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Theologen, Historiker und Nationalökonomen.

Produktbeschreibung
Theologen, Historiker und Nationalökonomen.
Autorenporträt
Hedda Gramley ist Historikerin an der Universität Bielefeld.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2002

Professoren für Preußen
Hedda Gramley sammelt Entwürfe zur deutschen Nation

"Wer die Geschichte für sich hat, ist der Zukunft sicher; er hilft das echte Leben seines Volkes fördern, und des Volkes echte Sache ist Gottes Sache." Heinrich von Sybel zweifelte nicht daran, die Geschichte und den protestantischen Gott auf seiner Seite zu haben, als er 1862 gegen das Mittelalterbild seines katholischen Innsbrucker Kollegen Julius Ficker schrieb, um dessen nationalpolitische Zukunftsvorstellungen zu bekämpfen. In ihrem Expertenstreit über die mittelalterliche Kaiserpolitik rangen die beiden Historiker um Grundfragen nationaler Politik ihrer Gegenwart. Geschichte wurde zum Waffenarsenal im Kampf um die künftige staatliche Gestalt der deutschen Nation: kleindeutsch in protestantischer Regie unter preußischer Führung oder großdeutsch mit Österreich als Machtzentrum in einer konfessionell gemischten Föderation? Die Entscheidung fiel in zwei Kriegen, doch um die Ziele, für die Soldaten 1866 und 1870 ihr Leben einsetzen mußten, führte die deutsche Nationalbewegung bereits seit langem heftige Wortgefechte.

Das Offizierskorps in diesen Diskursschlachten stellten Bildungsbürger. Aus ihnen hat Hedda Gramley siebenundzwanzig Universitätsprofessoren ausgewählt: neun Theologen, elf Historiker, sieben Nationalökonomen. Wenn sie sich öffentlich über die Res publica äußerten, konnten sie sicher sein, daß man ihnen zuhörte. Ihre Fächer galten der Gesellschaft als bedeutsam - Orientierungswissenschaften würde man heute sagen -, und als Ordinarien sprachen sie gewissermaßen ex cathedra. Historiker lasen die Vergangenheit als Zukunftsorakel, Theologen legten Sinnwelten aus, deren religiöse Grundlage trotz aller Säkularisierungstendenzen im Bewußtsein der Menschen keineswegs geschwunden war, und Nationalökonomen boten Expertenwissen für einen Bereich, dessen wachsende Bedeutung niemand übersehen konnte.

Was verstanden die prominenten Sinnstiftungsexperten, die zu Wort kommen, unter Nation? Warum verließen sie die Hallen der Wissenschaft und engagierten sich in der politischen Arena? Danach fragt die Autorin. Die Idee Nation begreift sie als Ergebnis eines ständigen Konstruktionsprozesses, der in die Lebenswelt der Menschen eingebunden ist. Sie will den konstruktivistischen Nationsbegriff modernisierungstheoretisch unterfüttern und mentalitätsgeschichtlich fruchtbar machen - ein gewagter Verschnitt von drei Ansätzen, die sich ansonsten wechselseitig nicht zur Kenntnis nehmen oder sich ausschließen. Der erste beherrscht die gegenwärtige Nationsforschung, der zweite tat dies früher einmal, während ihn heute kaum noch ein Historiker verwendet, und der dritte ist zu einem Wort verkümmert, bei dem sich jeder etwas Eigenes denkt und viele gar nichts. Man muß diesem Theoriebündel nicht zustimmen, um sich von Gramleys Analysen des Professorennationalismus überzeugen zu lassen. In jeweils einem umfangreichen Kapitel befragt sie die Schriften und Reden der Theologen, Historiker und Nationalökonomen, was sie unter Nation und Volk verstanden, welche Aufgaben sie dem ersehnten deutschen Nationalstaat zuschrieben, wie sie seine Verfassungsordnung zwischen den Polen Macht und Freiheit ausbalancieren wollten, warum sie mit wenigen Ausnahmen an der preußischen Mission zur nationalen Einigung nicht zweifelten, wie sie die Rolle des Krieges im Einigungsprozeß einschätzten und welche Feindbilder sie nutzten, um die Nation zusammenzuschweißen.

Zu den Vorzügen des Buches gehört, daß die Offenheit des Leitbildes Nation für eine breite Spannweite verfassungs- und gesellschaftspolitischer Programme deutlich wird. Sie reichten von liberalen bis zu konservativen Entwürfen; Kapitalismuskritik ließ sich einbeziehen, und bei den Ökonomen gehörten zu den nationalen Einheitsvisionen sozialpolitische Forderungen, die Berührungsängste gegenüber dem Feindbild Sozialdemokratie verringerten. Vor allem aber legt die Autorin die protestantischen Fundamente des Professorennationalismus frei.

"Die confessionelle Trennung ist das am schwersten zu überwindende Hinderniß der politischen Einigung unseres Vaterlandes. ,Kleindeutsch' und ,großdeutsch' sind zu großem Theile nur euphemistische Bezeichnungen für ,protestantisch' und ,katholisch'." Diese Einsicht des Heidelberger Theologen Daniel Schenkel bedeutete 1863, als er sie in seinem Bericht zur "kirchlichen Lage" veröffentlichte, noch nicht, auf den österreichischen Teil des Deutschen Bundes im erhofften künftigen deutschen Nationalstaat verzichten zu wollen. Bis über die Reichsgründung hinaus galten die "Loyalitätsgefühle der Theologen" noch dem "einzelnen dynastischen Staat", ohne jedoch die Hoffnung auf einen "föderativen oder zentralistischen Nationalstaat" zu beeinträchtigen. Die Entscheidung brachte der deutsche "Bruderkrieg". Erneut sprach Schenkel öffentlich aus, was auch andere protestantische Theologen dachten: "Auf dem Schlachtfelde von Königgrätz hat nicht nur der österreichische Staat, sondern das ultramontan-jesuitische System eine schwere Niederlage erlitten ... Preußen ist und bleibt auf dem europäischen Continent die Burg des protestantischen Geistes."

Bei allen Unterschieden, welche die Autorin zwischen Theologen, Historikern und Nationalökonomen und innerhalb der Gruppen nachweist - an Preußens Führungsmission und an der Notwendigkeit, den Nationalstaat auf protestantischem Fundament zu errichten, zweifelten nur wenige. Doch ist dies ein Markenzeichen des Professorennationalismus oder eine Folge der Auswahl der Professoren, die untersucht wurden? Der österreichische Teil des damaligen Deutschland ist nur mit dem Historiker Julius Ficker vertreten, und für das katholische Deutschland stehen nur er und der Theologe Ignaz von Döllinger, der in dem Unfehlbarkeitsdogma eine Wiederkehr der "welschen Oligarchie" sah. "Als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger kann ich diese Lehre nicht annehmen." Er bezahlte für dieses Bekenntnis mit der Exkommunikation. In Döllingers Weg werden die schweren innerkatholischen Probleme sichtbar, aber repräsentiert er die Haltung katholischer Professoren?

Gramleys Analyse erhellt den protestantischen Professorennationalismus, nicht die nationalen Visionen katholischer Professoren. Sie werden von den Auswahlkriterien ausgeschlossen. Kaum beachtet werden auch die föderativen Nationsvorstellungen. Es wird zwar erwähnt, daß einige der ausgewählten Professoren den Nationalstaat als ein föderatives Gebilde, ohne preußische Hegemonie, entwarfen, doch diesen Konstruktionen geht die Autorin nicht nach. Insofern steht auch ihre Darstellung im Banne des Siegers, dessen Erfolg die unterlegenen Nationsentwürfe aus dem deutschen Geschichtsbild tilgte. Vorzüglich informiert wird jedoch, wer wissen will, wie bildungsbürgerliche Meinungsführer den Weg zum protestantischen Deutschen Reich preußischer Nation, wie Thomas Mann es 1945 genannt hatte, geebnet und begründet haben.

DIETER LANGEWIESCHE

Hedda Gramley: "Propheten des deutschen Nationalismus". Theologen, Historiker und Nationalökonomen 1848-1880. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2001. 449 S., br., 50,11 .

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Dieter Langewiesche sieht Hedda Gramleys Untersuchung im "Verschnitt von drei Ansätzen", die sich normalerweise gegenseitig ignorieren: Konstruktivismus, Modernisierungstheorie und Mentalitätsgeschichte lauten seine drei Schlagworte. Gramley führe in die "Diskursschlacht" des 19. Jahrhunderts, an deren vorderster Front Universitätsprofessoren (Historiker, Theologen, Nationalökonomen) um den richtigen Begriff von Nation und Volk stritten. Kaum einer der Diskutanten zweifelte, streicht Langewiesche heraus, an der preußischen Mission zur nationalen Einigung. Als eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur nationalen Einigung galt die konfessionelle Trennung der Länder. Ist dieser preußische "Professorennationalismus", wie Langewiesche ihn nennt, nun typisch für diesen Berufsstand, oder liegt es an Gramleys Auswahl? Nur zwei katholische Vertreter wurden berücksichtigt, bemerkt der Rezensent. Langewiesche argwöhnt deshalb, dass Gramleys ansonsten vorzügliche Untersuchung, die eine breite Palette an gesellschaftspolitischen Entwürfen vor Augen führe, im Nachhinein "im Banne des Siegers" stehe: des protestantischen Preußen.

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