Wie ein bayerisch-jüdischer Beamter den Holocaust vorhersagte: Scharf beobachtend und mit jüdischem Witz schrieb Siegfried Lichtenstaedter (1865-1942) Satiren und Prognosen, die so verblüffend hellsichtig sind, dass der Historiker Götz Aly sie ausgegraben und neu zusammengestellt hat. In drei begleitenden Essays schildert Götz Aly außerdem Lichtenstaedters Leben und zeigt, wie aktuell diese Texte über Antisemitismus, Völkermord und Hass heute wieder sind.
1923 hielt Siegfried Lichtenstaedter für möglich, was 1933 begann: Dass die Juden in Deutschland »totgeschlagen und ihre Güter den 'Ariern' gegeben« würden. 1926 beobachtete er, wie - »heimlich ersehnt und schmunzelnd erwähnt« - Vernichtungswünsche gegen die Juden immer populärer wurden. Damals erschien auch die Satire über die München sehr ähnliche Stadt Anthropopolis: Als hier die Stelle des Gerichtsvollziehers mit einem Juden besetzt wird, gerät »dieses Amt zu 100 Prozent in jüdische Hand«! Daraus entspinnt sich eine sich langsam radikalisierende Kampagne, die in der Forderung endet, »das ganze Volk Israels unschädlich zu machen«.
»Als aktiver Beamter, noch dazu Jude« veröffentlichte Lichtenstaedter seine mit jüdischem Witz verfeinerten Geschichten und Prognosen unter Pseudonymen. Früh erkannte er die Gefahren des leisen, jedoch hinterhältigen deutschen Antisemitismus und des allgemeinen, oft unvermutet hervorbrechenden Minderheitenhasses.
Heute drängen lange verdeckte ethnische und religiöse Konflikte wieder auf die politische Tagesordnung. Auch das motivierte Götz Aly, die wichtigsten Texte Lichtenstaedters auszuwählen. Sie lesen sich, als seien sie gestern für uns Heutige geschrieben - eine echte Entdeckung.
1923 hielt Siegfried Lichtenstaedter für möglich, was 1933 begann: Dass die Juden in Deutschland »totgeschlagen und ihre Güter den 'Ariern' gegeben« würden. 1926 beobachtete er, wie - »heimlich ersehnt und schmunzelnd erwähnt« - Vernichtungswünsche gegen die Juden immer populärer wurden. Damals erschien auch die Satire über die München sehr ähnliche Stadt Anthropopolis: Als hier die Stelle des Gerichtsvollziehers mit einem Juden besetzt wird, gerät »dieses Amt zu 100 Prozent in jüdische Hand«! Daraus entspinnt sich eine sich langsam radikalisierende Kampagne, die in der Forderung endet, »das ganze Volk Israels unschädlich zu machen«.
»Als aktiver Beamter, noch dazu Jude« veröffentlichte Lichtenstaedter seine mit jüdischem Witz verfeinerten Geschichten und Prognosen unter Pseudonymen. Früh erkannte er die Gefahren des leisen, jedoch hinterhältigen deutschen Antisemitismus und des allgemeinen, oft unvermutet hervorbrechenden Minderheitenhasses.
Heute drängen lange verdeckte ethnische und religiöse Konflikte wieder auf die politische Tagesordnung. Auch das motivierte Götz Aly, die wichtigsten Texte Lichtenstaedters auszuwählen. Sie lesen sich, als seien sie gestern für uns Heutige geschrieben - eine echte Entdeckung.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Stephan Speicher liest die von Götz Aly herausgegebenen Texte Siegfried Lichtenstaedters mit Gewinn. In den politischen Schriften erscheint ihm der Autor als streitbarer, informierter Denker, der als Jude und Homosexueller mit doppelter Zurücksetzung zu kämpfen hatte, wie Speicher schreibt. Lichtenstaedters "geschichtsprophetische Skizzen" deutet Speicher als "schwarzes Vergnügen" des Autors. Der scharfe Witz Lichtenstaedters, seine Gerechtigkeitsliebe und sein Zukunftspessimismus, der für ihn u.a. im Rassedenken der Menschen gründete, scheinen Speicher bemerkenswert. Das schönste Stück im Band ist für ihn ein Text über das von der Moderne bedrohte Palästina. Lichtenberg, erfahren wir, war nämlich durchaus ein Verfechter "kollektiver Identitäten", weshalb die modernen Zionisten für ihn in Palästina offenbar nichts zu suchen hatten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2019Er sah die Tyrannei vor allen anderen
Götz Aly erinnert an den hellsichtigen Publizisten Siegfried Lichtenstaedter
Gibt es heute eine solche Figur? Einen homosexuellen Juden, der so brillant ist, dass man ihn auf dem Gymnasium drei Klassen überspringen lässt, der Orientalistik, Sprachwissenschaften und dann Jura studiert und es in der bayerischen Finanzverwaltung zum Oberregierungsrat bringt. Dem man sogar den Posten des Finanzministers anbietet, sofern er sich zum christlichen Glauben bekennt. Der als Naturschützer, Vegetarier und zeitweiser Nudist ein elegantes Single-Leben mit bohemehaften Zügen führt. Und der nebenher unter Pseudonymen mehr als vierzig politisch eingreifende Bücher und Broschüren zu drängenden Fragen der Zeit schreibt.
Der 1865 im fränkischen Baiersdorf geborene Siegfried Lichtenstaedter hat dieses Leben gelebt, und dass ihn jetzt der Historiker Götz Aly der Vergessenheit entreißt, ist eine mehr als noble Geste. Einen "Propheten der Vernichtung" nennt Aly den unfassbar hellsichtigen Analytiker, dessen Spezialgebiet "Zukunftsgeschichtsschreibung" war und der keinem Streit aus dem Weg ging. 1895 legte er sich mit dem britischen Premier William Gladstone an, der sich über das türkische Vorgehen gegenüber Armeniern und Bulgaren beklagt hatte. Warum, fragt Lichtenstaedter zurück, habe er geschwiegen, als die Bulgaren gegen die Muslime vorgingen? Und habe nicht das Empire in den Kolonien selbst vor keiner Grausamkeit zurückgeschreckt? Gladstone antwortet, immerhin, bleibt aber vage.
Schon 1898 hatte Lichtenstaedter den Genozid an der Armeniern vorhergesagt; und 1903 beschrieb er in dem Buch "Das neue Weltreich", wie sich das deutsche Volk im Oktober 1939 mit Zustimmung der Russen an die Züchtigung der slawischen Völker macht. Nur einen Monat also daneben. Der deutsche Überfall auf Polen begann am 1. September 1939. Auch den "Anschluss" Deutsch-Österreichs durch einen deutschen Reichskanzler sah Lichtenstaedter kommen, im Jahr 1940. Nur zwei Jahre daneben.
Woher diese Hellsichtigkeit? Lichtenstaedter hatte ein doppelt feines Gespür für den täglichen Faschismus - als Jude, als Homosexueller. Er war eigenwillig und auch in der Jüdischen Gemeinde nicht jedermanns Liebling - unbequem, weil von einem tiefen Empfinden für Gerechtigkeit getrieben. Und wachsam: Seit 1922 las er regelmäßig den "Völkischen Beobachter", registrierte in vielen scheinbaren Kleinigkeiten im Alltag den wachsenden Antisemitismus. Er hatte sogar eine Erklärung für ihn: Der Versailler Vertrag habe Deutschland anfällig dafür gemacht, einen Sündenbock zu suchen. Der war mit den Juden gefunden. Schon 1924 hetzte Ottmar Rutz im bayerischen Landtag über "Verdrängungsgesichtspunkte". Jeder Jude nehme einem Deutschen den Arbeitsplatz weg, die Regierung aber sei vordringlich gehalten, ihr Staatsvolk zu schützen.
Alys Band ist mit seinen moderierenden Essays ein Türöffner in die Welt Lichtenstaedters, die man nicht streng nach der Chronologie betreten muss. Vertiefen kann man die Lektüre online - die Bayerische Staatsbibliothek hat alle bislang bekannten Schriften des Autors zugänglich gemacht. Lichtenstaedters Texte sind Schriften zur Zeit, und wenn man ihnen das auch durchaus anmerkt, es bleiben ihre Diagnosestärke und ihre beklemmende Aktualität. Den Mechanismus, wie es den Rechten gelingt, ein "Wir gegen die" zu konstruieren, kennt man aus der politischen Gegenwart nur allzu gut.
1926 veröffentlichte ein gewisser Dr. Mehemed Emin Efendi das Buch "Antisemitica. Heitertes und Ernstes, Wahres und Erdichtetes". Unter Bezugnahme auf einen Artikel der völkischen Zeitschrift "Heimatland", der den türkischen Genozid an den Armeniern als Beispiel für gelungene nationale Wiedergeburt lobt, zieht der Autor - Siegfried Lichtenstaedter - seine Schlüsse, was auf die deutschen Juden zukommen werde: "Die 600 000 Juden des Deutschen Reiches und die 200 000 Juden Deutsch-Österreichs sollen totgeschlagen und ihre Güter den ,Ariern' gegeben werden. Hierzu bedarf es aber einer neuen Ethik. Diese lehrt: Die ,Fremdstämmigen' (= Fremdreligiösen), die im Vaterland leben, darf und soll man totschlagen und berauben." Es sollte nur noch sieben Jahre dauern, bis dieser Prozess in Gang kam.
Gab es keine Gedanken an Flucht, an Exil? 1936 besuchte Lichtenstaedter seine Schwester in Palästina, mit welchen Gefühlen er zurückreiste, wird man nie erfahren. Mag sein, dass er sich tatsächlich zu alt für harte Pionierarbeit fühlte, mag sein, dass er an seine Pension dachte. Noch 1941 gelingt es ihm, ein Buch zu veröffentlichen. Dann wird er Opfer einer Tyrannei, die er hatte kommen sehen. Ein Jahr später, am 6. Dezember 1942, wird er in Theresienstadt ermordet.
HANNES HINTERMEIER
Götz Aly (Hrsg.): "Siegfried Lichtenstaedter - Prophet der Vernichtung". Über Volksgeist und Judenhass.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019.
283 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Götz Aly erinnert an den hellsichtigen Publizisten Siegfried Lichtenstaedter
Gibt es heute eine solche Figur? Einen homosexuellen Juden, der so brillant ist, dass man ihn auf dem Gymnasium drei Klassen überspringen lässt, der Orientalistik, Sprachwissenschaften und dann Jura studiert und es in der bayerischen Finanzverwaltung zum Oberregierungsrat bringt. Dem man sogar den Posten des Finanzministers anbietet, sofern er sich zum christlichen Glauben bekennt. Der als Naturschützer, Vegetarier und zeitweiser Nudist ein elegantes Single-Leben mit bohemehaften Zügen führt. Und der nebenher unter Pseudonymen mehr als vierzig politisch eingreifende Bücher und Broschüren zu drängenden Fragen der Zeit schreibt.
Der 1865 im fränkischen Baiersdorf geborene Siegfried Lichtenstaedter hat dieses Leben gelebt, und dass ihn jetzt der Historiker Götz Aly der Vergessenheit entreißt, ist eine mehr als noble Geste. Einen "Propheten der Vernichtung" nennt Aly den unfassbar hellsichtigen Analytiker, dessen Spezialgebiet "Zukunftsgeschichtsschreibung" war und der keinem Streit aus dem Weg ging. 1895 legte er sich mit dem britischen Premier William Gladstone an, der sich über das türkische Vorgehen gegenüber Armeniern und Bulgaren beklagt hatte. Warum, fragt Lichtenstaedter zurück, habe er geschwiegen, als die Bulgaren gegen die Muslime vorgingen? Und habe nicht das Empire in den Kolonien selbst vor keiner Grausamkeit zurückgeschreckt? Gladstone antwortet, immerhin, bleibt aber vage.
Schon 1898 hatte Lichtenstaedter den Genozid an der Armeniern vorhergesagt; und 1903 beschrieb er in dem Buch "Das neue Weltreich", wie sich das deutsche Volk im Oktober 1939 mit Zustimmung der Russen an die Züchtigung der slawischen Völker macht. Nur einen Monat also daneben. Der deutsche Überfall auf Polen begann am 1. September 1939. Auch den "Anschluss" Deutsch-Österreichs durch einen deutschen Reichskanzler sah Lichtenstaedter kommen, im Jahr 1940. Nur zwei Jahre daneben.
Woher diese Hellsichtigkeit? Lichtenstaedter hatte ein doppelt feines Gespür für den täglichen Faschismus - als Jude, als Homosexueller. Er war eigenwillig und auch in der Jüdischen Gemeinde nicht jedermanns Liebling - unbequem, weil von einem tiefen Empfinden für Gerechtigkeit getrieben. Und wachsam: Seit 1922 las er regelmäßig den "Völkischen Beobachter", registrierte in vielen scheinbaren Kleinigkeiten im Alltag den wachsenden Antisemitismus. Er hatte sogar eine Erklärung für ihn: Der Versailler Vertrag habe Deutschland anfällig dafür gemacht, einen Sündenbock zu suchen. Der war mit den Juden gefunden. Schon 1924 hetzte Ottmar Rutz im bayerischen Landtag über "Verdrängungsgesichtspunkte". Jeder Jude nehme einem Deutschen den Arbeitsplatz weg, die Regierung aber sei vordringlich gehalten, ihr Staatsvolk zu schützen.
Alys Band ist mit seinen moderierenden Essays ein Türöffner in die Welt Lichtenstaedters, die man nicht streng nach der Chronologie betreten muss. Vertiefen kann man die Lektüre online - die Bayerische Staatsbibliothek hat alle bislang bekannten Schriften des Autors zugänglich gemacht. Lichtenstaedters Texte sind Schriften zur Zeit, und wenn man ihnen das auch durchaus anmerkt, es bleiben ihre Diagnosestärke und ihre beklemmende Aktualität. Den Mechanismus, wie es den Rechten gelingt, ein "Wir gegen die" zu konstruieren, kennt man aus der politischen Gegenwart nur allzu gut.
1926 veröffentlichte ein gewisser Dr. Mehemed Emin Efendi das Buch "Antisemitica. Heitertes und Ernstes, Wahres und Erdichtetes". Unter Bezugnahme auf einen Artikel der völkischen Zeitschrift "Heimatland", der den türkischen Genozid an den Armeniern als Beispiel für gelungene nationale Wiedergeburt lobt, zieht der Autor - Siegfried Lichtenstaedter - seine Schlüsse, was auf die deutschen Juden zukommen werde: "Die 600 000 Juden des Deutschen Reiches und die 200 000 Juden Deutsch-Österreichs sollen totgeschlagen und ihre Güter den ,Ariern' gegeben werden. Hierzu bedarf es aber einer neuen Ethik. Diese lehrt: Die ,Fremdstämmigen' (= Fremdreligiösen), die im Vaterland leben, darf und soll man totschlagen und berauben." Es sollte nur noch sieben Jahre dauern, bis dieser Prozess in Gang kam.
Gab es keine Gedanken an Flucht, an Exil? 1936 besuchte Lichtenstaedter seine Schwester in Palästina, mit welchen Gefühlen er zurückreiste, wird man nie erfahren. Mag sein, dass er sich tatsächlich zu alt für harte Pionierarbeit fühlte, mag sein, dass er an seine Pension dachte. Noch 1941 gelingt es ihm, ein Buch zu veröffentlichen. Dann wird er Opfer einer Tyrannei, die er hatte kommen sehen. Ein Jahr später, am 6. Dezember 1942, wird er in Theresienstadt ermordet.
HANNES HINTERMEIER
Götz Aly (Hrsg.): "Siegfried Lichtenstaedter - Prophet der Vernichtung". Über Volksgeist und Judenhass.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019.
283 S., geb., 22,- [Euro].
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Es ist das Verdienst Alys, dass er [...] diese Texte wieder zugänglich macht und die historische Patina durch seine klugen Interpretationen wegwischt. [...] Ein wichtiges Buch! André Fischer Nürnberger Zeitung 20200507