Marcel Proust ist der Größte: Über Mann und Nabokov hat Michael Maar Bücher geschrieben, in denen er in unnachahmlicher Weise anhand neuer Sichtweisen auf unbeachtet gebliebene biographische Details Neuinterpretationen von großer Tragweite gewagt hat. Keiner der beiden aber vermag wie Proust, den Spürsinn des Interpretationsjägers zu wecken und gleichzeitig sein Herz zu erwärmen. Der große Marcel war kein Hohepriester seiner selbst, sondern ein ebenso liebenswürdiger wie boshafter Plauderer. Wie kaum ein anderer hat er seine Freunde, seine Liebhaber, seine Welt, die eigene Biographie in Literatur verwandelt und die Geheimnisse des eigenen Lebens in den unergründlichen Weiten, den verborgenen Ecken und Nebenräumen jenes prächtigen Gebäudes untergebracht, das die "Recherche du temps perdu"Leoparden im Tempel". Seine Nabokov-Studie "Solus Rex" für alle Zeiten darstellt. In sieben Kapiteln führt Michael Maar den Leser durch diesen Palast. Eine Ortsführung vorzugsweise auch für jene, die bisher noch nicht dem Zauber des großen Franzosen erlegen sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.200913. Narziss, Proust und Kammerzofe
Proust-Leser sind neugierig. Proust-Leser wollen alles wissen. Alles, was das große Werk, seine Entstehung, seine Figuren, seinen Erzähler und natürlich was seinen Autor angeht. Und dabei ahnen sie doch, dass sich bei Proust und seiner "Recherche" hinter jeder geöffneten Tür ein Vorhang, hinter diesem wieder eine Tür verbirgt, ein Vorzimmer, ein Salon, ein Gang, eine Treppe, eine Kammer mit einem Fensterchen, und dass all diese Räume mal im hellen Sonnenschein liegen, mal in Dämmerlicht gehüllt sind, immer anders erscheinen, nie zu ergründen sind.
Michael Maar ist so ein schlüsselsuchender, vorhängebewegender Leser; wieder und wieder öffnet er die verschiedenen Türen, betritt die proustsche Zimmerflucht mal durch den Vorder-, mal durch den Dienstboteneingang, wissend, dass das ein unendliches Gehen, Verweilen, Beobachten, Betrachten ist. Bei diesen Gängen machte er über die Jahre hinweg wundervolle, andere Proust-Leser beglückende Entdeckungen, von denen er nun in einem schmalen, bibliophilen Band erzählt. Da ist der berühmte Brief, den der sechzehnjährige Proust an seinen Großvater schrieb, um Geld für einen zweiten Bordellbesuch zu erbitten, der erste habe in einem Desaster geendet (angeblich zerbrach er in der Aufregung einen Nachttopf und war dann nicht mehr in der Lage, den Akt zu vollziehen). Ihn liest Maar als ein Beispiel für die früh von Proust entwickelte Begabung der das eigentliche Geheimnis deckenden Offenbarung. Lebenslang sah sich Proust zum Versteckspiel gezwungen, das ihn zwar eine einzigartige Fähigkeit im Beobachten der anderen entwickeln ließ, eine beängstigende Begabung für die liebenswürdige Schmeichelei, die einwickelnde Freundschaft; die ihm aber vor allem dazu diente, seinen grenzenlosen Egoismus und seine infantile Verletzlichkeit, seinen Narzissmus und seine Gleichgültigkeit zu verbergen, besonders aber sein großes Geheimnis: dass seine Liebe Männern galt. Das bis zur Naivität Offenherzige ergäbe dann, so Maar, gerade das Versteck, in dem das Geheimnis seinen Platz findet.
Wie groß die Angst vor Enthüllung war, zeigt die Korrespondenz mit den Freunden, etwa mit Lucien Daudet (hier wird das Versteckspiel mit Abkürzungen betrieben, wie "m. g." für "mauvais genre", einer Anspielung auf Männerliebe), werden verräterische Worte durch minutiöse Schilderungen zugedeckt, ist Proust um betonte Nachlässigkeit und Kühle des Tons bemüht. Und als Edgar Aubert, der wohl die erste große Liebe Prousts und Vorbild für Albertine, die Geliebte des Erzählers im Roman, war, an einer Blinddarmentzündung stirbt, fällt das Kondolenzschreiben geradezu stoisch aus - etwas, was bei dem sonst so gefühlsüberschwänglichen Proust aufhorchen lässt.
Prousts Roman ist zu großen Teilen nicht Erfindung, sondern Verwandlung; wie nahe Held und Erzählung dem Autor stehen, zeigen die Briefe, in denen Proust in der ersten Person von seinem Erzähler spricht (der ja Marcel heißt wie er selbst). Und da er einerseits so sehr aus dem Autobiographischen schöpft, andererseits seine sexuelle Neigung verschleiern will, verwandelt er die geliebten Männer eben in Frauen, wobei er manches Mal vergisst, Charakterzüge, Eigenschaften, Tätigkeiten und Interessen geschlechtsspezifisch anzupassen.
Berühmt geworden sind die hübschen jungen Fischerinnen; Maar nun folgt, mit großem Sinn fürs Komische, den Spuren der Kammerjungfer der Baronin Putbus - in der "Recherche" das sich ewig entziehende erotische Ziel des Erzählers -, und er entdeckt in den Vorstufen des Romans lang ausgeführte Passagen, in denen Held und Kammerzofe nicht nur zusammentreffen, sondern sogar intim werden. Im Anschluss dann schlägt der Erzähler einen Ausflug im Automobil vor, und die Zofe erwidert begeistert: ",Am liebsten mag ich Autos, Baccara, guten Wein und Pferderennen' - die typischen Interessen eines jungen Mädchens um 1900 eben", schließt Maar lapidar.
Da er nicht erfinden konnte, musste sich Proust dem Unbekannten, von dem er erzählen wollte, aussetzen, durchstreifte er das verdunkelte, von deutschen Fliegern bombardierte Paris, dessen Nachthimmel die Scheinwerfer absuchten, besuchte er die Schwulenbordelle, um sadomasochistische Sexualpraktiken zu studieren. Und als er vom Tod und vom Sterben erzählen wollte, nicht nur aus der Perspektive eines Angehörigen, eines Trauernden, sondern aus der des Sterbenden selbst, ging er auch diesen Weg. Zwei Tage wartet Céleste Albaret, die Haushälterin, Sekretärin, Pflegerin, Gesprächspartnerin, Vertraute, die im Herbst 1913 in Prousts Haus kam und neun Jahre, bis zu seinem Tod, an seiner Seite lebte, ihn liebte und verehrte, in der Küche auf sein Klingeln. Zwei Tage hört sie nichts. Sie schleicht zu seiner Tür, lauscht. Nichts. Dann, endlich, am Abend des zweiten Tages, klingelt es. Bleich und erschöpft liegt Proust da, sagt: "Auch ich habe geglaubt, daß wir uns vielleicht nicht wiedersehen würden." Er hatte Schlafmittel genommen, viel mehr als sonst, um "den schwarzen Grund mit den Fingerspitzen" zu berühren. Sie sprachen nie mehr darüber.
Bettina Hartz.
Michael Maar: "Proust Pharao". Berenberg-Verlag, 79 Seiten, 19 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Proust-Leser sind neugierig. Proust-Leser wollen alles wissen. Alles, was das große Werk, seine Entstehung, seine Figuren, seinen Erzähler und natürlich was seinen Autor angeht. Und dabei ahnen sie doch, dass sich bei Proust und seiner "Recherche" hinter jeder geöffneten Tür ein Vorhang, hinter diesem wieder eine Tür verbirgt, ein Vorzimmer, ein Salon, ein Gang, eine Treppe, eine Kammer mit einem Fensterchen, und dass all diese Räume mal im hellen Sonnenschein liegen, mal in Dämmerlicht gehüllt sind, immer anders erscheinen, nie zu ergründen sind.
Michael Maar ist so ein schlüsselsuchender, vorhängebewegender Leser; wieder und wieder öffnet er die verschiedenen Türen, betritt die proustsche Zimmerflucht mal durch den Vorder-, mal durch den Dienstboteneingang, wissend, dass das ein unendliches Gehen, Verweilen, Beobachten, Betrachten ist. Bei diesen Gängen machte er über die Jahre hinweg wundervolle, andere Proust-Leser beglückende Entdeckungen, von denen er nun in einem schmalen, bibliophilen Band erzählt. Da ist der berühmte Brief, den der sechzehnjährige Proust an seinen Großvater schrieb, um Geld für einen zweiten Bordellbesuch zu erbitten, der erste habe in einem Desaster geendet (angeblich zerbrach er in der Aufregung einen Nachttopf und war dann nicht mehr in der Lage, den Akt zu vollziehen). Ihn liest Maar als ein Beispiel für die früh von Proust entwickelte Begabung der das eigentliche Geheimnis deckenden Offenbarung. Lebenslang sah sich Proust zum Versteckspiel gezwungen, das ihn zwar eine einzigartige Fähigkeit im Beobachten der anderen entwickeln ließ, eine beängstigende Begabung für die liebenswürdige Schmeichelei, die einwickelnde Freundschaft; die ihm aber vor allem dazu diente, seinen grenzenlosen Egoismus und seine infantile Verletzlichkeit, seinen Narzissmus und seine Gleichgültigkeit zu verbergen, besonders aber sein großes Geheimnis: dass seine Liebe Männern galt. Das bis zur Naivität Offenherzige ergäbe dann, so Maar, gerade das Versteck, in dem das Geheimnis seinen Platz findet.
Wie groß die Angst vor Enthüllung war, zeigt die Korrespondenz mit den Freunden, etwa mit Lucien Daudet (hier wird das Versteckspiel mit Abkürzungen betrieben, wie "m. g." für "mauvais genre", einer Anspielung auf Männerliebe), werden verräterische Worte durch minutiöse Schilderungen zugedeckt, ist Proust um betonte Nachlässigkeit und Kühle des Tons bemüht. Und als Edgar Aubert, der wohl die erste große Liebe Prousts und Vorbild für Albertine, die Geliebte des Erzählers im Roman, war, an einer Blinddarmentzündung stirbt, fällt das Kondolenzschreiben geradezu stoisch aus - etwas, was bei dem sonst so gefühlsüberschwänglichen Proust aufhorchen lässt.
Prousts Roman ist zu großen Teilen nicht Erfindung, sondern Verwandlung; wie nahe Held und Erzählung dem Autor stehen, zeigen die Briefe, in denen Proust in der ersten Person von seinem Erzähler spricht (der ja Marcel heißt wie er selbst). Und da er einerseits so sehr aus dem Autobiographischen schöpft, andererseits seine sexuelle Neigung verschleiern will, verwandelt er die geliebten Männer eben in Frauen, wobei er manches Mal vergisst, Charakterzüge, Eigenschaften, Tätigkeiten und Interessen geschlechtsspezifisch anzupassen.
Berühmt geworden sind die hübschen jungen Fischerinnen; Maar nun folgt, mit großem Sinn fürs Komische, den Spuren der Kammerjungfer der Baronin Putbus - in der "Recherche" das sich ewig entziehende erotische Ziel des Erzählers -, und er entdeckt in den Vorstufen des Romans lang ausgeführte Passagen, in denen Held und Kammerzofe nicht nur zusammentreffen, sondern sogar intim werden. Im Anschluss dann schlägt der Erzähler einen Ausflug im Automobil vor, und die Zofe erwidert begeistert: ",Am liebsten mag ich Autos, Baccara, guten Wein und Pferderennen' - die typischen Interessen eines jungen Mädchens um 1900 eben", schließt Maar lapidar.
Da er nicht erfinden konnte, musste sich Proust dem Unbekannten, von dem er erzählen wollte, aussetzen, durchstreifte er das verdunkelte, von deutschen Fliegern bombardierte Paris, dessen Nachthimmel die Scheinwerfer absuchten, besuchte er die Schwulenbordelle, um sadomasochistische Sexualpraktiken zu studieren. Und als er vom Tod und vom Sterben erzählen wollte, nicht nur aus der Perspektive eines Angehörigen, eines Trauernden, sondern aus der des Sterbenden selbst, ging er auch diesen Weg. Zwei Tage wartet Céleste Albaret, die Haushälterin, Sekretärin, Pflegerin, Gesprächspartnerin, Vertraute, die im Herbst 1913 in Prousts Haus kam und neun Jahre, bis zu seinem Tod, an seiner Seite lebte, ihn liebte und verehrte, in der Küche auf sein Klingeln. Zwei Tage hört sie nichts. Sie schleicht zu seiner Tür, lauscht. Nichts. Dann, endlich, am Abend des zweiten Tages, klingelt es. Bleich und erschöpft liegt Proust da, sagt: "Auch ich habe geglaubt, daß wir uns vielleicht nicht wiedersehen würden." Er hatte Schlafmittel genommen, viel mehr als sonst, um "den schwarzen Grund mit den Fingerspitzen" zu berühren. Sie sprachen nie mehr darüber.
Bettina Hartz.
Michael Maar: "Proust Pharao". Berenberg-Verlag, 79 Seiten, 19 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Merklich angeregt berichtet Henning Ritter von den neuen Proust-Streifzügen Michael Maars, den er als einen literarischen Kriminalisten beschreibt. Besonders interessiert ihn an Maars Buch das Wechselspiel von Ver- und Entzauberung und Ver- und Entschleierung. Ohne den Hintergrund von Prousts Homosexualität, so Ritter und so auch Maar, lässt sich diese eigentümliche Ambiguität der "Recherche" wohl nicht erklären: Sein Roman ist einer der Entzauberung, der den Zauber aufbewahrt, aber wohl keiner der Entschleierung, denn die Homosexualität des Autors - das ist der Epoche geschuldet - muss ewig unterdrückt bleiben. Man verspricht sich nach Lektüre der Ritter-Kritik eine anregende Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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