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Provinzialismus - unter diesem provokanten Stichwort hat Karl Heinz Bohrer seine in voller Absicht politisch unkorrekten Studien über die Mentalitäten in Politik, Universität und Kulturbetrieb versammelt. Fazit seiner Wahrnehmungen: Die mittlere Mittelklasse, die sich gegen jede Hierarchisierung zur Wehr setzte, hat abgewirtschaftet.

Produktbeschreibung
Provinzialismus - unter diesem provokanten Stichwort hat Karl Heinz Bohrer seine in voller Absicht politisch unkorrekten Studien über die Mentalitäten in Politik, Universität und Kulturbetrieb versammelt. Fazit seiner Wahrnehmungen: Die mittlere Mittelklasse, die sich gegen jede Hierarchisierung zur Wehr setzte, hat abgewirtschaftet.
Autorenporträt
Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln geboren, ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Von 1984 bis 2012 war er Herausgeber des MERKUR. Er lebt in London. Im Carl Hanser Verlag erschienen zuletzt: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken (EA, 2011),Granatsplitter. Erzählungen einer Jugend (2012), Ist Kunst Illusion? (EA, 2015) und Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie (EA, 2016).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.2000

Kriege gegen die Provinzialität

Karl Heinz Bohrer gehört nicht zu den natürlichen Feinden des Altkanzlers, und doch hat er das erbarmungsloseste, das ganz und gar vernichtende Urteil über Helmut Kohl gefällt. "Dem System Kohl", schrieb Bohrer im Winter 1998, "kann notwendigerweise zu nichts etwas einfallen . . . Es ist die Natur selbst. Die lebt auch ohne zu denken." Die selbstgerechte Verstocktheit, die der ehemalige Kanzler in der Spendenaffäre an den Tag legt, betrachtet Bohrer in der Märzausgabe des "Merkur" gleichfalls als intellektuelle Mangelerscheinung. Darin zeige sich "die offensichtliche Unfähigkeit zur gedanklichen Abstraktion, das heißt zum Gedanken überparteilicher Verantwortlichkeit".

Das ist das System Kohl, die Idee, daß dem Land nutzt, was der Partei frommt - von Karl Heinz Bohrer erklärt und in einem halben Satz auf den Punkt gebracht. Wobei der Autor den Altkanzler selbst längst abgeschrieben hat, denn anders als dieser neigt er zur Abstraktion. Und deshalb dient Kohl ihm in erster Linie als besonders auffällige Verkörperung einer deutschen Unsitte, die Bohrer seit Jahrzehnten auf die Nerven geht: Bohrer verabscheut den Provinzialismus. Und die vielen schwungvollen Essays, in denen er seiner Mißbilligung seit 1991 Luft machte, sind jetzt alle zusammen nochmals publiziert (Karl Heinz Bohrer: "Provinzialismus". Ein physiognomisches Panorama. Hanser Verlag, München 2000. 165 S., br., 36.- DM).

Bohrers Welt ist, bei aller pointenreichen Vielgestaltigkeit, ziemlich deutlich in zwei Hemisphären geschieden: Auf der ihm abgewandten Seite der Geschichte befinden sich die Dinge, die er auf die eine oder andere Weise unter "Provinzialismus" subsumiert: Die Friedensbewegung und "winselnde Harmlosigkeit", Larmoyanz und Lichterketten, die "Geheimnislosigkeit" deutscher Schauspieler und die Gemütlichkeit der Deutschen überhaupt, die rural-kleinbürgerlichen Sentimentalitäten der Nazis und die moralischen Versicherungen, hinter denen bundesdeutsche Politiker sich versteckten, um keine beherzten Entscheidungen fällen zu müssen, die "Psychologie einer neuen Händlergesinnung" und "die Dominanz einer mittleren Mittelklasse", die nicht bloß die Kultur ruiniert, sondern auch den Parlamentarismus. Mainzelmännchen, Männchen machen, Leisetreten hinterm Jägerzaun: Bohrers Vorstellung der wirklichen Hölle.

Ihr helles Kontrastprogramm auf Erden ist die westliche Zivilisiertheit, worunter Bohrer alles versteht, was ihm gefällt, besonders Esprit, Eigensinn und Urbanität. "Man wird die siebziger und achtziger Jahre nicht mehr bloß als progressive feiern", schreibt er im Vorwort, "und die fünfziger Jahre nicht nur als konservative verdammen." Erstere hätten nämlich viel zur Entstehung des Provinzialismus beigetragen, während letztere "Momente experimenteller Erwartung und explosiver Spannung" bescherten.

Die Vergoldung der fünfziger Jahre wird in diesen Tagen eifrig betrieben. So hat Adam Michnik unlängst Konrad Adenauer nachgesagt, mehr für den Frieden zwischen Ost und West getan zu haben als Willy Brandt, dessen Ostpolitik er - post festum ist es leicht, politischer Falke zu sein - für zu nachgiebig hält. Bohrer betrieb sein Adenauer-Lob 1991 auf eigene Rechnung, indem er diesen in seinen Privatpantheon der Zivilisation aufnahm: "Als Adenauer . . . das von ihm verantwortete Restdeutschland an den Westen band, spielten dabei kulturelle Motive eines urbanen bürgerlichen Politikers mit, den konkrete westliche zivilisatorische Identifikationen banden." Adenauer urban, die fünfziger Jahre eine Zeit des geistig-politischen Aufbruchs? Was meint Bohrer, wenn er von "experimenteller Erwartung" spricht?

Umgekehrt hat er klar beschrieben, warum die Bonner Politik etwas Dumpfiges an sich hat. In Bohrers Darstellung bestand das Anliegen der Regierung Kohl darin, nicht weiter aufzufallen: "Nicht wegen einer frei gewordenen, kühn ausgespielten Souveränität" habe die Bundesrepublik sich international in Mißkredit gebracht, sondern wegen einer politischen Vermeidungsstrategie, "die anstelle des bürgerlichen Konkretismus kultureller und politischer Traditionen die absehbar bodenlose Sentimentalität der Versöhnungs- und Versicherungsstrategie setzte".

Unter "bürgerlichem Konkretismus" versteht Bohrer zuallererst die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen. Sie ist für ihn so etwas wie die erste Lektion in der Schule westlich-souveräner Zivilisation. Allenthalben spricht er vom Krieg. Schon der erste - "anstatt einer Einleitung" der Sammlung vorangestellte - Essay ist eine 1982 publizierte Eloge auf den Falklandkrieg, von dem Bohrer sagt, er sei aus Prinzip geführt worden: "Noblesse und Prinzipien sind es, die politische Völker von unpolitischen noch immer unterscheiden", soll heißen: die Briten von den Westdeutschen. Im Falklandkrieg sah er "die nationale Identität als das große Über-Ich, ja sogar das mystische Element der Ehre - auf einen Begriff gebracht: Spiritualität". Für diesen Krieg wurde eine längst erledigte imperiale Tradition wieder aufgewärmt. Aber, so Bohrer, lieber Don Quichotte sein als Sancho Pansa.

Als die Bundesrepublik sich am Kosovo-Krieg beteiligte, notierte Bohrer es mit Befriedigung. Allenfalls hatte er zu monieren, daß die Regierung Schröder noch nicht selbst den Einsatz von Bodentruppen angeregt hat. Die winselnde Bellikosität hingegen, das peinliche Pathos und die Desinformationen, mit denen Rudolf Scharping diesen Krieg den Deutschen schmackhaft machte, sieht Bohrer dem Verteidigungsminister nach. Seit Jahren hat er in der deutschen Politik Statur vermißt. Nun, da sie sich abzeichnete, wollte er sie nicht kleinreden - und hinterging seine eigenen Prinzipien. Ob soviel Rücksichtnahme im Namen eines Krieges nötig ist, um Deutschland der westlichen Zivilisiertheit näher zu bringen?

FRANZISKA AUGSTEIN

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eingehend bespricht Franziska Augstein diesen Band mit Essays über und gegen den Provinzialismus. Die Darlegungen des Autors seien trotz "pointenreicher Vielgestaltigkeit" deutlich in zwei polare Gegensätze geteilt, bemerkt die Rezensentin: Auf der einen Seite steht alles, was der Autor verabscheut und unter den Begriff des "Provinzialismus" fasst. Auf der anderen Seite steht "westliche Zivilisiertheit", die das vereint, was "ihm gefällt". Wenn der Autor auf den Krieg zu sprechen kommt, was er oft tut, hintergeht Bohrer seine "eigenen Prinzipien", indem er beispielsweise für "das peinliche Pathos und die Desinformationen" Scharpings im Kosovokrieg Verständnis zeigt, moniert die Rezensentin und fragt sich, ob soviel "Rücksichtnahme" nötig ist.

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