht direkt zu den Pentagon-Papers.
Steffen Kopetzkys großer Roman spannt einen gewaltigen Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis hin zu Vietnam. Ungeheuer spannend erzählt er von Krieg und Lüge, und von einem Mann, der alle falsche Wahrheit hinter sich lässt.
Die raffinierte Verquickung von historischen Fakten, spielerischer Phantasie und filmischem Blick machen "Propaganda" zu Kopetzkys bislang bestem Roman. Martin Halter Berliner Zeitung 20191007
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2019Umwertung der heroischen Werte
Steffen Kopetzky schildert in "Propaganda" die Schlacht im Hürtgenwald 1944/45
Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, ein Opfer zu bringen. Und im Krieg kann man bekanntlich den maximalen Verlust erleiden: das Leben selbst. Wer allerdings siegreich ist, der erhält dafür auch die höchste Anerkennung, der wird zum aristokratischen "Herrn", wie es Hegel in seiner "Phänomenologie des Geistes" ausdrückt. Nun waren die blutigen Heldengeschichten allerdings auch um 1807 nicht mehr ganz zeitgemäß, und es sollte zukünftig der "Knecht" sein, der durch Arbeit eine menschlichere, demokratischere Welt schafft.
Von deren Verteidigung, aber auch von der Frage, ob es heute noch Heldengeschichten gibt, handelt Steffen Kopetzkys Roman "Propaganda", in dem der Autor von der wohl schmerzlichsten strategischen Niederlage erzählt, die die Armee der Vereinigten Staaten bis dahin erleiden musste. Denn als die US-Army im Oktober 1944 in den Hürtgenwald in der Eifel zog, sah sie sich schon am Rhein, doch es folgte ein fünfmonatiges Gemetzel der schlimmsten Sorte. Die Deutschen lauerten in versteckten Bunkern, hatten den Wald mit Minen und Sprengfallen durchsetzt, und das Gebirge und der schneereiche Winter erschwerten jedes Vorankommen.
In diese Hölle also schickt Kopetzky seinen Protagonisten Major John Glueck, der als Propagandist eine amerikanische Heldengeschichte schreiben soll, um die deutsche Jugend ideologisch umzupolen. Glueck ist Literaturspezialist für die Propaganda-Zeitung "Sternenbanner", die über dem Deutschen Reich abgeworfen wird, und der Star seiner ersten Front-Reportage steht fest: Ernest Hemingway.
Hemingway war als Berichterstatter tatsächlich im Hürtgenwald stationiert und kämpfte 18 Tage an vorderster Front, genauso wie J. D. Salinger. Und die Beschreibung der Begegnung der beiden Schriftsteller ist eine der vielen reizvollen Stellen des Romans, der so einigen Berühmtheiten ein kleines literarisches Denkmal setzt; das traurigste und zugleich schönste überraschenderweise dem Komponisten Julius Eastman.
John Glueck, so erfahren wir in unterhaltsamen Rückblicken, hat selbst literarische Ambitionen, besuchte in seiner Jugend einen Schreibkurs an der Columbia-University und trank mit Bukowski. Aufgrund seiner tadellosen Deutschkenntnisse (seine Vorfahren waren deutsche Einwanderer) ist er prädestiniert für den Einsatz im Hürtgenwald. Hemingway zu finden, ist für Glueck auch ein persönliches Anliegen: es waren die Geschichten des späteren Nobelpreisträgers, die in Gluecks Generation die Kriegs- und Abenteuerlust geweckt haben.
Die Hürtgenwald-Handlung ist allerdings als Binnenerzählung konzipiert und lässt sich als Teil eines Romans lesen, den der gealterte und von einem Agent-Orange-Unfall im Vietnamkrieg schwer gezeichnete John Glueck 1971 im Gefängnis verfasst, dem wir dabei in gewisser Hinsicht über die Schulter schauen. Das ist ein großer Kunstgriff, denn so verdoppelt sich Kopetzkys Text, ist auch Darstellung des Schreibens eines tief in der amerikanischen Stil-Tradition verwurzelten Autors. Warum Glueck im Gefängnis sitzt, wird erst allmählich klar: Er ist irgendwie in die Veröffentlichung der Pentagon-Papers verwickelt. Diese setzten die amerikanische Öffentlichkeit damals von den geheimen Plänen der US-Regierung in Vietnam in Kenntnis, was nicht unwesentlich zur Beendigung des Krieges beitrug.
John Glueck will die Wahrheit des Krieges, die Wahrheit seiner eigenen Erlebnisse mit literarischen Mitteln erfassen, und seine Reflexionen führen ihn immer wieder in den Hürtgenwald. Die Reportage über Hemingway wird dort allerdings nicht zustande kommen. Denn in Gluecks Romanbeschreibung verhält sich Hemingway an der Front so wie ein Cowboy in einem John-Ford-Western. Er trinkt den ganzen Tag, lagert verantwortungslos einen Berg voller Granaten in seiner Badewanne, prügelt sich in einer Bar mit anderen Soldaten und schließt sich auf eigene Faust einigen Résistance-Kämpfern an. Der Schriftsteller ist selbst auf der Suche nach der großen Kriegsgeschichte, und eine Story über Hemingway als Western-Held im deutschen Wald hätte sicher den Zweck erfüllt, junge Deutsche für die amerikanische Kultur zu begeistern. Doch das von der Propaganda-Abteilung bestellte heroische Hemingway-Narrativ verstellt den Blick auf die Schrecken des Krieges, das zumindest wird John Gluecks Einsicht sein.
Das Tolle an Kopetzkys Binnenerzählung ist nun, dass sie diese Erkenntnis noch einmal formal wiederholt: Der von John Glueck verfasste autobiographische Roman antizipiert die nie geschriebene Hemingway-Reportage, indem der Text uns ausführlich über den Schriftsteller berichtet, weist sie aber dadurch auch als unangemessen aus. Denn die Soldaten, die im Hürtgenwald in den Gräben hocken, von denen etliche verhungern oder erfrieren, weil die Logistikketten im Wald versagen, und die täglich die von Granaten zerfetzten Körper ihrer Kameraden entdecken, sind keine Western-Helden.
An einer Stelle des Buchs antwortet Glueck dem ebenfalls auf amerikanischer Seite kämpfenden Seneca-Indianer Van auf die Frage, warum er Zweifel an der Hürtgenwald-Mission habe: "Ich verstehe die Frage nicht. Die amerikanische Propaganda ist der Wahrheit verpflichtet. Und was ich hier bisher gesehen habe - ist einfach niederschmetternd. All die Toten." Es waren insgesamt 24 000.
Wie kann man das Grauen des Kriegs angemessen erzählen? Diese Frage stellt der Roman. Dabei steht das Scheitern der Hemingway-Reportage auch für das Scheitern eines gewissen Abenteuerstils, eines allzu männlich-heroischen Blicks, nicht nur im Roman. Denn auch aus dem Versuch des echten Hemingway, eine Erzählung aus seinen Erlebnissen im Hürtgenwald zu machen, wurde nie etwas. John Glueck, dessen Name natürlich sprechend ist, gelingt es. Dass es die Erfahrungen der Schrecken des Hürtgenwalds sind, die ihn später gegen den Vietnamkrieg kämpfen lassen, ist dabei eine gelungene Parallelisierung, die auch assoziativ gut funktioniert. Ähnlich wie in Coppolas "Apocalypse Now" gerät John Glueck immer tiefer in den deutschen Dschungel und begegnet dort dem Wahnsinn des Krieges. Vietnam ist im "Waldkrieg" in der Eifel - bei aller historischen Genauigkeit von Kopetzkys Schilderungen - immer auch schon anwesend.
Als große Lichtgestalt taucht in diesem deutschen Dschungel dann Dr. Günter Stüttgen auf, der auch in der Realität so hieß und als Truppenarzt bei der Wehrmacht tätig war. Statt über Hemingway wird Glueck seine Reportage über ihn schreiben, da Stüttgen eine andere Art Heldentum verkörpert, eines, das auf paradoxe Weise unseren postheroischen Gesellschaften angemessen ist. Denn als Truppenarzt setzte er in der Allerseelenschlacht im Hürtgenwald sein Leben aufs Spiel, um andere Leben zu retten. Mitten im Zustand zunehmender Rechtlosigkeit besteht er auf der Einhaltung der Genfer Konvention und behandelt auch amerikanische Verwundete. Der Truppenarzt wurde von den Nazis zum Tode verurteilt, weil er den Alliierten ein deutsches Lazarett übergab, konnte der Strafe aber durch den Sieg über den Nationalsozialismus entgehen.
Während Stüttgen auf die Einhaltung des Rechts besteht, um die Humanität zu verteidigen, wird John Glueck in einem Akt zivilen Ungehorsams geltendes Recht brechen, mit dem gleichen Ziel. Auch das ist eine schöne reflexive Volte des Romans. Denn in der Figur John Glueck findet sich eine demokratische Haltung reflektiert, die für die Widersprüche und ideologischen Effekte der eigenen politischen Überzeugung sensibel geworden ist. Während man im Krieg gegen den Faschismus der eigenen demokratischen Propaganda trotz allem noch glauben durfte, ist das im Vietnamkrieg nicht mehr möglich. Kopetzky lässt hier keine Zweifel aufkommen: Die Vereinigten Staaten haben sich schuldig gemacht, die Erzählung vom Kampf für die Demokratie wurde zur Ideologie, gegen die sich der ehemalige Propagandist Glueck stellt. In ihm findet die Umwertung der heroischen Werte am Ende des Romans dann auch ein neues Heldenideal: den kritischen, mündigen Whistleblower. Und was könnte aktueller sein?
MATTHIAS UBL
Steffen Kopetzky: "Propaganda". Roman. Rowohlt Berlin, 495 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Steffen Kopetzky schildert in "Propaganda" die Schlacht im Hürtgenwald 1944/45
Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, ein Opfer zu bringen. Und im Krieg kann man bekanntlich den maximalen Verlust erleiden: das Leben selbst. Wer allerdings siegreich ist, der erhält dafür auch die höchste Anerkennung, der wird zum aristokratischen "Herrn", wie es Hegel in seiner "Phänomenologie des Geistes" ausdrückt. Nun waren die blutigen Heldengeschichten allerdings auch um 1807 nicht mehr ganz zeitgemäß, und es sollte zukünftig der "Knecht" sein, der durch Arbeit eine menschlichere, demokratischere Welt schafft.
Von deren Verteidigung, aber auch von der Frage, ob es heute noch Heldengeschichten gibt, handelt Steffen Kopetzkys Roman "Propaganda", in dem der Autor von der wohl schmerzlichsten strategischen Niederlage erzählt, die die Armee der Vereinigten Staaten bis dahin erleiden musste. Denn als die US-Army im Oktober 1944 in den Hürtgenwald in der Eifel zog, sah sie sich schon am Rhein, doch es folgte ein fünfmonatiges Gemetzel der schlimmsten Sorte. Die Deutschen lauerten in versteckten Bunkern, hatten den Wald mit Minen und Sprengfallen durchsetzt, und das Gebirge und der schneereiche Winter erschwerten jedes Vorankommen.
In diese Hölle also schickt Kopetzky seinen Protagonisten Major John Glueck, der als Propagandist eine amerikanische Heldengeschichte schreiben soll, um die deutsche Jugend ideologisch umzupolen. Glueck ist Literaturspezialist für die Propaganda-Zeitung "Sternenbanner", die über dem Deutschen Reich abgeworfen wird, und der Star seiner ersten Front-Reportage steht fest: Ernest Hemingway.
Hemingway war als Berichterstatter tatsächlich im Hürtgenwald stationiert und kämpfte 18 Tage an vorderster Front, genauso wie J. D. Salinger. Und die Beschreibung der Begegnung der beiden Schriftsteller ist eine der vielen reizvollen Stellen des Romans, der so einigen Berühmtheiten ein kleines literarisches Denkmal setzt; das traurigste und zugleich schönste überraschenderweise dem Komponisten Julius Eastman.
John Glueck, so erfahren wir in unterhaltsamen Rückblicken, hat selbst literarische Ambitionen, besuchte in seiner Jugend einen Schreibkurs an der Columbia-University und trank mit Bukowski. Aufgrund seiner tadellosen Deutschkenntnisse (seine Vorfahren waren deutsche Einwanderer) ist er prädestiniert für den Einsatz im Hürtgenwald. Hemingway zu finden, ist für Glueck auch ein persönliches Anliegen: es waren die Geschichten des späteren Nobelpreisträgers, die in Gluecks Generation die Kriegs- und Abenteuerlust geweckt haben.
Die Hürtgenwald-Handlung ist allerdings als Binnenerzählung konzipiert und lässt sich als Teil eines Romans lesen, den der gealterte und von einem Agent-Orange-Unfall im Vietnamkrieg schwer gezeichnete John Glueck 1971 im Gefängnis verfasst, dem wir dabei in gewisser Hinsicht über die Schulter schauen. Das ist ein großer Kunstgriff, denn so verdoppelt sich Kopetzkys Text, ist auch Darstellung des Schreibens eines tief in der amerikanischen Stil-Tradition verwurzelten Autors. Warum Glueck im Gefängnis sitzt, wird erst allmählich klar: Er ist irgendwie in die Veröffentlichung der Pentagon-Papers verwickelt. Diese setzten die amerikanische Öffentlichkeit damals von den geheimen Plänen der US-Regierung in Vietnam in Kenntnis, was nicht unwesentlich zur Beendigung des Krieges beitrug.
John Glueck will die Wahrheit des Krieges, die Wahrheit seiner eigenen Erlebnisse mit literarischen Mitteln erfassen, und seine Reflexionen führen ihn immer wieder in den Hürtgenwald. Die Reportage über Hemingway wird dort allerdings nicht zustande kommen. Denn in Gluecks Romanbeschreibung verhält sich Hemingway an der Front so wie ein Cowboy in einem John-Ford-Western. Er trinkt den ganzen Tag, lagert verantwortungslos einen Berg voller Granaten in seiner Badewanne, prügelt sich in einer Bar mit anderen Soldaten und schließt sich auf eigene Faust einigen Résistance-Kämpfern an. Der Schriftsteller ist selbst auf der Suche nach der großen Kriegsgeschichte, und eine Story über Hemingway als Western-Held im deutschen Wald hätte sicher den Zweck erfüllt, junge Deutsche für die amerikanische Kultur zu begeistern. Doch das von der Propaganda-Abteilung bestellte heroische Hemingway-Narrativ verstellt den Blick auf die Schrecken des Krieges, das zumindest wird John Gluecks Einsicht sein.
Das Tolle an Kopetzkys Binnenerzählung ist nun, dass sie diese Erkenntnis noch einmal formal wiederholt: Der von John Glueck verfasste autobiographische Roman antizipiert die nie geschriebene Hemingway-Reportage, indem der Text uns ausführlich über den Schriftsteller berichtet, weist sie aber dadurch auch als unangemessen aus. Denn die Soldaten, die im Hürtgenwald in den Gräben hocken, von denen etliche verhungern oder erfrieren, weil die Logistikketten im Wald versagen, und die täglich die von Granaten zerfetzten Körper ihrer Kameraden entdecken, sind keine Western-Helden.
An einer Stelle des Buchs antwortet Glueck dem ebenfalls auf amerikanischer Seite kämpfenden Seneca-Indianer Van auf die Frage, warum er Zweifel an der Hürtgenwald-Mission habe: "Ich verstehe die Frage nicht. Die amerikanische Propaganda ist der Wahrheit verpflichtet. Und was ich hier bisher gesehen habe - ist einfach niederschmetternd. All die Toten." Es waren insgesamt 24 000.
Wie kann man das Grauen des Kriegs angemessen erzählen? Diese Frage stellt der Roman. Dabei steht das Scheitern der Hemingway-Reportage auch für das Scheitern eines gewissen Abenteuerstils, eines allzu männlich-heroischen Blicks, nicht nur im Roman. Denn auch aus dem Versuch des echten Hemingway, eine Erzählung aus seinen Erlebnissen im Hürtgenwald zu machen, wurde nie etwas. John Glueck, dessen Name natürlich sprechend ist, gelingt es. Dass es die Erfahrungen der Schrecken des Hürtgenwalds sind, die ihn später gegen den Vietnamkrieg kämpfen lassen, ist dabei eine gelungene Parallelisierung, die auch assoziativ gut funktioniert. Ähnlich wie in Coppolas "Apocalypse Now" gerät John Glueck immer tiefer in den deutschen Dschungel und begegnet dort dem Wahnsinn des Krieges. Vietnam ist im "Waldkrieg" in der Eifel - bei aller historischen Genauigkeit von Kopetzkys Schilderungen - immer auch schon anwesend.
Als große Lichtgestalt taucht in diesem deutschen Dschungel dann Dr. Günter Stüttgen auf, der auch in der Realität so hieß und als Truppenarzt bei der Wehrmacht tätig war. Statt über Hemingway wird Glueck seine Reportage über ihn schreiben, da Stüttgen eine andere Art Heldentum verkörpert, eines, das auf paradoxe Weise unseren postheroischen Gesellschaften angemessen ist. Denn als Truppenarzt setzte er in der Allerseelenschlacht im Hürtgenwald sein Leben aufs Spiel, um andere Leben zu retten. Mitten im Zustand zunehmender Rechtlosigkeit besteht er auf der Einhaltung der Genfer Konvention und behandelt auch amerikanische Verwundete. Der Truppenarzt wurde von den Nazis zum Tode verurteilt, weil er den Alliierten ein deutsches Lazarett übergab, konnte der Strafe aber durch den Sieg über den Nationalsozialismus entgehen.
Während Stüttgen auf die Einhaltung des Rechts besteht, um die Humanität zu verteidigen, wird John Glueck in einem Akt zivilen Ungehorsams geltendes Recht brechen, mit dem gleichen Ziel. Auch das ist eine schöne reflexive Volte des Romans. Denn in der Figur John Glueck findet sich eine demokratische Haltung reflektiert, die für die Widersprüche und ideologischen Effekte der eigenen politischen Überzeugung sensibel geworden ist. Während man im Krieg gegen den Faschismus der eigenen demokratischen Propaganda trotz allem noch glauben durfte, ist das im Vietnamkrieg nicht mehr möglich. Kopetzky lässt hier keine Zweifel aufkommen: Die Vereinigten Staaten haben sich schuldig gemacht, die Erzählung vom Kampf für die Demokratie wurde zur Ideologie, gegen die sich der ehemalige Propagandist Glueck stellt. In ihm findet die Umwertung der heroischen Werte am Ende des Romans dann auch ein neues Heldenideal: den kritischen, mündigen Whistleblower. Und was könnte aktueller sein?
MATTHIAS UBL
Steffen Kopetzky: "Propaganda". Roman. Rowohlt Berlin, 495 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2019Der anständige Deutsche und die Kriegskunst
Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erhebt einen Wehrmachtsoffizier zur humanitären Inspirationsfigur
Jede Geschichtsschreibung ist eine Erzählung, die sich auch anders erzählen ließe. Und häufig ändert sich der Blick auf die Geschichte eines Landes, wenn man sie von einer anderen Perspektive aus betrachtet, der Perspektive eines Kindes, eines Dissidenten, eines Gefangenen. In diesem Sinne ist die Anlage von Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erst einmal verheißungsvoll. Der Roman erzählt vom Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive des Amerikaners John Glueck, der in den USA der Minderheit der Pennsylvania-Deutschen angehört. Er wächst also als Amerikaner unter Amerikanern auf, kennt das Land seiner Vorfahren nur aus Erzählungen, spricht aber trotzdem fließend Deutsch.
Im Zweiten Weltkrieg arbeitet John Glueck in London als Redakteur für die Propagandazeitung der US Army und erhält den Auftrag, nach Paris zu reisen, um Ernest Hemingway bei der Einnahme der Stadt durch amerikanische Truppen zu begleiten. Die Sache geht schief, weil Hemingway ständig betrunken ist, und John Glueck landet stattdessen mitten in der Schlacht vom Hürtgenwald in der Eifel, einer Schlacht, die im kollektiven Gedächtnis der USA eine weit größere Rolle spielt als in dem der Deutschen. Für die US Army war die Schlacht vom Hürtgenwald ein strategisches Desaster und eine der verheerendsten Niederlagen der amerikanischen Militärgeschichte.
In der Schlüsselszene des Romans beobachtet John Glueck nun diese Begebenheit: Ein deutscher Offizier, Hauptmann Dr. Stüttgen, Regiment 1056, 89. Division, ruft mitten in der Schlacht beide Seiten zum Innehalten auf, handelt eigenhändig eine Waffenruhe aus und macht sich daran, die Verwundeten beider Armeen zu verarzten. Für ein paar Stunden bricht in der monströsen Schlacht zwischen der US Army und der Wehrmacht, die 24 000 Soldaten das Leben kostete, die Humanität durch. Die Geschichte ist historisch belegt. Das Vorbild für die Figur des humanitären Interventionisten ist der Dermatologe Günter Stüttgen, der nach dem Krieg als Chefarzt im Westberliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus arbeitete und 2003 starb. In Kopetzkys Roman hinterlässt der Arzt einen bleibenden Eindruck bei dem amerikanischen Ich-Erzähler. Von ihm lernt er, dass es in Zeiten der Barbarei, wenn die Menschlichkeit keine Freunde hat, auf die Zivilcourage des Einzelnen ankommt.
Trotzdem ist die Apotheose des deutschen Helden auch hier nicht ganz ohne Eintrübung. Der Arzt, der sich da auf die Genfer Konvention beruft, ist trotz allem Wehrmachtsoffizier, weshalb der Roman an dieser Stelle das Risiko eingeht, sich Applaus vom ganz rechten Rand einzuhandeln. Der Aufruf Alexanders Gaulands, „auf die Leistungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg stolz sein“ zu dürfen, liegt noch nicht lange zurück. Das dürfte Kopetzky bewusst gewesen sein, als er sich entschied, einen Wehrmachtsoffizier zur zentralen humanitären Inspirationsfigur seines Romans zu erheben. Die Setzung ist riskant und darin erst einmal erfreulich, und man will natürlich wissen, was der Roman vorhat mit diesem narrativen Verhängnis, in das er sich selbst begibt.
John Glueck ist allerdings keineswegs überrascht, dass die Wehrmacht einen Mann von dieser Statur in ihren Reihen hat, er vergeht fast vor Bewunderung für die Armee der Nazis. Man könne einiges von ihr lernen, erklärt er, „ganz zweifellos gab es niemals zuvor und danach eine Armee, die einen solchen Traditions- und Theorieschatz mit einer so spektakulären jüngeren Praxis verbinden konnte wie die Wehrmacht und die es zudem verstand, dies an alle Angehörigen durch eine perfekte Ausbildung weiterzugeben.“ Die Wehrmacht, so Glueck, sei der preußischen Tradition verpflichtet, „weite Teile der Bevölkerung mit dem Kriegshandwerk auf eine so profunde, aber auch anständige Weise“ vertraut zu machen. Ein Wehrmachtsgeneral mit ein paar Jahren Erfahrung sei wie ein tibetisches Lama, heißt es: „ein Ozean militärischer Weisheit“. Die charakteristische „intellektuell-geistige“ Herangehensweise der deutschen Spitzenkräfte sei „bereits im ersten Paragrafen des berühmten Handbuchs zur Truppenführung aus dem Jahr 1936 umrissen“ worden: Die Kriegsführung, heißt es dort, sei „eine Kunst, eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende freie, schöpferische Tätigkeit“.
Glueck preist selbst die Integrationsmacht der Wehrmacht: „Am Ende des Krieges war jeder dritte aufseiten Deutschlands kämpfende Soldat ein Nichtdeutscher (es gab sogar eine indische Waffen-SS-Einheit), und sie kamen nicht in Russland zum Einsatz, sondern auch im Westen, bei der Landung der Alliierten, weshalb die britische Presse entsetzt davon sprach, dass man nicht nur gegen Deutschland, sondern regelrecht gegen ganz Eurasien anzutreten habe.“ Die Wehrmacht als globales Unternehmen avant la lettre, als transkontinentales, preußisches Gegen-Commonwealth, anständig, traditionsreich, akademisch. So sieht es John Glueck, und dass es die Deutschen heute nicht so sehen, sei ein Erfolg der amerikanischen Propaganda, nicht zuletzt also sein Verdienst: „Es war ein klares Ziel unserer Nachkriegspropaganda, Preußen und seine Militärtradition, die die Wehrmacht fortgeführt hatte, mit dem Schlagwort Kadavergehorsam abzuqualifizieren.“
Nach seiner Rückkehr nach London schreibt John Glueck statt der Hemingway-Reportage die Geschichte des ehrenwerten Wehrmachtsoffiziers, doch sein Chef lässt ihn wissen, dass man diese Geschichte keinesfalls drucken könne, es sei nicht die Zeit für deutsche Helden.
Man muss das alles nicht böswillig lesen, um dieser Erzählanlage den Gedanken zu entnehmen, dass dieser Propagandaerfolg bis heute fortwirkt und die deutsche Scheu, Stolz auf die Wehrmacht zu empfinden, nicht etwa mit den zahllosen Säuberungsaktionen und Massenmorden zu tun hat oder dem rassenhygienischen Vernichtungskrieg, sondern damit, dass das ganze Land noch immer gefangen ist in einem amerikanisch-propagandistischen Geschichtsbild, aus dem sich die Deutschen bis heute nicht befreit haben. Dass es sich aber bei den Deutschen um ein von den Siegermächten bis heute unterjochtes Volk handelt, das ist dann allerdings wirklich eine klassisch revanchistische Trope.
Der Roman tritt als Lebensrückblick auf. John Glueck schreibt den Text zum größten Teil in einem amerikanischen Gefängnis. Dort ist er gelandet, weil er sich den Heldenmut des deutschen Arztes zu Herzen genommen hat, und dreißig Jahre später selbst zur Tat geschritten ist, als es galt, Kriegsverbrechen zu sühnen. In diesem Falle handelt es sich um die Verbrechen der US-Army im Vietnamkrieg, die durch die Veröffentlichung der Pentagon Papers bekannt geworden sind. Zwischen dem Hürtgenwald und dieser Gefängniszelle spannt sich der Bogen des Romans, der als Aufruf zur Zivilcourage gelesen wurde und sich vielleicht auch selbst so versteht.
Aber verbirgt sich nicht auch in dieser Parallelisierung schon wieder ein gewisser Relativismus? Sind die Verbrechen der Wehrmacht in Europa wirklich vergleichbar mit denen der US Army in Vietnam, nur weil beide Schuld auf sich geladen haben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass man die institutionalisierten Kriegsverbrechen der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg verunklart, wenn man sie einem diffusen Bereich der Schuld zuschlägt, in dem übereifrige Armeen nun einmal gelegentlich vorstoßen? Die Grenze zwischen der Literarisierung historischer Ambiguität und Revisionismus ist bisweilen fließend. Dieser Roman überschreitet sie mehr als einmal.
FELIX STEPHAN
Steffen Kopetzky: Propaganda. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2019, 469 Seiten, 25 Euro.
Zwischen dem Hürtgenwald und
der Gefängniszelle des Helden
spannt sich der Bogen des Romans
Gedenkschild an die große Schlacht im Hürtgenwald.
Foto: dpa
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Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erhebt einen Wehrmachtsoffizier zur humanitären Inspirationsfigur
Jede Geschichtsschreibung ist eine Erzählung, die sich auch anders erzählen ließe. Und häufig ändert sich der Blick auf die Geschichte eines Landes, wenn man sie von einer anderen Perspektive aus betrachtet, der Perspektive eines Kindes, eines Dissidenten, eines Gefangenen. In diesem Sinne ist die Anlage von Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erst einmal verheißungsvoll. Der Roman erzählt vom Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive des Amerikaners John Glueck, der in den USA der Minderheit der Pennsylvania-Deutschen angehört. Er wächst also als Amerikaner unter Amerikanern auf, kennt das Land seiner Vorfahren nur aus Erzählungen, spricht aber trotzdem fließend Deutsch.
Im Zweiten Weltkrieg arbeitet John Glueck in London als Redakteur für die Propagandazeitung der US Army und erhält den Auftrag, nach Paris zu reisen, um Ernest Hemingway bei der Einnahme der Stadt durch amerikanische Truppen zu begleiten. Die Sache geht schief, weil Hemingway ständig betrunken ist, und John Glueck landet stattdessen mitten in der Schlacht vom Hürtgenwald in der Eifel, einer Schlacht, die im kollektiven Gedächtnis der USA eine weit größere Rolle spielt als in dem der Deutschen. Für die US Army war die Schlacht vom Hürtgenwald ein strategisches Desaster und eine der verheerendsten Niederlagen der amerikanischen Militärgeschichte.
In der Schlüsselszene des Romans beobachtet John Glueck nun diese Begebenheit: Ein deutscher Offizier, Hauptmann Dr. Stüttgen, Regiment 1056, 89. Division, ruft mitten in der Schlacht beide Seiten zum Innehalten auf, handelt eigenhändig eine Waffenruhe aus und macht sich daran, die Verwundeten beider Armeen zu verarzten. Für ein paar Stunden bricht in der monströsen Schlacht zwischen der US Army und der Wehrmacht, die 24 000 Soldaten das Leben kostete, die Humanität durch. Die Geschichte ist historisch belegt. Das Vorbild für die Figur des humanitären Interventionisten ist der Dermatologe Günter Stüttgen, der nach dem Krieg als Chefarzt im Westberliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus arbeitete und 2003 starb. In Kopetzkys Roman hinterlässt der Arzt einen bleibenden Eindruck bei dem amerikanischen Ich-Erzähler. Von ihm lernt er, dass es in Zeiten der Barbarei, wenn die Menschlichkeit keine Freunde hat, auf die Zivilcourage des Einzelnen ankommt.
Trotzdem ist die Apotheose des deutschen Helden auch hier nicht ganz ohne Eintrübung. Der Arzt, der sich da auf die Genfer Konvention beruft, ist trotz allem Wehrmachtsoffizier, weshalb der Roman an dieser Stelle das Risiko eingeht, sich Applaus vom ganz rechten Rand einzuhandeln. Der Aufruf Alexanders Gaulands, „auf die Leistungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg stolz sein“ zu dürfen, liegt noch nicht lange zurück. Das dürfte Kopetzky bewusst gewesen sein, als er sich entschied, einen Wehrmachtsoffizier zur zentralen humanitären Inspirationsfigur seines Romans zu erheben. Die Setzung ist riskant und darin erst einmal erfreulich, und man will natürlich wissen, was der Roman vorhat mit diesem narrativen Verhängnis, in das er sich selbst begibt.
John Glueck ist allerdings keineswegs überrascht, dass die Wehrmacht einen Mann von dieser Statur in ihren Reihen hat, er vergeht fast vor Bewunderung für die Armee der Nazis. Man könne einiges von ihr lernen, erklärt er, „ganz zweifellos gab es niemals zuvor und danach eine Armee, die einen solchen Traditions- und Theorieschatz mit einer so spektakulären jüngeren Praxis verbinden konnte wie die Wehrmacht und die es zudem verstand, dies an alle Angehörigen durch eine perfekte Ausbildung weiterzugeben.“ Die Wehrmacht, so Glueck, sei der preußischen Tradition verpflichtet, „weite Teile der Bevölkerung mit dem Kriegshandwerk auf eine so profunde, aber auch anständige Weise“ vertraut zu machen. Ein Wehrmachtsgeneral mit ein paar Jahren Erfahrung sei wie ein tibetisches Lama, heißt es: „ein Ozean militärischer Weisheit“. Die charakteristische „intellektuell-geistige“ Herangehensweise der deutschen Spitzenkräfte sei „bereits im ersten Paragrafen des berühmten Handbuchs zur Truppenführung aus dem Jahr 1936 umrissen“ worden: Die Kriegsführung, heißt es dort, sei „eine Kunst, eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende freie, schöpferische Tätigkeit“.
Glueck preist selbst die Integrationsmacht der Wehrmacht: „Am Ende des Krieges war jeder dritte aufseiten Deutschlands kämpfende Soldat ein Nichtdeutscher (es gab sogar eine indische Waffen-SS-Einheit), und sie kamen nicht in Russland zum Einsatz, sondern auch im Westen, bei der Landung der Alliierten, weshalb die britische Presse entsetzt davon sprach, dass man nicht nur gegen Deutschland, sondern regelrecht gegen ganz Eurasien anzutreten habe.“ Die Wehrmacht als globales Unternehmen avant la lettre, als transkontinentales, preußisches Gegen-Commonwealth, anständig, traditionsreich, akademisch. So sieht es John Glueck, und dass es die Deutschen heute nicht so sehen, sei ein Erfolg der amerikanischen Propaganda, nicht zuletzt also sein Verdienst: „Es war ein klares Ziel unserer Nachkriegspropaganda, Preußen und seine Militärtradition, die die Wehrmacht fortgeführt hatte, mit dem Schlagwort Kadavergehorsam abzuqualifizieren.“
Nach seiner Rückkehr nach London schreibt John Glueck statt der Hemingway-Reportage die Geschichte des ehrenwerten Wehrmachtsoffiziers, doch sein Chef lässt ihn wissen, dass man diese Geschichte keinesfalls drucken könne, es sei nicht die Zeit für deutsche Helden.
Man muss das alles nicht böswillig lesen, um dieser Erzählanlage den Gedanken zu entnehmen, dass dieser Propagandaerfolg bis heute fortwirkt und die deutsche Scheu, Stolz auf die Wehrmacht zu empfinden, nicht etwa mit den zahllosen Säuberungsaktionen und Massenmorden zu tun hat oder dem rassenhygienischen Vernichtungskrieg, sondern damit, dass das ganze Land noch immer gefangen ist in einem amerikanisch-propagandistischen Geschichtsbild, aus dem sich die Deutschen bis heute nicht befreit haben. Dass es sich aber bei den Deutschen um ein von den Siegermächten bis heute unterjochtes Volk handelt, das ist dann allerdings wirklich eine klassisch revanchistische Trope.
Der Roman tritt als Lebensrückblick auf. John Glueck schreibt den Text zum größten Teil in einem amerikanischen Gefängnis. Dort ist er gelandet, weil er sich den Heldenmut des deutschen Arztes zu Herzen genommen hat, und dreißig Jahre später selbst zur Tat geschritten ist, als es galt, Kriegsverbrechen zu sühnen. In diesem Falle handelt es sich um die Verbrechen der US-Army im Vietnamkrieg, die durch die Veröffentlichung der Pentagon Papers bekannt geworden sind. Zwischen dem Hürtgenwald und dieser Gefängniszelle spannt sich der Bogen des Romans, der als Aufruf zur Zivilcourage gelesen wurde und sich vielleicht auch selbst so versteht.
Aber verbirgt sich nicht auch in dieser Parallelisierung schon wieder ein gewisser Relativismus? Sind die Verbrechen der Wehrmacht in Europa wirklich vergleichbar mit denen der US Army in Vietnam, nur weil beide Schuld auf sich geladen haben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass man die institutionalisierten Kriegsverbrechen der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg verunklart, wenn man sie einem diffusen Bereich der Schuld zuschlägt, in dem übereifrige Armeen nun einmal gelegentlich vorstoßen? Die Grenze zwischen der Literarisierung historischer Ambiguität und Revisionismus ist bisweilen fließend. Dieser Roman überschreitet sie mehr als einmal.
FELIX STEPHAN
Steffen Kopetzky: Propaganda. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2019, 469 Seiten, 25 Euro.
Zwischen dem Hürtgenwald und
der Gefängniszelle des Helden
spannt sich der Bogen des Romans
Gedenkschild an die große Schlacht im Hürtgenwald.
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rainer Moritz lernt einiges über die Wirkung von Propaganda mit Steffen Kopetzkys Roman. Dass sich der Autor mit seiner die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Absturz der USA in Vietnam umspannenden Geschichte um einen in der Propagandaabteilung der US-Army tätigen Offizier mit deutschen Wurzeln eine Menge vornimmt, stellt Moritz mit Respekt fest. Wie genau Kopetzky seinen Stoff recherchiert, wie sinnlich opulent und dramaturgisch raffiniert er sein Panorama entfaltet, hat Moritz beeindruckt. Von postmoderner Ironie über reiche Bezüge zu Film und Literatur bis zur Spannung eines Pageturners verfügt der Text laut Moritz über nahezu alles, was ein toller Roman braucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Der anständige Deutsche und die Kriegskunst
Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erhebt einen Wehrmachtsoffizier zur humanitären Inspirationsfigur
Jede Geschichtsschreibung ist eine Erzählung, die sich auch anders erzählen ließe. Und häufig ändert sich der Blick auf die Geschichte eines Landes, wenn man sie von einer anderen Perspektive aus betrachtet, der Perspektive eines Kindes, eines Dissidenten, eines Gefangenen. In diesem Sinne ist die Anlage von Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erst einmal verheißungsvoll. Der Roman erzählt vom Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive des Amerikaners John Glueck, der in den USA der Minderheit der Pennsylvania-Deutschen angehört. Er wächst also als Amerikaner unter Amerikanern auf, kennt das Land seiner Vorfahren nur aus Erzählungen, spricht aber trotzdem fließend Deutsch.
Im Zweiten Weltkrieg arbeitet John Glueck in London als Redakteur für die Propagandazeitung der US Army und erhält den Auftrag, nach Paris zu reisen, um Ernest Hemingway bei der Einnahme der Stadt durch amerikanische Truppen zu begleiten. Die Sache geht schief, weil Hemingway ständig betrunken ist, und John Glueck landet stattdessen mitten in der Schlacht vom Hürtgenwald in der Eifel, einer Schlacht, die im kollektiven Gedächtnis der USA eine weit größere Rolle spielt als in dem der Deutschen. Für die US Army war die Schlacht vom Hürtgenwald ein strategisches Desaster und eine der verheerendsten Niederlagen der amerikanischen Militärgeschichte.
In der Schlüsselszene des Romans beobachtet John Glueck nun diese Begebenheit: Ein deutscher Offizier, Hauptmann Dr. Stüttgen, Regiment 1056, 89. Division, ruft mitten in der Schlacht beide Seiten zum Innehalten auf, handelt eigenhändig eine Waffenruhe aus und macht sich daran, die Verwundeten beider Armeen zu verarzten. Für ein paar Stunden bricht in der monströsen Schlacht zwischen der US Army und der Wehrmacht, die 24 000 Soldaten das Leben kostete, die Humanität durch. Die Geschichte ist historisch belegt. Das Vorbild für die Figur des humanitären Interventionisten ist der Dermatologe Günter Stüttgen, der nach dem Krieg als Chefarzt im Westberliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus arbeitete und 2003 starb. In Kopetzkys Roman hinterlässt der Arzt einen bleibenden Eindruck bei dem amerikanischen Ich-Erzähler. Von ihm lernt er, dass es in Zeiten der Barbarei, wenn die Menschlichkeit keine Freunde hat, auf die Zivilcourage des Einzelnen ankommt.
Trotzdem ist die Apotheose des deutschen Helden auch hier nicht ganz ohne Eintrübung. Der Arzt, der sich da auf die Genfer Konvention beruft, ist trotz allem Wehrmachtsoffizier, weshalb der Roman an dieser Stelle das Risiko eingeht, sich Applaus vom ganz rechten Rand einzuhandeln. Der Aufruf Alexanders Gaulands, „auf die Leistungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg stolz sein“ zu dürfen, liegt noch nicht lange zurück. Das dürfte Kopetzky bewusst gewesen sein, als er sich entschied, einen Wehrmachtsoffizier zur zentralen humanitären Inspirationsfigur seines Romans zu erheben. Die Setzung ist riskant und darin erst einmal erfreulich, und man will natürlich wissen, was der Roman vorhat mit diesem narrativen Verhängnis, in das er sich selbst begibt.
John Glueck ist allerdings keineswegs überrascht, dass die Wehrmacht einen Mann von dieser Statur in ihren Reihen hat, er vergeht fast vor Bewunderung für die Armee der Nazis. Man könne einiges von ihr lernen, erklärt er, „ganz zweifellos gab es niemals zuvor und danach eine Armee, die einen solchen Traditions- und Theorieschatz mit einer so spektakulären jüngeren Praxis verbinden konnte wie die Wehrmacht und die es zudem verstand, dies an alle Angehörigen durch eine perfekte Ausbildung weiterzugeben.“ Die Wehrmacht, so Glueck, sei der preußischen Tradition verpflichtet, „weite Teile der Bevölkerung mit dem Kriegshandwerk auf eine so profunde, aber auch anständige Weise“ vertraut zu machen. Ein Wehrmachtsgeneral mit ein paar Jahren Erfahrung sei wie ein tibetisches Lama, heißt es: „ein Ozean militärischer Weisheit“. Die charakteristische „intellektuell-geistige“ Herangehensweise der deutschen Spitzenkräfte sei „bereits im ersten Paragrafen des berühmten Handbuchs zur Truppenführung aus dem Jahr 1936 umrissen“ worden: Die Kriegsführung, heißt es dort, sei „eine Kunst, eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende freie, schöpferische Tätigkeit“.
Glueck preist selbst die Integrationsmacht der Wehrmacht: „Am Ende des Krieges war jeder dritte aufseiten Deutschlands kämpfende Soldat ein Nichtdeutscher (es gab sogar eine indische Waffen-SS-Einheit), und sie kamen nicht in Russland zum Einsatz, sondern auch im Westen, bei der Landung der Alliierten, weshalb die britische Presse entsetzt davon sprach, dass man nicht nur gegen Deutschland, sondern regelrecht gegen ganz Eurasien anzutreten habe.“ Die Wehrmacht als globales Unternehmen avant la lettre, als transkontinentales, preußisches Gegen-Commonwealth, anständig, traditionsreich, akademisch. So sieht es John Glueck, und dass es die Deutschen heute nicht so sehen, sei ein Erfolg der amerikanischen Propaganda, nicht zuletzt also sein Verdienst: „Es war ein klares Ziel unserer Nachkriegspropaganda, Preußen und seine Militärtradition, die die Wehrmacht fortgeführt hatte, mit dem Schlagwort Kadavergehorsam abzuqualifizieren.“
Nach seiner Rückkehr nach London schreibt John Glueck statt der Hemingway-Reportage die Geschichte des ehrenwerten Wehrmachtsoffiziers, doch sein Chef lässt ihn wissen, dass man diese Geschichte keinesfalls drucken könne, es sei nicht die Zeit für deutsche Helden.
Man muss das alles nicht böswillig lesen, um dieser Erzählanlage den Gedanken zu entnehmen, dass dieser Propagandaerfolg bis heute fortwirkt und die deutsche Scheu, Stolz auf die Wehrmacht zu empfinden, nicht etwa mit den zahllosen Säuberungsaktionen und Massenmorden zu tun hat oder dem rassenhygienischen Vernichtungskrieg, sondern damit, dass das ganze Land noch immer gefangen ist in einem amerikanisch-propagandistischen Geschichtsbild, aus dem sich die Deutschen bis heute nicht befreit haben. Dass es sich aber bei den Deutschen um ein von den Siegermächten bis heute unterjochtes Volk handelt, das ist dann allerdings wirklich eine klassisch revanchistische Trope.
Der Roman tritt als Lebensrückblick auf. John Glueck schreibt den Text zum größten Teil in einem amerikanischen Gefängnis. Dort ist er gelandet, weil er sich den Heldenmut des deutschen Arztes zu Herzen genommen hat, und dreißig Jahre später selbst zur Tat geschritten ist, als es galt, Kriegsverbrechen zu sühnen. In diesem Falle handelt es sich um die Verbrechen der US-Army im Vietnamkrieg, die durch die Veröffentlichung der Pentagon Papers bekannt geworden sind. Zwischen dem Hürtgenwald und dieser Gefängniszelle spannt sich der Bogen des Romans, der als Aufruf zur Zivilcourage gelesen wurde und sich vielleicht auch selbst so versteht.
Aber verbirgt sich nicht auch in dieser Parallelisierung schon wieder ein gewisser Relativismus? Sind die Verbrechen der Wehrmacht in Europa wirklich vergleichbar mit denen der US Army in Vietnam, nur weil beide Schuld auf sich geladen haben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass man die institutionalisierten Kriegsverbrechen der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg verunklart, wenn man sie einem diffusen Bereich der Schuld zuschlägt, in dem übereifrige Armeen nun einmal gelegentlich vorstoßen? Die Grenze zwischen der Literarisierung historischer Ambiguität und Revisionismus ist bisweilen fließend. Dieser Roman überschreitet sie mehr als einmal.
FELIX STEPHAN
Steffen Kopetzky: Propaganda. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2019, 469 Seiten, 25 Euro.
Zwischen dem Hürtgenwald und
der Gefängniszelle des Helden
spannt sich der Bogen des Romans
Gedenkschild an die große Schlacht im Hürtgenwald.
Foto: dpa
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Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erhebt einen Wehrmachtsoffizier zur humanitären Inspirationsfigur
Jede Geschichtsschreibung ist eine Erzählung, die sich auch anders erzählen ließe. Und häufig ändert sich der Blick auf die Geschichte eines Landes, wenn man sie von einer anderen Perspektive aus betrachtet, der Perspektive eines Kindes, eines Dissidenten, eines Gefangenen. In diesem Sinne ist die Anlage von Steffen Kopetzkys Roman „Propaganda“ erst einmal verheißungsvoll. Der Roman erzählt vom Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive des Amerikaners John Glueck, der in den USA der Minderheit der Pennsylvania-Deutschen angehört. Er wächst also als Amerikaner unter Amerikanern auf, kennt das Land seiner Vorfahren nur aus Erzählungen, spricht aber trotzdem fließend Deutsch.
Im Zweiten Weltkrieg arbeitet John Glueck in London als Redakteur für die Propagandazeitung der US Army und erhält den Auftrag, nach Paris zu reisen, um Ernest Hemingway bei der Einnahme der Stadt durch amerikanische Truppen zu begleiten. Die Sache geht schief, weil Hemingway ständig betrunken ist, und John Glueck landet stattdessen mitten in der Schlacht vom Hürtgenwald in der Eifel, einer Schlacht, die im kollektiven Gedächtnis der USA eine weit größere Rolle spielt als in dem der Deutschen. Für die US Army war die Schlacht vom Hürtgenwald ein strategisches Desaster und eine der verheerendsten Niederlagen der amerikanischen Militärgeschichte.
In der Schlüsselszene des Romans beobachtet John Glueck nun diese Begebenheit: Ein deutscher Offizier, Hauptmann Dr. Stüttgen, Regiment 1056, 89. Division, ruft mitten in der Schlacht beide Seiten zum Innehalten auf, handelt eigenhändig eine Waffenruhe aus und macht sich daran, die Verwundeten beider Armeen zu verarzten. Für ein paar Stunden bricht in der monströsen Schlacht zwischen der US Army und der Wehrmacht, die 24 000 Soldaten das Leben kostete, die Humanität durch. Die Geschichte ist historisch belegt. Das Vorbild für die Figur des humanitären Interventionisten ist der Dermatologe Günter Stüttgen, der nach dem Krieg als Chefarzt im Westberliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus arbeitete und 2003 starb. In Kopetzkys Roman hinterlässt der Arzt einen bleibenden Eindruck bei dem amerikanischen Ich-Erzähler. Von ihm lernt er, dass es in Zeiten der Barbarei, wenn die Menschlichkeit keine Freunde hat, auf die Zivilcourage des Einzelnen ankommt.
Trotzdem ist die Apotheose des deutschen Helden auch hier nicht ganz ohne Eintrübung. Der Arzt, der sich da auf die Genfer Konvention beruft, ist trotz allem Wehrmachtsoffizier, weshalb der Roman an dieser Stelle das Risiko eingeht, sich Applaus vom ganz rechten Rand einzuhandeln. Der Aufruf Alexanders Gaulands, „auf die Leistungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg stolz sein“ zu dürfen, liegt noch nicht lange zurück. Das dürfte Kopetzky bewusst gewesen sein, als er sich entschied, einen Wehrmachtsoffizier zur zentralen humanitären Inspirationsfigur seines Romans zu erheben. Die Setzung ist riskant und darin erst einmal erfreulich, und man will natürlich wissen, was der Roman vorhat mit diesem narrativen Verhängnis, in das er sich selbst begibt.
John Glueck ist allerdings keineswegs überrascht, dass die Wehrmacht einen Mann von dieser Statur in ihren Reihen hat, er vergeht fast vor Bewunderung für die Armee der Nazis. Man könne einiges von ihr lernen, erklärt er, „ganz zweifellos gab es niemals zuvor und danach eine Armee, die einen solchen Traditions- und Theorieschatz mit einer so spektakulären jüngeren Praxis verbinden konnte wie die Wehrmacht und die es zudem verstand, dies an alle Angehörigen durch eine perfekte Ausbildung weiterzugeben.“ Die Wehrmacht, so Glueck, sei der preußischen Tradition verpflichtet, „weite Teile der Bevölkerung mit dem Kriegshandwerk auf eine so profunde, aber auch anständige Weise“ vertraut zu machen. Ein Wehrmachtsgeneral mit ein paar Jahren Erfahrung sei wie ein tibetisches Lama, heißt es: „ein Ozean militärischer Weisheit“. Die charakteristische „intellektuell-geistige“ Herangehensweise der deutschen Spitzenkräfte sei „bereits im ersten Paragrafen des berühmten Handbuchs zur Truppenführung aus dem Jahr 1936 umrissen“ worden: Die Kriegsführung, heißt es dort, sei „eine Kunst, eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende freie, schöpferische Tätigkeit“.
Glueck preist selbst die Integrationsmacht der Wehrmacht: „Am Ende des Krieges war jeder dritte aufseiten Deutschlands kämpfende Soldat ein Nichtdeutscher (es gab sogar eine indische Waffen-SS-Einheit), und sie kamen nicht in Russland zum Einsatz, sondern auch im Westen, bei der Landung der Alliierten, weshalb die britische Presse entsetzt davon sprach, dass man nicht nur gegen Deutschland, sondern regelrecht gegen ganz Eurasien anzutreten habe.“ Die Wehrmacht als globales Unternehmen avant la lettre, als transkontinentales, preußisches Gegen-Commonwealth, anständig, traditionsreich, akademisch. So sieht es John Glueck, und dass es die Deutschen heute nicht so sehen, sei ein Erfolg der amerikanischen Propaganda, nicht zuletzt also sein Verdienst: „Es war ein klares Ziel unserer Nachkriegspropaganda, Preußen und seine Militärtradition, die die Wehrmacht fortgeführt hatte, mit dem Schlagwort Kadavergehorsam abzuqualifizieren.“
Nach seiner Rückkehr nach London schreibt John Glueck statt der Hemingway-Reportage die Geschichte des ehrenwerten Wehrmachtsoffiziers, doch sein Chef lässt ihn wissen, dass man diese Geschichte keinesfalls drucken könne, es sei nicht die Zeit für deutsche Helden.
Man muss das alles nicht böswillig lesen, um dieser Erzählanlage den Gedanken zu entnehmen, dass dieser Propagandaerfolg bis heute fortwirkt und die deutsche Scheu, Stolz auf die Wehrmacht zu empfinden, nicht etwa mit den zahllosen Säuberungsaktionen und Massenmorden zu tun hat oder dem rassenhygienischen Vernichtungskrieg, sondern damit, dass das ganze Land noch immer gefangen ist in einem amerikanisch-propagandistischen Geschichtsbild, aus dem sich die Deutschen bis heute nicht befreit haben. Dass es sich aber bei den Deutschen um ein von den Siegermächten bis heute unterjochtes Volk handelt, das ist dann allerdings wirklich eine klassisch revanchistische Trope.
Der Roman tritt als Lebensrückblick auf. John Glueck schreibt den Text zum größten Teil in einem amerikanischen Gefängnis. Dort ist er gelandet, weil er sich den Heldenmut des deutschen Arztes zu Herzen genommen hat, und dreißig Jahre später selbst zur Tat geschritten ist, als es galt, Kriegsverbrechen zu sühnen. In diesem Falle handelt es sich um die Verbrechen der US-Army im Vietnamkrieg, die durch die Veröffentlichung der Pentagon Papers bekannt geworden sind. Zwischen dem Hürtgenwald und dieser Gefängniszelle spannt sich der Bogen des Romans, der als Aufruf zur Zivilcourage gelesen wurde und sich vielleicht auch selbst so versteht.
Aber verbirgt sich nicht auch in dieser Parallelisierung schon wieder ein gewisser Relativismus? Sind die Verbrechen der Wehrmacht in Europa wirklich vergleichbar mit denen der US Army in Vietnam, nur weil beide Schuld auf sich geladen haben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass man die institutionalisierten Kriegsverbrechen der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg verunklart, wenn man sie einem diffusen Bereich der Schuld zuschlägt, in dem übereifrige Armeen nun einmal gelegentlich vorstoßen? Die Grenze zwischen der Literarisierung historischer Ambiguität und Revisionismus ist bisweilen fließend. Dieser Roman überschreitet sie mehr als einmal.
FELIX STEPHAN
Steffen Kopetzky: Propaganda. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2019, 469 Seiten, 25 Euro.
Zwischen dem Hürtgenwald und
der Gefängniszelle des Helden
spannt sich der Bogen des Romans
Gedenkschild an die große Schlacht im Hürtgenwald.
Foto: dpa
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