Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996Protest ohne Podest
Niklas Luhmann geht auf die Straße / Von Franziska Augstein
In Gott ist alles eins, der Teufel macht den Unterschied, und Niklas Luhmann beobachtet, was dabei herauskommt. Seine Systemtheorie befaßt sich mit mächtigen Molochen: mit der Wissenschaft, dem Recht, der Wirtschaft, der Politik, den Medien. Für kleine systemische Wadenbeißer, so schien es manchen, zeige Luhmann wenig Verständnis: Um zivilen Protest und alternative Lebensformen habe er sich nicht genug gekümmert. Das stimmt natürlich nicht. Luhmann hat zwar nicht als einer der Engagierten von sich reden gemacht, die sich mit ihrem Leib einem drohenden Verhängnis in den Weg legen - aber beobachtet hat er das Phänomen des Protests mit Fleiß seit vielen Jahren.
"Die Gewohnheit zu protestieren", hat er einmal geschrieben, sei typisch für die bundesdeutsche Geschichte: "Und damit treten wir auch weltweit hervor." Seine feine Ironie macht Vergnügen. Sein Denken ist von höchster Präzision. Weil die Gesellschaft da nicht mithalten kann, wirkt sie in allen seinen Büchern ein bißchen tölpelhaft. Was die Protestbewegungen angeht, ist Luhmann skeptisch. Er tat sich schwer damit, sie als "Systeme" anzuerkennen. Proteste seien "Kommunikationen", hat er vor zehn Jahren geschrieben, "die an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen". Wortmeldungen, denkt Luhmann, sind gut und schön, aber ob sie gehört werden, hängt zum geringsten Teil von denen ab, die sie vorbringen.
Da richten Leute sich auf Bäumen ein, die zur Rodung vorgesehen sind. In luftiger Höhe sind sie unter sich, wähnen sich als Außenstehende und sehen nicht, daß ihr Protest in Wahrheit innerhalb des attackierten Systems stattfindet und schon deshalb begrenzt in seiner Wirkung ist. Luhmanns Systeme sind ziemlich ausbruchssicher. Um da rauszukommen, genügt es nicht einmal, ein neues Leben anzufangen. Wer zum Beispiel gegen ein Gerichtsurteil auf die Barrikaden geht, hält das Urteil für ungerecht: Er bleibt im System des Rechts, das auf die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht gebaut ist. Jenseits des Rechts kann man im Gerichtssaal mit einem Revolver einigen Erfolg erzielen, den darf man dann aber nicht mehr aus der Hand legen. Will man das Recht auf Dauer überstimmen, muß man schon Chef einer Militärjunta sein.
Luhmanns Aufsätze und Gespräche über Protestbewegungen, zu denen Kai-Uwe Hellmann ein ausgezeichnetes Vorwort geschrieben hat, befassen sich aber nicht mit der brachialen Gewalt. Hier geht es um den Allerweltsprotest, in dem die Frauenbewegung, Umweltschützer, Alternative und andere sich etabliert haben: "Die Bewegungen sind so bunt", schreibt er, "daß sie sich selbst schon so bezeichnen." Ihre Ziele nannte er einmal "wildes Wünschen" und hat den Verdacht nicht loswerden können, daß die Dinge, für oder gegen die da demonstriert wird, beliebig austauschbar seien.
Die Protestbewegungen haben ein Problem: "Das Geheimnis der Alternativen ist: daß sie gar keine Alternative anzubieten haben. Das müssen sie sich selbst und anderen verheimlichen." Bei allem Wohlwollen ist Luhmann bisweilen von ihrer "blasierten Selbstgerechtigkeit" und der analytischen Unzulänglichkeit ihrer Gedanken enerviert. Aber selbst das sieht seine Theorie den Leuten nach: Sogar aus dieser Dürftigkeit haben sie noch etwas machen können.
Wenn es auch so aussieht, als wäre der Protest mitunter ein Selbstzweck, als folgten Demonstrationen dem Wandel der Moden und versammelten sich immer dort, wo die Scheinwerfer der Medien gerade hinleuchten, gibt es bei alledem doch ein beständiges Empfinden. Das ist die Angst: Als Europa noch jünger war und die Systeme nicht so strikt voneinander geschieden wie heute, konnte man sich von politisch-moralischer Agitation oder der Drohung mit der Hölle etwas erhoffen. Mittlerweile gibt es aber, wie Luhmann erklärt, keine Gebote mehr, die von außen an ein System herangetragen werden können, in der Erwartung, daß das systeminterne Plappern zumindest momentan betretenem Schweigen weiche: Wer der Wirtschaft mit dem Sterben der Störche kommt, wird an die jüngste Steigerung der Arbeitslosenquote erinnert. Das macht allen Beteiligten, sofern sie nur darüber nachdenken, ihre Einflußlosigkeit bewußt. Wo man spürt, daß man nichts tun kann, flüchtet man sich in die mehr oder minder diffus artikulierte Furcht - und gewinnt damit eine Position der Stärke: "Angst kann politisch nicht verboten werden."
In Gesellschaften, in denen einzelne Systeme sich mehr überlappen als in der unseren, geht es darum, wer seine Interessen am besten durchsetzen kann - "immer noch sehr schmerzlich, aber man kann es ertragen". In den modernen, "funktional ausdifferenzierten" Gesellschaften haben die Menschen es mit unpersönlichen Unabänderlichkeiten zu tun, deren Begleitumstände sie als bedrohlich wahrnehmen. Insofern halten die Protestbewegungen ihre Mahnwachen auf dem Boden von Luhmanns Theorie: Ihre Angst ist systemtheoretisch gerechtfertigt. Risiken geht jeder ein, manchmal wird ein Risiko aber als Gefahr wahrgenommen. Das trennt die Umweltschützer von dem ökologisch sorgloseren homo faber. Weil sie solche Unterscheidungen machen, sind die Protestbewegungen systemtheoretisch interessant.
Leider haben sie selbst das noch nicht begriffen. Luhmann hat seine liebe Not mit ihren Argumenten. Die sind ihm zu geschwätzig und scheinen ihm überhaupt auf den Wunsch hinauszulaufen, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft rückgängig zu machen. Das Recht soll Mitleid haben, die Wirtschaft an die Umwelt denken, die Politik soll sich der Kunst aufschließen und die Wissenschaft nicht immer nur unkreativ zwischen "wahr" und "unwahr" unterscheiden. Auch Luhmann dürfte dagegen sein, daß die Störche aussterben; aber er glaubt, daß sich in Kalamitäten bringe, wer darauf dringe, daß eine einzige Maxime - wie etwa der Umweltschutz - alle Systeme beherrsche: "Politisch gesehen führt eine solche These geradewegs zum Totalitarismus." Luhmann hält den alternativen Bewegungen zugute, daß sie die einzigen seien, die die Gesellschaft nicht mehr bloß aus der kapitalistischen Perspektive betrachteten, "sondern in bezug auf die Tatsache, daß manche für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist". Sie sind wichtig, sind neuerdings sogar "ein eigenständiger Typ von sozialen Systemen". Aber die Blauäugigkeit, mit der sie sich produzieren und reproduzieren, nimmt sich für Luhmann haarsträubend unbedarft aus. Daher seine Bitte: "Vielleicht könnte man die Naivität etwas reduzieren."
Die Systemtheorie ist schön - nicht weil sie uns die Welt erklärt, sondern weil sie mit bestechender Klarheit vieles unter einen Hut bringt, was andere mit anderen Worten beschreiben. Was daraus zu gewinnen ist, kann man auch Erkenntnis nennen.
Niklas Luhmann: "Protest". Systemtheorie und soziale Bewegungen. Hrsg. und eingel. v. Kai-Uwe Hellmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 216 S., br., 19,80 DM.
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Niklas Luhmann geht auf die Straße / Von Franziska Augstein
In Gott ist alles eins, der Teufel macht den Unterschied, und Niklas Luhmann beobachtet, was dabei herauskommt. Seine Systemtheorie befaßt sich mit mächtigen Molochen: mit der Wissenschaft, dem Recht, der Wirtschaft, der Politik, den Medien. Für kleine systemische Wadenbeißer, so schien es manchen, zeige Luhmann wenig Verständnis: Um zivilen Protest und alternative Lebensformen habe er sich nicht genug gekümmert. Das stimmt natürlich nicht. Luhmann hat zwar nicht als einer der Engagierten von sich reden gemacht, die sich mit ihrem Leib einem drohenden Verhängnis in den Weg legen - aber beobachtet hat er das Phänomen des Protests mit Fleiß seit vielen Jahren.
"Die Gewohnheit zu protestieren", hat er einmal geschrieben, sei typisch für die bundesdeutsche Geschichte: "Und damit treten wir auch weltweit hervor." Seine feine Ironie macht Vergnügen. Sein Denken ist von höchster Präzision. Weil die Gesellschaft da nicht mithalten kann, wirkt sie in allen seinen Büchern ein bißchen tölpelhaft. Was die Protestbewegungen angeht, ist Luhmann skeptisch. Er tat sich schwer damit, sie als "Systeme" anzuerkennen. Proteste seien "Kommunikationen", hat er vor zehn Jahren geschrieben, "die an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen". Wortmeldungen, denkt Luhmann, sind gut und schön, aber ob sie gehört werden, hängt zum geringsten Teil von denen ab, die sie vorbringen.
Da richten Leute sich auf Bäumen ein, die zur Rodung vorgesehen sind. In luftiger Höhe sind sie unter sich, wähnen sich als Außenstehende und sehen nicht, daß ihr Protest in Wahrheit innerhalb des attackierten Systems stattfindet und schon deshalb begrenzt in seiner Wirkung ist. Luhmanns Systeme sind ziemlich ausbruchssicher. Um da rauszukommen, genügt es nicht einmal, ein neues Leben anzufangen. Wer zum Beispiel gegen ein Gerichtsurteil auf die Barrikaden geht, hält das Urteil für ungerecht: Er bleibt im System des Rechts, das auf die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht gebaut ist. Jenseits des Rechts kann man im Gerichtssaal mit einem Revolver einigen Erfolg erzielen, den darf man dann aber nicht mehr aus der Hand legen. Will man das Recht auf Dauer überstimmen, muß man schon Chef einer Militärjunta sein.
Luhmanns Aufsätze und Gespräche über Protestbewegungen, zu denen Kai-Uwe Hellmann ein ausgezeichnetes Vorwort geschrieben hat, befassen sich aber nicht mit der brachialen Gewalt. Hier geht es um den Allerweltsprotest, in dem die Frauenbewegung, Umweltschützer, Alternative und andere sich etabliert haben: "Die Bewegungen sind so bunt", schreibt er, "daß sie sich selbst schon so bezeichnen." Ihre Ziele nannte er einmal "wildes Wünschen" und hat den Verdacht nicht loswerden können, daß die Dinge, für oder gegen die da demonstriert wird, beliebig austauschbar seien.
Die Protestbewegungen haben ein Problem: "Das Geheimnis der Alternativen ist: daß sie gar keine Alternative anzubieten haben. Das müssen sie sich selbst und anderen verheimlichen." Bei allem Wohlwollen ist Luhmann bisweilen von ihrer "blasierten Selbstgerechtigkeit" und der analytischen Unzulänglichkeit ihrer Gedanken enerviert. Aber selbst das sieht seine Theorie den Leuten nach: Sogar aus dieser Dürftigkeit haben sie noch etwas machen können.
Wenn es auch so aussieht, als wäre der Protest mitunter ein Selbstzweck, als folgten Demonstrationen dem Wandel der Moden und versammelten sich immer dort, wo die Scheinwerfer der Medien gerade hinleuchten, gibt es bei alledem doch ein beständiges Empfinden. Das ist die Angst: Als Europa noch jünger war und die Systeme nicht so strikt voneinander geschieden wie heute, konnte man sich von politisch-moralischer Agitation oder der Drohung mit der Hölle etwas erhoffen. Mittlerweile gibt es aber, wie Luhmann erklärt, keine Gebote mehr, die von außen an ein System herangetragen werden können, in der Erwartung, daß das systeminterne Plappern zumindest momentan betretenem Schweigen weiche: Wer der Wirtschaft mit dem Sterben der Störche kommt, wird an die jüngste Steigerung der Arbeitslosenquote erinnert. Das macht allen Beteiligten, sofern sie nur darüber nachdenken, ihre Einflußlosigkeit bewußt. Wo man spürt, daß man nichts tun kann, flüchtet man sich in die mehr oder minder diffus artikulierte Furcht - und gewinnt damit eine Position der Stärke: "Angst kann politisch nicht verboten werden."
In Gesellschaften, in denen einzelne Systeme sich mehr überlappen als in der unseren, geht es darum, wer seine Interessen am besten durchsetzen kann - "immer noch sehr schmerzlich, aber man kann es ertragen". In den modernen, "funktional ausdifferenzierten" Gesellschaften haben die Menschen es mit unpersönlichen Unabänderlichkeiten zu tun, deren Begleitumstände sie als bedrohlich wahrnehmen. Insofern halten die Protestbewegungen ihre Mahnwachen auf dem Boden von Luhmanns Theorie: Ihre Angst ist systemtheoretisch gerechtfertigt. Risiken geht jeder ein, manchmal wird ein Risiko aber als Gefahr wahrgenommen. Das trennt die Umweltschützer von dem ökologisch sorgloseren homo faber. Weil sie solche Unterscheidungen machen, sind die Protestbewegungen systemtheoretisch interessant.
Leider haben sie selbst das noch nicht begriffen. Luhmann hat seine liebe Not mit ihren Argumenten. Die sind ihm zu geschwätzig und scheinen ihm überhaupt auf den Wunsch hinauszulaufen, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft rückgängig zu machen. Das Recht soll Mitleid haben, die Wirtschaft an die Umwelt denken, die Politik soll sich der Kunst aufschließen und die Wissenschaft nicht immer nur unkreativ zwischen "wahr" und "unwahr" unterscheiden. Auch Luhmann dürfte dagegen sein, daß die Störche aussterben; aber er glaubt, daß sich in Kalamitäten bringe, wer darauf dringe, daß eine einzige Maxime - wie etwa der Umweltschutz - alle Systeme beherrsche: "Politisch gesehen führt eine solche These geradewegs zum Totalitarismus." Luhmann hält den alternativen Bewegungen zugute, daß sie die einzigen seien, die die Gesellschaft nicht mehr bloß aus der kapitalistischen Perspektive betrachteten, "sondern in bezug auf die Tatsache, daß manche für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist". Sie sind wichtig, sind neuerdings sogar "ein eigenständiger Typ von sozialen Systemen". Aber die Blauäugigkeit, mit der sie sich produzieren und reproduzieren, nimmt sich für Luhmann haarsträubend unbedarft aus. Daher seine Bitte: "Vielleicht könnte man die Naivität etwas reduzieren."
Die Systemtheorie ist schön - nicht weil sie uns die Welt erklärt, sondern weil sie mit bestechender Klarheit vieles unter einen Hut bringt, was andere mit anderen Worten beschreiben. Was daraus zu gewinnen ist, kann man auch Erkenntnis nennen.
Niklas Luhmann: "Protest". Systemtheorie und soziale Bewegungen. Hrsg. und eingel. v. Kai-Uwe Hellmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 216 S., br., 19,80 DM.
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