"Jede Zeile von Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk." - Elias Canettis Schriften über Franz Kafka
"Er ist", notiert Elias Canetti 1947, "der Einzige, der mir wirklich nahe geht". Und schreibt später, nur kurz vor seinem Tod: "Ich habe ihn geliebt". Die Rede ist von Franz Kafka. Die hier zusammengeführten Schriften - bereits publizierte sowie erstmals zugänglich gemachte Materialien aus dem Nachlass - erlauben es, Canettis Äußerungen zu Kafka in den Prozess seiner Selbstvergewisserung als Schriftsteller einzuordnen. Die an Kafka verhandelten Kernthemen erweisen sich immer wieder als seine ureigensten. Erstmals zeigt und deutet dieses Buch die Bindung Canettis an diese Zentralgestalt der Moderne.
"Er ist", notiert Elias Canetti 1947, "der Einzige, der mir wirklich nahe geht". Und schreibt später, nur kurz vor seinem Tod: "Ich habe ihn geliebt". Die Rede ist von Franz Kafka. Die hier zusammengeführten Schriften - bereits publizierte sowie erstmals zugänglich gemachte Materialien aus dem Nachlass - erlauben es, Canettis Äußerungen zu Kafka in den Prozess seiner Selbstvergewisserung als Schriftsteller einzuordnen. Die an Kafka verhandelten Kernthemen erweisen sich immer wieder als seine ureigensten. Erstmals zeigt und deutet dieses Buch die Bindung Canettis an diese Zentralgestalt der Moderne.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2019Ein Meister des Zweifelns und ein Riese an Kleinheit
Wie man sich unbescheiden unterwürfig zeigt: Elias Canettis lebenslanges Nachdenken über Franz Kafka, den "Hund seiner Zeit"
"Ich möchte in Kafka verschwinden, in seinen Sätzen verharren, keine anderen mehr hören, büßen und verstummen." Kniefälle wie dieser sind nicht selten in den jetzt überwiegend erstpublizierten Aufzeichnungen über Franz Kafka aus Elias Canettis Nachlass. Wie ist diese "unaufhörliche Selbsterniedrigung vor Kafka", die Canetti einerseits häufig formuliert, andererseits aber enerviert zurückweist, zu erklären? Zumal von einem, den Bescheidenheit und Selbstzurücknahme nicht unbedingt auszeichnen? Als ihm 1981 der Nobelpreis verliehen wurde, trat er diese Auszeichnung in seiner Dankesrede symbolisch an Broch, Kafka und Musil ab. Als Abtretender behielt er in dieser rhetorischen Generosität jedoch die Oberhand und bezeichnete sich selbstkritisch als "Bescheidenheitsspieler".
Mit Bescheidenheit hat Canettis Kafka-Verehrung offenbar wenig zu tun. Besessenheit ist viel eher der Eindruck nach Lektüre der jetzt vorliegenden Aufzeichnungen aus den Jahren 1946 bis 1994, der hundertseitigen Studie "Der andere Prozeß - Kafkas Briefe an Felice" (1968), des aus dem Englischen übersetzten Essays "Proust - Kafka - Joyce" (1948) sowie der kurzen Rede "Hebel und Kafka" (1980). Merkwürdig, dass hier die Kafka-Preisrede von 1981 fehlt, die als Typoskript von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur verwahrt wird. Auch sie beginnt mit der Verbeugung, niemand verdiene eine Auszeichnung in diesem übergroßen Namen, und sie enthält das Bekenntnis, dass Canetti über 51 Jahre hinweg Kafka aufgenommen habe, "wie man sein eigenes Leben aufnimmt". Diese Bemerkung über die engste eigene Beziehung, den ständigen Abgleich bis hin zur Identifikation, bestätigt der Band. Die Mitherausgeberin Susanne Lüdemann bedient sich in ihrem klugen Vorwort dazu Harold Blooms Begriff der "Einfluss-Angst", also jener Ambivalenz zwischen Gefolgschaft und notwendiger Abgrenzung. Tatsächlich ist in den Aufzeichnungen nicht immer eindeutig zu entscheiden, ob mit "er" Kafka oder Canetti gemeint ist.
Canettis Meisterschaft der knappsten Charakterisierung bewährt sich auch im vorliegenden Fall. Joyce, Proust und Kafka bringt er auf die Formel "Welt der Worte, der Empfindungen und des Zweifels". Joyce repräsentiert wortreich die Gegenwart eines einzigen Tages in Dublin, Proust begibt sich durch sieben Bände auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einen nie endenden Empfindungs- und Erinnerungsstrom, und Kafka verlängert den Zweifel an sich und der Welt in Pläne über zukünftige Ereignisse. Canetti spricht vom "Prozess des Zweifelns". Konkret auf die legendäre Verlobung mit und die Entlobung von Felice Bauer (das "Gericht" im Askanischen Hof in Berlin) bezogen, leitet er einen Prozess des Werbens, Annäherns, Forderns, Versprechens, Distanzierens, Demütigens, Zurückweisens, Verurteilens aus der siebenhundertfünfzigseitigen Korrespondenz ab.
Selten ist ein Briefwechsel mit vergleichbarer Akribie, detektivischer Kombinatorik und kühner Anwendung auf das literarische Werk analysiert worden. Canetti traut sich da etwas, das unter Literaturwissenschaftlern verpönt ist: Er betrachtet die Prosatexte "Die Verwandlung", "Das Urteil" und "Der Prozeß" als Spiegelungen des Verhältnisses von Franz und Felice, Verhaftung und Verlobung gehen wie Verurteilung und Verstoßung Hand in Hand. Mehr noch: Canetti setzt sich zu dieser Verschränkung von Biographie und Dichtung noch selbst in Beziehung, nicht zuletzt durch Überblendungen seines aktuell erfüllenden Liebesverhältnisses zu Hera Buschor (H. B.) mit Kafkas Felice Bauer (F. B.). Kafka hingegen, den Asketen und Vegetarier, lässt er sich selbst als "der magerste Mensch, den ich kenne", charakterisieren. Ganz im Gegensatz zu sich selbst - "verachtest du mein Gewicht, meine Wollust, meinen Bauch?" - ist so ein "Nicht-Körper" à la Peter Kien aus der "Blendung" zur Liebe und zum Leben eigentlich gar nicht fähig.
Damit gewinnt der Titel dieser Textsammlung an Bedeutung: Canetti revidiert hier erstens den biographischen Prozess über Felice und Kafka, in dem der Angeklagte mit Grete Bloch um den Richterposten ringt. Er verbindet ihn zweitens mit dem literarischen Prozess über Josef K. - wobei in der "Einschrumpfung" zum Initial K. natürlich auch "Kafka, ein Riese an Kleinheit", steckt. Darüber legt er drittens den poetischen Prozess von Kafkas und seinem eigenen Schreiben. "Bedenke die Prozesse, nichts sonst", heißt es in einer Aufzeichnung, denn von "den Gebilden", also den Werken, "führt kein Weg zurück zu den Prozessen". Nicht nur "Das Urteil" entsteht parallel zu den Krisenbriefen in einer einzigen Nacht. Canetti, der dem Hund und dem Maulwurf bei Kafka nachspürt, prägt im Broch-Essay das Wort vom Dichter als dem fein witternden "Hund seiner Zeit".
Der Sinn für das Kleinste, das Geringste, verbindet Canetti mit Kafka wie mit Büchner oder Johann Peter Hebel. Über Letzteren heißt es in Canettis Rede, dass man im "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" nie das Gefühl habe, "dass es ein Geringstes gibt". Nachdem Canetti 1936 Ludwig Hardt daraus lesen hörte, zeigte ihm der Rezitator Kafkas Exemplar des "Schatzkästleins" mit einer Widmung an ihn, "um Hebel eine Freude zu machen". Diese Schätzung des Kleinsten machte Kafka wie Hebel für Canetti unsterblich. Was aber den erbittertsten Kämpfer gegen den Tod bewegte, wenn er ans Sterben dachte, war die schreckliche "Vorstellung, dass ich mich von Kafka trennen soll".
ALEXANDER KOSENINA
Elias Canetti: "Prozesse". Über Franz Kafka.
Hrsg. von Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger. Hanser Verlag, München 2019. 381 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man sich unbescheiden unterwürfig zeigt: Elias Canettis lebenslanges Nachdenken über Franz Kafka, den "Hund seiner Zeit"
"Ich möchte in Kafka verschwinden, in seinen Sätzen verharren, keine anderen mehr hören, büßen und verstummen." Kniefälle wie dieser sind nicht selten in den jetzt überwiegend erstpublizierten Aufzeichnungen über Franz Kafka aus Elias Canettis Nachlass. Wie ist diese "unaufhörliche Selbsterniedrigung vor Kafka", die Canetti einerseits häufig formuliert, andererseits aber enerviert zurückweist, zu erklären? Zumal von einem, den Bescheidenheit und Selbstzurücknahme nicht unbedingt auszeichnen? Als ihm 1981 der Nobelpreis verliehen wurde, trat er diese Auszeichnung in seiner Dankesrede symbolisch an Broch, Kafka und Musil ab. Als Abtretender behielt er in dieser rhetorischen Generosität jedoch die Oberhand und bezeichnete sich selbstkritisch als "Bescheidenheitsspieler".
Mit Bescheidenheit hat Canettis Kafka-Verehrung offenbar wenig zu tun. Besessenheit ist viel eher der Eindruck nach Lektüre der jetzt vorliegenden Aufzeichnungen aus den Jahren 1946 bis 1994, der hundertseitigen Studie "Der andere Prozeß - Kafkas Briefe an Felice" (1968), des aus dem Englischen übersetzten Essays "Proust - Kafka - Joyce" (1948) sowie der kurzen Rede "Hebel und Kafka" (1980). Merkwürdig, dass hier die Kafka-Preisrede von 1981 fehlt, die als Typoskript von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur verwahrt wird. Auch sie beginnt mit der Verbeugung, niemand verdiene eine Auszeichnung in diesem übergroßen Namen, und sie enthält das Bekenntnis, dass Canetti über 51 Jahre hinweg Kafka aufgenommen habe, "wie man sein eigenes Leben aufnimmt". Diese Bemerkung über die engste eigene Beziehung, den ständigen Abgleich bis hin zur Identifikation, bestätigt der Band. Die Mitherausgeberin Susanne Lüdemann bedient sich in ihrem klugen Vorwort dazu Harold Blooms Begriff der "Einfluss-Angst", also jener Ambivalenz zwischen Gefolgschaft und notwendiger Abgrenzung. Tatsächlich ist in den Aufzeichnungen nicht immer eindeutig zu entscheiden, ob mit "er" Kafka oder Canetti gemeint ist.
Canettis Meisterschaft der knappsten Charakterisierung bewährt sich auch im vorliegenden Fall. Joyce, Proust und Kafka bringt er auf die Formel "Welt der Worte, der Empfindungen und des Zweifels". Joyce repräsentiert wortreich die Gegenwart eines einzigen Tages in Dublin, Proust begibt sich durch sieben Bände auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einen nie endenden Empfindungs- und Erinnerungsstrom, und Kafka verlängert den Zweifel an sich und der Welt in Pläne über zukünftige Ereignisse. Canetti spricht vom "Prozess des Zweifelns". Konkret auf die legendäre Verlobung mit und die Entlobung von Felice Bauer (das "Gericht" im Askanischen Hof in Berlin) bezogen, leitet er einen Prozess des Werbens, Annäherns, Forderns, Versprechens, Distanzierens, Demütigens, Zurückweisens, Verurteilens aus der siebenhundertfünfzigseitigen Korrespondenz ab.
Selten ist ein Briefwechsel mit vergleichbarer Akribie, detektivischer Kombinatorik und kühner Anwendung auf das literarische Werk analysiert worden. Canetti traut sich da etwas, das unter Literaturwissenschaftlern verpönt ist: Er betrachtet die Prosatexte "Die Verwandlung", "Das Urteil" und "Der Prozeß" als Spiegelungen des Verhältnisses von Franz und Felice, Verhaftung und Verlobung gehen wie Verurteilung und Verstoßung Hand in Hand. Mehr noch: Canetti setzt sich zu dieser Verschränkung von Biographie und Dichtung noch selbst in Beziehung, nicht zuletzt durch Überblendungen seines aktuell erfüllenden Liebesverhältnisses zu Hera Buschor (H. B.) mit Kafkas Felice Bauer (F. B.). Kafka hingegen, den Asketen und Vegetarier, lässt er sich selbst als "der magerste Mensch, den ich kenne", charakterisieren. Ganz im Gegensatz zu sich selbst - "verachtest du mein Gewicht, meine Wollust, meinen Bauch?" - ist so ein "Nicht-Körper" à la Peter Kien aus der "Blendung" zur Liebe und zum Leben eigentlich gar nicht fähig.
Damit gewinnt der Titel dieser Textsammlung an Bedeutung: Canetti revidiert hier erstens den biographischen Prozess über Felice und Kafka, in dem der Angeklagte mit Grete Bloch um den Richterposten ringt. Er verbindet ihn zweitens mit dem literarischen Prozess über Josef K. - wobei in der "Einschrumpfung" zum Initial K. natürlich auch "Kafka, ein Riese an Kleinheit", steckt. Darüber legt er drittens den poetischen Prozess von Kafkas und seinem eigenen Schreiben. "Bedenke die Prozesse, nichts sonst", heißt es in einer Aufzeichnung, denn von "den Gebilden", also den Werken, "führt kein Weg zurück zu den Prozessen". Nicht nur "Das Urteil" entsteht parallel zu den Krisenbriefen in einer einzigen Nacht. Canetti, der dem Hund und dem Maulwurf bei Kafka nachspürt, prägt im Broch-Essay das Wort vom Dichter als dem fein witternden "Hund seiner Zeit".
Der Sinn für das Kleinste, das Geringste, verbindet Canetti mit Kafka wie mit Büchner oder Johann Peter Hebel. Über Letzteren heißt es in Canettis Rede, dass man im "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" nie das Gefühl habe, "dass es ein Geringstes gibt". Nachdem Canetti 1936 Ludwig Hardt daraus lesen hörte, zeigte ihm der Rezitator Kafkas Exemplar des "Schatzkästleins" mit einer Widmung an ihn, "um Hebel eine Freude zu machen". Diese Schätzung des Kleinsten machte Kafka wie Hebel für Canetti unsterblich. Was aber den erbittertsten Kämpfer gegen den Tod bewegte, wenn er ans Sterben dachte, war die schreckliche "Vorstellung, dass ich mich von Kafka trennen soll".
ALEXANDER KOSENINA
Elias Canetti: "Prozesse". Über Franz Kafka.
Hrsg. von Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger. Hanser Verlag, München 2019. 381 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Im Zentrum von Canettis Arbeit an Kafka steht sein großer Essay 'Der andere Prozess' ... Dieser funkelnde, rund hundertseitige Text bildet denn auch den Kern der verdienstvollen Edition 'Prozesse'." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, 18.08.19
"Wie man sich unbescheiden unterwürfig zeigt: Elias Canettis lebenslanges Nachdenken über Franz Kafka ... Selten ist ein Briefwechsel mit vergleichbarer Akribie, detektivischer Kombinatorik und kühner Anwendung auf das literarische Werk analysiert worden." Elmar Schenkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.19
"In seiner Beobachtungsgabe und Detailversessenheit ist Canettis Kafka ein literarisches Juwel. Der charakterlichen Abgründe Canettis wird man auch hier gewahr. Der Band 'Prozesse' aber führt eine Versessenheit vor, die an Originalität und Klarheit kaum zu überbieten ist." Harry Nutt, Frankfurter Rundschau, 07.11.19
"Wie man sich unbescheiden unterwürfig zeigt: Elias Canettis lebenslanges Nachdenken über Franz Kafka ... Selten ist ein Briefwechsel mit vergleichbarer Akribie, detektivischer Kombinatorik und kühner Anwendung auf das literarische Werk analysiert worden." Elmar Schenkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.19
"In seiner Beobachtungsgabe und Detailversessenheit ist Canettis Kafka ein literarisches Juwel. Der charakterlichen Abgründe Canettis wird man auch hier gewahr. Der Band 'Prozesse' aber führt eine Versessenheit vor, die an Originalität und Klarheit kaum zu überbieten ist." Harry Nutt, Frankfurter Rundschau, 07.11.19