Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und Homophobie sind in Musiktexten allgegenwärtig, und das nicht nur im Hip-Hop, sondern genreübergreifend. Aber es sind natürlich nicht nur diese Themen, die in der Musik verhandelt werden und als kontrovers gelten - Sex, Drugs and Rock`n Roll erhitzen die Gemüter nach wie vor ebenso regelmäßig.Songs sind ein Spiegel der Gesellschaft, Songs stoßen Debatten an. »Provokation!« versammelt rund 70 Hits der vergangenen 100 Jahre, die aufrüttelten, empörten und verstörten - von Künstlern wie Boris Vian und Bill Haley, Bob Dylan und den Doors, Alice Cooper, Marilyn Manson und den Sex Pistols, Public Enemy und Bushido, Prince, Kollegah und Farid Bang. Dazu Antworten auf die Fragen: Wie funktionieren diese musikalischen Tabubrüchen? Was machen sie mit uns und wie sollten wir damit umgehen? Und: Wann ist die Grenze zum »hate song« überschritten?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2019Gut verschanzt hinter der Kunstfreiheit
In der Popmusik sind immer schon politische und soziale Konflikte ausgehandelt worden. Derzeit geschieht das aber härter denn je. Zwei neue Bücher ergründen, warum das so ist.
Zwei Rapper bringen mit antisemitischen Textzeilen einen Musik-Preis zum Kollaps. Eine linke Punkband soll im Bauhaus Dessau auftreten und wird aus Furcht vor rechten Randalen wieder ausgeladen. Eine Südtiroler Band beschwört die Liebe zur Heimat gegen "Gutmenschen und Moralapostel". Einer kanadischen Clubmusikerin wird koloniale Herablassung vorgeworfen, weil sie eine indische Freiheitshymne als Sample benutzt. Eine Organisation ruft zum Boykott eines Berliner Popfestivals auf, weil eine Künstlerin mit staatlicher Unterstützung aus Israel anreist. Ein österreichischer Schlagerstar beklagt die "genderverseuchte Zeit". Und das sind nur Beispiele der letzten drei, vier Jahre.
Eigentlich gilt Popmusik ja als Kunstform jugendlich-sentimentaler Affekte, die sich mit zunehmendem Alter von selbst erledigen. So hartnäckig sich diese Ansicht auch hält, so war es aber noch nie. In der Popmusik wurden immer schon politische und soziale Konflikte ausgehandelt, sexuelle Selbstbestimmung, ethnische Emanzipation, Jung gegen Alt - derzeit geschieht das aber härter denn je. Und mit umgedrehten Vorzeichen. Gleich zwei neue Bücher - das eine, von Jens Balzer, ein ernster Essay, das andere, von Michael Behrendt, ein populäres Kompendium - versuchen deswegen zu ergründen, warum es so gekommen ist. Und was man aus den Skandalen der letzten Zeit lernen kann, falls es mal wieder so kracht wie zuletzt um Andreas Gabalier und Frei.Wild, die Organisation BDS und Feine Sahne Fischfilet - und um die Rapper Kollegah und Farid Bang.
Deren Album "Jung, brutal und gutaussehend 3" war im vergangenen Jahr mit dem "Echo" ausgezeichnet worden, obwohl die beiden Rapper darauf Holocaust-Opfer verhöhnen - und sich eine spät aufmerksam gewordene Öffentlichkeit heftig erregte. Diesem Vorgang widmen sich beide neuen Bücher ausgiebig: Der Berliner Journalist Jens Balzer denkt in seinem Essay "Pop und Populismus" über "Verantwortung in der Musik" nach und fordert seine Zunft - das Feuilleton samt assoziierter Popkritik - zu genauerem Hinsehen und größerer Fachkenntnis auf. Michael Behrendt wiederum, promoviert über Rocklyrik und früherer Chefredakteur Frankfurter Stadtmagazine, zählt in "Provokation!" umstrittene Songs der letzten hundert Jahre auf, von Claire Waldoff bis Conchita Wurst. Er historisiert das Phänomen sozusagen, wenn auch in griffigen Formeln - und liefert abschließend eine Art Ratgeber im Umgang mit Popmusik, falls die zum Skandal wird wie im Fall von Kollegah und Farid Bang und dem "Echo".
Es war ein einschneidendes Ereignis in der jüngeren Geschichte der deutschen Popmusik. Am Ende wollte niemand es gewesen sein oder die Veranwortung dafür übernehmen, dass hier ein antisemitischer Rap ausgezeichnet wurde. Der "Echo", ein Preis, der nach Absatz vergeben wird und trotz "Ethikrat" und öffentlicher Beteuerungen keine Haltung erkennen lässt: Was bleibt, ist die Erinnerung an zwei feixende Rapper, die ihre Preisverleihung vor laufender Kamera als Triumph und abermalige Verhöhnung all jener inszenieren, die sich daran stießen.
"Im Pop spiegelt sich die politische Gegenwart der gesellschaftlichen Polarisierung", stellt Balzer fest. Die Skandale der letzten Zeit folgen zu genau den Konfliktlinien der Gegenwart: Populismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus. Balzer führt, als ähnlich umstrittenes Feld, aber auch die Identitätspolitik an, deren Akteure sich ja eigentlich gegen jene Zuschreibungen zur Wehr setzen, welche in Rassismus und Sexismus ihren Ausdruck finden. Was wiederum, unter dem Begriff der "kulturellen Appropriation", zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat: Wer darf wessen Lieder singen? Melodien zitieren? Stile, Muster, Farben tragen?
"Ohne die grenzenlose Zirkulation von Zeichen und die Vermischung von kulturellen Traditionen ist Pop nicht denkbar", konstatiert Balzer, der sich daher mit der Identitätspolitik nicht anfreunden will. Weil sie fixiere, was beweglich bleiben müsse. Weil im Sample, in der Umcodierung und Neusortierung vorhandener Stile und Traditionen immer neue emanzipatorische Kräfte freigesetzt würden. Weil die Identitätspolitik "kulturelle Identität" über künstlerische "Transformation" stelle: Wie im Fall der französischen Produzentin Ramzi, die Sounds unterschiedlichster Ethnien und Traditionen kompilierte - was ihr im Frühjahr dieses Jahres als "koloniale Ausbeutung" zum Vorwurf gemacht wurde. Sie zog ihre Platte zurück.
"Es gibt im Pop nichts Eigenes, was nicht konstitutiv auf ein Anderes verweist", schreibt Balzer. Weswegen ein identitätspolitischer Eingriff gegen das Zitieren und Dekontextualisieren verkenne, was die Popmusik im Kern auszeichne: Sie ist das ästhetische Labor sozialer Utopie.
Dass sich die Stilmittel dieser "Hybridität" (Balzer) wie Zitat, Kostümierung oder Rekombination aber auch vereinnahmen lassen, um das komplette Gegenteil eines sozialen Friedens zu stiften, ist die prägende Erfahrung der vergangenen Jahre. Rapper wie Bushido, Kollegah und Farid Bang können ihre sexistischen, homophoben und antisemitischen Zeilen und Auftritte zur Pose erklären und sich selbst zu Kunstfiguren sublimierter Affekte, sie können sich also hinter einer Kunstfreiheit verschanzen, die im Zweifel ja alle nur schützen wollen. Wer wollte denn wie entscheiden, ob ein antisemitischer, homophober, frauenfeindlicher "Diss" keine Rollenprosa ist?
Behrendt reagiert auf diese komplexe Lage mit der kategoriellen Unterscheidung von "Urheber-Ich" und "Song-Ich" als Ausgangspunkt aller Analyse - welche allerdings immer auch mit einkalkulieren sollte, dass Uneigentlichkeit bewusst zum Tabubruch eingesetzt werden kann. Rapper wie Kritiker haben, gerade im Fall Kollegah und Farid Bang, sich vor allem auf die Gesetze des Battle-Raps berufen, der die Eskalation widerlichster Beschimpfungen sozusagen sportlich sieht: Der Hass verbleibt symbolisch im klar eingezirkelten Format, konstituiert das Format überhaupt, reicht allerdings auch nicht über das Format in die wirkliche Welt hinaus.
Balzer hat da stärkste Zweifel. Er erkennt in der (symbolischen) Grenzüberschreitung zwar die Regeln des Business im Hiphop wieder - aber zugleich eben auch eine Strategie gegen den politisch korrekten Konsens einer auf Versöhnung angelegten bürgerlichen Gesellschaft. Und so zieht er eine Linie vom frauenverachtenden Straßenrap des frühen Bushido zu AfD, Pegida und Identitärer Bewegung von heute: "Die Aggro-Berlin-Rapper sowie später Kollegah und Farid Bang sind nützliche Idioten eines neuen reaktionären Mainstreams", schreibt Balzer: "So bildet der Gangsta-Rap in den nuller Jahren gewissermaßen ein Ghetto und ein Laboratorium der politischen Inkorrektheit von rechts; er bietet einen klar umgrenzten Freiraum, indem reaktionäre Fantasien, Haltungen und Vokabulare ausprobiert werden können."
Und so wie sich die Vertreter der Neuen Rechten zum Opfer von "Lügenpresse" und linksgrün-versiffter Propaganda stilisieren, wenn sie bei der Verbreitung revisionistischer Ungeheuerlichkeiten (Gaulands "Vogelschiss", Höckes "Denkmal der Schande") gestellt werden, so erklären sich Bushido, Kollegah und Farid Bang, aber eben auch die Aktivisten der anti-israelischen Boykottorganisation BDS ständig zu Opfern: von Missverständnissen, bösen Unterstellungen, Propaganda. Alles nicht so gemeint, alles falsch verstanden, aber dann doch wieder nachgelegt: "Dieser Zweischritt aus Aggression und Viktimisierung ähnelt ohne Frage den Strategien der deutschen Rechtspopulisten", so Balzer. Auf jeden Übertritt, welcher die Grenzen des Sagbaren und des Anstands weiter dehnt, folgt der Rückzug in die Defensive - und daraufhin schnell der nächste, noch größere Schritt über die Grenzen hinweg. So wird der Diskurs verlagert, so wird Politik gemacht.
Was hilft? Hinzuschauen. Vorbereitet zu sein. Und sich auch für solche Genres zu interessieren, die jenseits eigener Geschmacksgrenzen liegen. Was in der Popkritik - einer ganz eigenen Hölle der Distinktionsbedürfnisse - nicht allen liegt. Michael Behrendt denkt am Ende seines Kompendiums über einen "Wächterpreis der Musikpresse" nach: "Was, wenn auch die Musikpresse jenseits von ,Spex' & Co häufiger als bisher nicht nur über die tollsten, coolsten, spektakulärsten Bands und Interpreten berichten würde, sondern auch über grenzwertige Künstler, antidemokratische Subkulturen, problematische kulturelle Strömungen?" Und auch Balzer fordert: "Die Popkritik muss wach sein." Er stellt das zugleich selbst unter Beweis, indem er in seinem Buch nicht nur den kalkulierten oder ideologischen Tabubruch in der Popmusik abhandelt, sondern auch zeigt, wie sensibel und komplex sie dazu imstande ist, eine ambivalente Form für sexuelle und ethnische Selbstbestimmung zu finden.
Also trtfft in Balzers Buch der Holz-vor-der-Hütten-Sänger Gabalier, der lautstark die "Genderverseuchung" beklagt, auf genderfluide Genies wie Planningtorock oder die Sängerin Anohni, die trans ist und deren Werke sich aus permanenter Selbstbefragung und der Dekonstruktion aller Zuschreibungen speisen. Balzer stellt fest, dass sich die Vertreter der Neuen Rechten zwar politisch bei den ambivalenten Methoden der kalkulierten Mehrdeutigkeit und des Tabubruchs bedienen, wie sie für die Popmusik typisch sind: Die Szene aber bleibe trotzdem die "erste Popkultur ohne Popmusik", ohne Stars, ohne Soundtracks, ohne Konzerte. Kein Woodstock auf den Ziegenwiesen von Schnellroda: Böse Menschen haben offenbar immer noch keine Lieder.
TOBIAS RÜTHER
Jens Balzer:
"Pop und Populismus". Über Verantwortung
in der Musik.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2019. 208 S., geb., 17,- [Euro].
Michael Behrendt:
"Provokation!" Songs,
die für Zündstoff sorgten.
wbg/Theiss, Darmstadt 2019. 296 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der Popmusik sind immer schon politische und soziale Konflikte ausgehandelt worden. Derzeit geschieht das aber härter denn je. Zwei neue Bücher ergründen, warum das so ist.
Zwei Rapper bringen mit antisemitischen Textzeilen einen Musik-Preis zum Kollaps. Eine linke Punkband soll im Bauhaus Dessau auftreten und wird aus Furcht vor rechten Randalen wieder ausgeladen. Eine Südtiroler Band beschwört die Liebe zur Heimat gegen "Gutmenschen und Moralapostel". Einer kanadischen Clubmusikerin wird koloniale Herablassung vorgeworfen, weil sie eine indische Freiheitshymne als Sample benutzt. Eine Organisation ruft zum Boykott eines Berliner Popfestivals auf, weil eine Künstlerin mit staatlicher Unterstützung aus Israel anreist. Ein österreichischer Schlagerstar beklagt die "genderverseuchte Zeit". Und das sind nur Beispiele der letzten drei, vier Jahre.
Eigentlich gilt Popmusik ja als Kunstform jugendlich-sentimentaler Affekte, die sich mit zunehmendem Alter von selbst erledigen. So hartnäckig sich diese Ansicht auch hält, so war es aber noch nie. In der Popmusik wurden immer schon politische und soziale Konflikte ausgehandelt, sexuelle Selbstbestimmung, ethnische Emanzipation, Jung gegen Alt - derzeit geschieht das aber härter denn je. Und mit umgedrehten Vorzeichen. Gleich zwei neue Bücher - das eine, von Jens Balzer, ein ernster Essay, das andere, von Michael Behrendt, ein populäres Kompendium - versuchen deswegen zu ergründen, warum es so gekommen ist. Und was man aus den Skandalen der letzten Zeit lernen kann, falls es mal wieder so kracht wie zuletzt um Andreas Gabalier und Frei.Wild, die Organisation BDS und Feine Sahne Fischfilet - und um die Rapper Kollegah und Farid Bang.
Deren Album "Jung, brutal und gutaussehend 3" war im vergangenen Jahr mit dem "Echo" ausgezeichnet worden, obwohl die beiden Rapper darauf Holocaust-Opfer verhöhnen - und sich eine spät aufmerksam gewordene Öffentlichkeit heftig erregte. Diesem Vorgang widmen sich beide neuen Bücher ausgiebig: Der Berliner Journalist Jens Balzer denkt in seinem Essay "Pop und Populismus" über "Verantwortung in der Musik" nach und fordert seine Zunft - das Feuilleton samt assoziierter Popkritik - zu genauerem Hinsehen und größerer Fachkenntnis auf. Michael Behrendt wiederum, promoviert über Rocklyrik und früherer Chefredakteur Frankfurter Stadtmagazine, zählt in "Provokation!" umstrittene Songs der letzten hundert Jahre auf, von Claire Waldoff bis Conchita Wurst. Er historisiert das Phänomen sozusagen, wenn auch in griffigen Formeln - und liefert abschließend eine Art Ratgeber im Umgang mit Popmusik, falls die zum Skandal wird wie im Fall von Kollegah und Farid Bang und dem "Echo".
Es war ein einschneidendes Ereignis in der jüngeren Geschichte der deutschen Popmusik. Am Ende wollte niemand es gewesen sein oder die Veranwortung dafür übernehmen, dass hier ein antisemitischer Rap ausgezeichnet wurde. Der "Echo", ein Preis, der nach Absatz vergeben wird und trotz "Ethikrat" und öffentlicher Beteuerungen keine Haltung erkennen lässt: Was bleibt, ist die Erinnerung an zwei feixende Rapper, die ihre Preisverleihung vor laufender Kamera als Triumph und abermalige Verhöhnung all jener inszenieren, die sich daran stießen.
"Im Pop spiegelt sich die politische Gegenwart der gesellschaftlichen Polarisierung", stellt Balzer fest. Die Skandale der letzten Zeit folgen zu genau den Konfliktlinien der Gegenwart: Populismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus. Balzer führt, als ähnlich umstrittenes Feld, aber auch die Identitätspolitik an, deren Akteure sich ja eigentlich gegen jene Zuschreibungen zur Wehr setzen, welche in Rassismus und Sexismus ihren Ausdruck finden. Was wiederum, unter dem Begriff der "kulturellen Appropriation", zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat: Wer darf wessen Lieder singen? Melodien zitieren? Stile, Muster, Farben tragen?
"Ohne die grenzenlose Zirkulation von Zeichen und die Vermischung von kulturellen Traditionen ist Pop nicht denkbar", konstatiert Balzer, der sich daher mit der Identitätspolitik nicht anfreunden will. Weil sie fixiere, was beweglich bleiben müsse. Weil im Sample, in der Umcodierung und Neusortierung vorhandener Stile und Traditionen immer neue emanzipatorische Kräfte freigesetzt würden. Weil die Identitätspolitik "kulturelle Identität" über künstlerische "Transformation" stelle: Wie im Fall der französischen Produzentin Ramzi, die Sounds unterschiedlichster Ethnien und Traditionen kompilierte - was ihr im Frühjahr dieses Jahres als "koloniale Ausbeutung" zum Vorwurf gemacht wurde. Sie zog ihre Platte zurück.
"Es gibt im Pop nichts Eigenes, was nicht konstitutiv auf ein Anderes verweist", schreibt Balzer. Weswegen ein identitätspolitischer Eingriff gegen das Zitieren und Dekontextualisieren verkenne, was die Popmusik im Kern auszeichne: Sie ist das ästhetische Labor sozialer Utopie.
Dass sich die Stilmittel dieser "Hybridität" (Balzer) wie Zitat, Kostümierung oder Rekombination aber auch vereinnahmen lassen, um das komplette Gegenteil eines sozialen Friedens zu stiften, ist die prägende Erfahrung der vergangenen Jahre. Rapper wie Bushido, Kollegah und Farid Bang können ihre sexistischen, homophoben und antisemitischen Zeilen und Auftritte zur Pose erklären und sich selbst zu Kunstfiguren sublimierter Affekte, sie können sich also hinter einer Kunstfreiheit verschanzen, die im Zweifel ja alle nur schützen wollen. Wer wollte denn wie entscheiden, ob ein antisemitischer, homophober, frauenfeindlicher "Diss" keine Rollenprosa ist?
Behrendt reagiert auf diese komplexe Lage mit der kategoriellen Unterscheidung von "Urheber-Ich" und "Song-Ich" als Ausgangspunkt aller Analyse - welche allerdings immer auch mit einkalkulieren sollte, dass Uneigentlichkeit bewusst zum Tabubruch eingesetzt werden kann. Rapper wie Kritiker haben, gerade im Fall Kollegah und Farid Bang, sich vor allem auf die Gesetze des Battle-Raps berufen, der die Eskalation widerlichster Beschimpfungen sozusagen sportlich sieht: Der Hass verbleibt symbolisch im klar eingezirkelten Format, konstituiert das Format überhaupt, reicht allerdings auch nicht über das Format in die wirkliche Welt hinaus.
Balzer hat da stärkste Zweifel. Er erkennt in der (symbolischen) Grenzüberschreitung zwar die Regeln des Business im Hiphop wieder - aber zugleich eben auch eine Strategie gegen den politisch korrekten Konsens einer auf Versöhnung angelegten bürgerlichen Gesellschaft. Und so zieht er eine Linie vom frauenverachtenden Straßenrap des frühen Bushido zu AfD, Pegida und Identitärer Bewegung von heute: "Die Aggro-Berlin-Rapper sowie später Kollegah und Farid Bang sind nützliche Idioten eines neuen reaktionären Mainstreams", schreibt Balzer: "So bildet der Gangsta-Rap in den nuller Jahren gewissermaßen ein Ghetto und ein Laboratorium der politischen Inkorrektheit von rechts; er bietet einen klar umgrenzten Freiraum, indem reaktionäre Fantasien, Haltungen und Vokabulare ausprobiert werden können."
Und so wie sich die Vertreter der Neuen Rechten zum Opfer von "Lügenpresse" und linksgrün-versiffter Propaganda stilisieren, wenn sie bei der Verbreitung revisionistischer Ungeheuerlichkeiten (Gaulands "Vogelschiss", Höckes "Denkmal der Schande") gestellt werden, so erklären sich Bushido, Kollegah und Farid Bang, aber eben auch die Aktivisten der anti-israelischen Boykottorganisation BDS ständig zu Opfern: von Missverständnissen, bösen Unterstellungen, Propaganda. Alles nicht so gemeint, alles falsch verstanden, aber dann doch wieder nachgelegt: "Dieser Zweischritt aus Aggression und Viktimisierung ähnelt ohne Frage den Strategien der deutschen Rechtspopulisten", so Balzer. Auf jeden Übertritt, welcher die Grenzen des Sagbaren und des Anstands weiter dehnt, folgt der Rückzug in die Defensive - und daraufhin schnell der nächste, noch größere Schritt über die Grenzen hinweg. So wird der Diskurs verlagert, so wird Politik gemacht.
Was hilft? Hinzuschauen. Vorbereitet zu sein. Und sich auch für solche Genres zu interessieren, die jenseits eigener Geschmacksgrenzen liegen. Was in der Popkritik - einer ganz eigenen Hölle der Distinktionsbedürfnisse - nicht allen liegt. Michael Behrendt denkt am Ende seines Kompendiums über einen "Wächterpreis der Musikpresse" nach: "Was, wenn auch die Musikpresse jenseits von ,Spex' & Co häufiger als bisher nicht nur über die tollsten, coolsten, spektakulärsten Bands und Interpreten berichten würde, sondern auch über grenzwertige Künstler, antidemokratische Subkulturen, problematische kulturelle Strömungen?" Und auch Balzer fordert: "Die Popkritik muss wach sein." Er stellt das zugleich selbst unter Beweis, indem er in seinem Buch nicht nur den kalkulierten oder ideologischen Tabubruch in der Popmusik abhandelt, sondern auch zeigt, wie sensibel und komplex sie dazu imstande ist, eine ambivalente Form für sexuelle und ethnische Selbstbestimmung zu finden.
Also trtfft in Balzers Buch der Holz-vor-der-Hütten-Sänger Gabalier, der lautstark die "Genderverseuchung" beklagt, auf genderfluide Genies wie Planningtorock oder die Sängerin Anohni, die trans ist und deren Werke sich aus permanenter Selbstbefragung und der Dekonstruktion aller Zuschreibungen speisen. Balzer stellt fest, dass sich die Vertreter der Neuen Rechten zwar politisch bei den ambivalenten Methoden der kalkulierten Mehrdeutigkeit und des Tabubruchs bedienen, wie sie für die Popmusik typisch sind: Die Szene aber bleibe trotzdem die "erste Popkultur ohne Popmusik", ohne Stars, ohne Soundtracks, ohne Konzerte. Kein Woodstock auf den Ziegenwiesen von Schnellroda: Böse Menschen haben offenbar immer noch keine Lieder.
TOBIAS RÜTHER
Jens Balzer:
"Pop und Populismus". Über Verantwortung
in der Musik.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2019. 208 S., geb., 17,- [Euro].
Michael Behrendt:
"Provokation!" Songs,
die für Zündstoff sorgten.
wbg/Theiss, Darmstadt 2019. 296 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Michael Behrendt hat mit seinem Sachbuch "Provokation!" ein zugleich informatives wie herrlich unterhaltsames Werk geschaffen, das uns zum Plattenspieler oder zu Spotify greifen lässt.« Frizz »Es ist ein historischer Überblick, dessen Reiz besonders darin liegt, dass er so brandaktuell ist« Flensburger Tageblatt, Der Nordschleswiger »Dieses Buch ist ein wunderbarer Schmöker für Musikfreunde« Münchner Merkur »Dem ehemaligen Journalisten gelingt es, in lockerem Stil Sprach- und Gesellschaftskritik aufzuschlüssen, Hintergrundwissen zu vermitteln und ganz viel Lust, die versammelten Songs wiederzuhören, zu erwecken.« Film Sound Media »Unbedingt lesen, dabei die Lieder abspielen und genau hinhören.« Chrismon Plus Rheinland »Ein gut recherchierter, hochinteressanter »Hurricane« der Musikgeschichte.« Bezirksblätter