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Produktdetails
  • Palaestra
  • Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Seitenzahl: 248
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 374g
  • ISBN-13: 9783525205716
  • Artikelnr.: 24250897
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.1995

Nicht bosseln und nicht basteln
Der Radikalpietismus und die Erfindung der Subjektivität

Visionäre reisten durchs Land; Ekstatikerinnen kündeten in verzückten Wunderreden von Zions Erlösung und Babels Untergang; die drei begeisterten Mägde (die Halberstädtische Katharina, die Quedlinburgische Magdalene und die Erfurtische Liese) verschreckten die Orthodoxen. Das 18. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert vernunftgläubiger Rationalisten, sondern auch, wie Hans-Jürgen Schings gezeigt hat ("Melancholie und Aufklärung", 1977), das Jahrhundert der Propheten und der Enthusiasten, der Schwärmer und Melancholiker.

Zu den erstaunlichsten Vorgängen der abendländischen Geistesgeschichte gehört die Herausbildung des modernen Individuums im Laufe eines einzigen Jahrhunderts. Menschen der Jahre um 1700 herum wirken auf uns fremdartig, hölzern und steif, mit sonderbar standardisierten Emotionen, ohne Ichbewußtsein und Gefühlskultur. Menschen um 1800 herum sind uns hingegen sehr ähnlich, mit ihrem Anspruch auf Unverwechselbarkeit, ihrer Empfindlichkeit und ihrem hochgezüchteten Individualismus. Am deutlichsten spiegelt sich diese Entwicklung in der Poetik. Verstand sich der Dichter um 1700 noch als eine Art gelernter Handwerker des Wortes, der nach den Regeln der Rhetorik vorgegebene Stoffe in vorgegebene Formen brachte, treten im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts, in der Zeit des jungen Goethe und des jungen Schiller, überraschend die Originalgenies auf den Plan. Nicht mehr die Regelbefolgung, sondern die Originalität, das Nie-dagewesen-Sein des Produkts macht jetzt den Wert der Dichtung aus. Das Genie setzt sich seine Regeln selbst. Es bosselt und bastelt nicht, sondern wirft eruptiv aufs Papier nieder, was es, überwältigt von Inspiration, empfing. Im Genie kommt das Ichgefühl auf seine subjektivistische Spitze.

Schon immer hat man vermutet, daß die Vorgeschichte des modernen Subjektivismus in der religiösen Gefühlskultur des Pietismus liegen müsse. Wer daran gewöhnt war, täglich auf Gottes Stimme zu lauschen und sein Herz zu prüfen auf den geistlichen Zustand hin, in dem es sich gerade befand, der mußte diese Übung doch auch säkularisieren können, mußte sein Herz nicht nur im Gebet vor Gott, sondern auch als Tagebuchschreiber, Briefschreiber und Poet vor seinen Mitmenschen zum Ausdruck bringen können. Solche Einflüsse des Pietismus auf die Dichter des achtzehnten Jahrhunderts, auf Wieland, Klopstock, Herder oder Goethe, sind in der Tat auch breit bezeugt. Ulf-Michael Schneider will diesen Wegen des abendländischen Geistes eine weitere, markante Spur hinzufügen. Er macht sich anheischig, die poetische Inspiration von der religiösen Inspiration herzuleiten.

Im Jahre 1715 bildete sich im hessischen Büdingen die "Wahre Inspirationsgemeinde", eine radikalpietistische Gemeinschaft, in deren Mittelpunkt einige Personen standen, die im Zustand trancehaft-ekstatischer Entrückung prophetische "Gottesreden" hielten. Als bedeutendstes Werkzeug Gottes galt der Isenburg-Büdingensche Hofsattler Johann Friedrich Rock (1678- 1749). Von ihm sind nicht weniger als 946 Inspirationsreden im Druck überliefert. Denn das war das Eigentümliche dieser Gemeinde. Sie glaubte so sehr an die göttliche Inspiration ihrer "Werkzeuge", daß sie jedes Wort aufschreiben ließ. Rock war stets von Schnellschreibern umgeben, die sogleich, wenn er in Ekstase fiel, seine Offenbarungen mitprotokollierten. Sie legten Wert darauf, kein Wort zu verändern. Wir haben deshalb etwas ganz Seltenes vor uns: zuverlässige Stenogramme von Sätzen, die vor zweieinhalb Jahrhunderten wörtlich so gesprochen wurden.

Die Inspirationsgemeinde gibt es bis heute. 1842 wanderte sie geschlossen nach Amerika aus, unter getreulicher Mitnahme ihres Archivs inspirierter Reden, das Ulf-Michael Schneider in Amana/Ohio gründlich auswerten durfte. Nicht nur eine gewöhnliche Dissertation ist daraus geworden, sondern eine fesselnd geschriebene Studie über eine fremde Welt, die den Anspruch erhebt, unsere Vorwelt zu sein. Natürlich sträubt sich etwas gegen die Annahme, das hohe deutsche Geistesleben eines Wieland, Herder oder Goethe komme von einem ungelehrten schwärmerischen Schuster her. Doch kann die Arbeit eine erstaunliche Zahl von Verbindungen nachweisen. Allerdings darf man weiterhin annehmen, daß so gewaltige Vorgänge wie die Entstehung des modernen Ich und der poetischen Inspiration der Geniezeit nicht auf einen einzelnen Ekstatiker angewiesen sind, sondern sich aus zahlreichen weiteren religiösen Quellen speisen konnten. HERMANN KURZKE

Ulf-Michael Schneider: "Propheten der Goethezeit". Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995. 248 S., br., 48,- DM.

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