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Marbach am Neckar: Eine kleine Stadt im deutschen Südwesten steht für das literarische Gedächtnis einer ganzen Sprachkultur. Durch das Deutsche Literaturarchiv ist der Geburtsort Friedrich Schillers zu einem Begriff mit geradezu magischem Klang geworden. Von den Anfängen des Dichterkults im frühen 19. Jahrhundert und der Gründung des Schwäbischen Schillervereins und des Schillermuseums im Königreich Württemberg bis zum Aufbau des Deutschen Literaturarchivs in der frühen Bundesrepublik führt der Weg, den diese Geschichte nachzeichnet. Aus bislang unerschlossenen Quellen entsteht das…mehr

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Produktbeschreibung
Marbach am Neckar: Eine kleine Stadt im deutschen Südwesten steht für das literarische Gedächtnis einer ganzen Sprachkultur. Durch das Deutsche Literaturarchiv ist der Geburtsort Friedrich Schillers zu einem Begriff mit geradezu magischem Klang geworden. Von den Anfängen des Dichterkults im frühen 19. Jahrhundert und der Gründung des Schwäbischen Schillervereins und des Schillermuseums im Königreich Württemberg bis zum Aufbau des Deutschen Literaturarchivs in der frühen Bundesrepublik führt der Weg, den diese Geschichte nachzeichnet. Aus bislang unerschlossenen Quellen entsteht das Sittengemälde eines Bildungsmilieus, das in der schwäbischen Provinz ein Heim für die literarische Moderne geschaffen hat.
Autorenporträt
Jan Eike Dunkhase, Dr. phil., geboren 1973, ist Historiker und lebt in Berlin. Veröffentlichungen zur Historiographie und Ideengeschichte im 20. Jahrhundert.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2021

Die Dichter und ihre Paten
Jan Eike Dunkhases fabelhafte Institutionengeschichte des Literaturarchivs Marbach
Kataloge in Archiven und Bibliotheken geben nicht nur Auskunft über die Bestände, sondern auch über ihre Verwalter. Als der junge Bibliothekar Paul Raabe, der aus Oldenburg stammte, im Jahr 1958 die Leitung der Bibliothek des Schillermuseums in Marbach übernahm, stellte er alsbald fest, dass darin die schwäbischen und die nichtschwäbischen Autoren getrennt katalogisiert waren: „Letztere waren in dem alten Kapselkatalog, den ich bald ersetzte, sinnigerweise mit NS = Nichtschwaben bezeichnet.“
Es gehört zu den vielen Vorzügen von Jan Eike Dunkhases Buch „Provinz der Moderne. Marbach auf dem Weg zum Deutschen Literaturarchiv“, dass es solchen Details die gebührende Aufmerksamkeit widmet. In der Katalogrevision etwa findet jene Zäsur Ausdruck, die aus dem 1903 gegründeten Schillermuseum seit Mitte der 1950er-Jahre das Deutsche Literaturarchiv mit seinen Sammlungen zur Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und offenem Zukunftshorizont hervorgehen ließ.
Durch seinen Gang in das Archiv des Archivs zeigt Dunkhase anschaulich, wie lokale Wurzeln und überregionale Geltungsansprüche sich schon im späten 19. Jahrhundert zu durchdringen begannen. Der württembergische Schillerkult hatte sich zunächst an das Geburtshaus in Marbach geheftet, das 1859 zum 100. Geburtstag des Dichters als Gedenkstätte eingeweiht wurde, hatte einen örtlichen Schillerverein hervorgebracht und lange auf ein Denkmal hingearbeitet. Als es im Mai 1876 enthüllt wurde, war das Königreich Württemberg bereits Bundessaat im Deutschen Reich. Der wenig später auf Lebenszeit gewählte Stadtschultheiß Traugott Hafner hatte das Amt vor allem übernommen, um Marbach zum Zentrum des Schillerkultus zu machen – und hatte dabei auch schon den Fremdenverkehr im Blick.
Die Schlüsselfigur, die im späten 19. Jahrhundert die lokalen Energien bündelte und entgrenzte, war der Stuttgarter Geschäftsmann, Bankier und Sammler Kilian Steiner (1833 – 1903). Er machte aus dem Marbacher den Schwäbischen Schillerverein und setzte sich für die Errichtung eines Museums und Archivs ein. Das sollte nicht mehr allein dem Namensgeber Schiller, sondern der schwäbischen Literatur insgesamt gewidmet sein und nationale Geltung erlangen. Als Gegenüber zum Schiller-Haus in Weimar und dem dort ebenfalls ansässigen Goethe- und Schiller-Archiv.
Geschickt erzählt Dunkhase die Gründungsgeschichte des Marbacher Schillermuseums so, dass ein facettenreiches Porträt Kilian Steiners entsteht, der in Laupheim in Oberschwaben geboren wurde und einer der größten jüdischen Gemeinden des Landes entstammte. Er war Bismarck-Anhänger, trat für die kleindeutsche Reichseinigung unter Führung Preußens ein und verband seine international ausgreifende Geschäftstätigkeit mit einem stabilen Nationalliberalismus. Zugleich war er ein Literaturliebhaber und Sammler, der neben seinem Studium der Rechtswissenschaft auch Vorlesungen zu Geschichte, Philosophie und Literatur gehört hatte.
Steiner wusste, was er tat, wenn er Manuskripte von Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland, Friedrich Hölderlin, Ludwig Uhland, Wilhelm Hauff, Justinus Kerner und anderen erwarb. Er hatte im Frühjahr 1889 in der Deutschen Rundschau Wilhelm Diltheys Aufsatz „Archive für Literatur“ gelesen und gehörte zu den ersten, die aus der Idee Konsequenzen zogen, den Staatsarchiven Literaturarchive an die Seite zu stellen. Als kurz nach seinem Tod in Marbach das Schillermuseum eröffnet wurde, war es dank seiner großzügigen Schenkungen zugleich ein Archiv der schwäbischen Literatur. Der letzte große Dichternachlass, den Kilian Steiner erwarb, war der des großen Erzählers Berthold Auerbach, ein schwäbischer Jude wie er selbst.
Dunkhases Darstellungsprinzip, die Institutionengeschichte von Museum und Archiv im Blick auf prägende Akteure zu verdichten, bewährt sich. Als Kontinuitätsfigur über die politischen Zäsuren des Ersten Weltkriegs, des Untergangs der Monarchie auch in Württemberg 1918/19 hinweg und über die Weimarer Republik hinaus bis in den Nationalsozialismus porträtiert er Otto Güntter (1858 – 1949), den „Paten des schwäbischen Literaturbetriebs“. Mit ihm, der als junger Philologe Stipendienaufenthalte in London und Paris absolviert hatte, nimmt das Ausstellungswesen in Marbach Fahrt auf. Er prägte als langjähriger Direktor das Schillermuseum und stabilisierte in der Nachkriegszeit durch enge Mitgliederbindung den Schillerverein, der schon zu Zeiten Kilians auf staatliche Förderung angewiesen war. Aus dem „Freiheitsdichter“ Schiller war da längst der „Dichter der Nation“ geworden.
Von der Kulturförderung als Instrument der Politik im nationalsozialistischen Staat profitierte der Goethekult in Weimar weit mehr als die Schillerhöhe in Marbach. An mangelnder Anpassung an den Geist des „neuen Deutschlands“ lag das allerdings nicht. Bei der „Sonnenwendfeier“ zu Schillers 125. Geburtstag im November 1934 wurde eine nach dem Nazi-Märtyrer Albert Leo Schlageter benannte „Schlageter-Flamme“ entzündet. Zeitgleich war Hitler mit dem Propagandaminister Joseph Goebbels in Weimar zu Gast. Das weitaus beliebteste Objekt des Schillermuseums im Dritten Reich war Franz Karl Hiemers Porträt von Friedrich Hölderlin, dessen Gedicht „Der Tod fürs Vaterland“ die SS in ihr Schulungsmaterial aufgenommen hatte.
Obwohl die archivalische Überlieferung zwischen 1933 und 1945 lückenhaft ist, kann Dunkhase zeigen, dass Adolf Wohlgemuth Steiner, der Sohn von Kilian Steiner, der 1894 zum Protestantismus konvertiert war, aus den Protokollen des Schwäbischen Schillervereins verschwand – er galt den Nationalsozialisten als Jude. Der Schatzmeister des Vereins, der Verleger Ernst Klett der Ältere (1863 – 1947), hielt im Protokoll einer Ausschusssitzung zum Thema der notwendigen Gewinnung neuer Mitglieder fest: „Nichtarier werden nicht mehr aufgenommen. Eine Reihe Juden haben ihren Austritt erklärt; von solchen, die uns als Juden bekannt sind, nehmen wir keinen Beitrag mehr an.“ Die Kilian-Steiner-Straße und die Auerbachstraße in Marbach wurden umbenannt.
Nebenstränge in der Geschichte der Schillerhöhe entgehen Dunkhase so wenig wie die Verbindungslinien, die durch die Weimarer Republik und das Dritte Reich auf den Neuanfang nach Kriegsende zuführten. Kurzfristig kam dabei im Sommer 1945 noch einmal der längst pensionierte Otto Güntter zum Zuge, für die Zäsur stand der Bibliothekar Erwin Ackerknecht, der im Nationalsozialismus als „Kulturbolschewist“ und „Judenfreund“ attackiert worden war und im Oktober 1946 Vorsitzender des Schillervereins und Leiter des Schillermuseums wurde. Eher beiläufig ließ er aus dem Schwäbischen Schillerverein die Deutsche Schillergesellschaft hervorgehen, zu den Verbündeten, die er um sich scharte, gehörte Theodor Heuss, der schon in der Weimarer Republik für Marbach eingetreten war und 1945 Kultusminister des neugeschaffenen Landes Baden-Württemberg wurde. Zugleich unterhielt Ackerknecht gute Beziehungen zu Hermann Hesse, beide Verbindungen waren für die Position Marbachs in der jungen Bundesrepublik günstig. Heuss wurde 1949 Bundespräsident, Hesse erhielt 1946 den Nobelpreis für Literatur.
Dunkhases Schilderung der Nachkriegsjahre läuft auf den Ausbau Marbachs zum „Weimar des Westens“ zu. Die Pointe aber lag darin, dass die Schillerhöhe sich mehr und mehr von dieser Konkurrenz löste. Das Fundament blieb das Schillermuseum mit den Sammlungen der schwäbischen Literatur. Seine nationale Bedeutung aber gewann Marbach, als Bernhard Zeller, seit 1955 Direktor des Schiller-Nationalmuseums und Geschäftsführer der Deutschen Schillergesellschaft, die „Errichtung eines deutschen Literaturarchivs“ vorantrieb, das die Nachlässe der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts aufnehmen sollte. Dunkhases dichte Beschreibung dieses Prozesses umfasst den Besuch Thomas Manns im Jahr 1955, die große Expressionismus-Ausstellung des Jahres 1960, den Besuch der englischen Königin 1965.
Vor allem aber räumt er der Erwerbungsgeschichte nach dem Neustart als „Deutsches Literaturarchiv“ zu Recht großen Raum ein. Die Expressionismus-Ausstellung war ja zugleich in großen Teilen eine Ausstellung über Autoren, die ins Exil getrieben wurden, ihre Basis die „Sammlung der Zerstreuten“ durch den Ankauf von Nachlässen in Israel, London und andernorts, durch die Kooperation mit dem Antiquar Kurt Pinthus, der aus der Schweiz 1966 nach Marbach übersiedelte. Als Kurt Wolff, der Verleger Franz Kafkas und vieler expressionistischer Autoren, 1963 auf dem Weg nach Marbach in Ludwigsburg tödlich verunglückte, entschied seine Witwe Helen Wolff, dass er in Marbach begraben werde.
En passant berichtet Dunkhase auch von der Entstehung des modernen Nachlassbewusstseins. Diese Erzählung beginnt bei Goethe und findet einen ihrer Endpunkte in den Verhandlungen, die Martin Heidegger mit Marbach über seinen Nachlass führte. Und sie enthält die Geschichte der Marbach-Besuche Hannah Arendts, die zur Heidegger-Welt wie zur Welt der Remigranten gehörte. Als sie 1975 zum zweiten Mal auf die Schillerhöhe kam, hatte man dort der Expansion der Archivbestände Rechnung getragen. Dort war Anfang 1973 der im Stil des Brutalismus errichtete Neubau eröffnet worden. Mit dem Auszug des Archivs aus dem Schillermuseum ist die „Provinz der Moderne“ fest etabliert, die Dunkhases Buch den Titel gibt. Es zeigt, wie lebendig Institutionengeschichte sein kann.
LOTHAR MÜLLER
Auch in Marbach zu beobachten:
wie ein Sinn für Nachlässe
historisch erst entstehen musste
Vom Ort schwäbischer Schiller-Verehrung zum Zentrum der deutschen Literatur: Auf der Schillerhöhe in Marbach entstanden moderne Erweiterungsbauten zum Museum – in den Siebzigern brutalistisch, zuletzt durch den Architekten David Chipperfield.
Foto: Christian Richters/imago
Schlüsselfigur in der Geschichte des Archivs: Der Geschäftsmann, Bankier und Sammler Kilian Steiner.
Foto: gemeinfrei
Jan Eike Dunkhase:
Provinz der Moderne.
Marbachs Weg zum
Deutschen Literaturarchiv. Klett Cotta, Stuttgart 2021. 430 Seiten,
zahlreiche Abb., 35 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Lothar Müller lernt mit Jan Eike Dunkhases Buch nicht nur die Geschichte des Literaturarchivs Marbach kennen, sondern auch für sie wichtige Personen wie den Sammler Kilian Steiner, Otto Güntter oder Bernhard Zeller sowie Zäsuren wie Katalogrevisionen oder den Einfluss der Nationalsozialisten auf die Institution. Auf- und anregend, wie der Autor Verbindungslinien zwischen den Epochen aufgreift, die Konkurrenz zwischen Weimar und Marbach herausarbeitet und der "Entstehung des modernen Nachlassbewusstseins" nachspürt, findet der Rezensent.

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