Zum Werk"Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand". Diese Binsenweisheit ist weit verbreitet. Mit analytischen Methoden lassen sich Erfolgsaussichten vor Gericht aber besser vorherbestimmen. Diese Neuerscheinung stellt die Prozessrisikoanalyse als juristische Technik vor und zeigt praktisch auf, wie Rechtsanwälte und Unternehmensjuristen diese Methode zur Bezifferung von Prozessrisiken einsetzen können. Die Darstellung vermittelt Schritt für Schritt, wie aus einem juristischen Sachverhalt ein Entscheidungsbaum entsteht, der dann den Ausgangspunkt für die Berechnung der Prozesschancen und eine abschließende Handlungsempfehlung bildet. Anhand zahlreicher Praxisbeispiele wird der breite Anwendungsbereich dieser Technik verdeutlicht. Wer diese Arbeitstechnik als Anwalt oder Unternehmensjurist anwenden will, bekommt Hinweise auf die Vorteile, aber auch auf die Gefahren, die mit der Prozessrisikoanalyse einhergehen können. Ebenfalls aufgezeigt werden die Möglichkeiten einerIT-gestützten Prozessrisikoanalyse. Eine Fallstudie rundet die Darstellung ab.Inhalt- Iudex non calculat?- Beispielsfall "Das undichte Flachdach"- Psychologische Faktoren trüben die Beurteilungskompetenz- Der Entscheidungsbaum: Struktur als Lösungsansatz- Praktische Durchführung der Prozessrisikoanalyse- Hilfe von Computerprogrammen?Vorteile auf einen Blick- verbessert die Kommunikation mit dem Mandanten- hilft dabei, Haftungsrisiken zu vermeiden- mit zahlreichen Fallbeispielen und FallstudienZielgruppeFür Rechtsanwälte und Unternehmensjuristen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2018In Prozesse investieren
Kluge Juristen überzeugen mit Mathematik
Zunehmend mehr Unternehmer verlangen von ihren Juristen sogenannte Prozessrisikoanalysen, die realistische Risikoabschätzungen ermöglichen. Das kostet zwar Geld, ist aber eine vernünftige Investition, um Unternehmen davor zu bewahren, falsche - da intuitive - Entscheidungen für oder gegen das Führen langwieriger und teurer Prozesse zu treffen. Nun liegt erstmals ein Lehrbuch zur Prozessrisikoanalyse in deutscher Sprache vor, und es ist vortrefflich gelungen. In klarer Sprache führen Jörg Risse, einer der bekanntesten Prozessanwälte Deutschlands, und Matthias Morawietz, der als Jurist bei einem Dax-Konzern wirkt, in die neue Materie ein. "Es ist eine leidige Erfahrung vieler Anwälte und Unternehmensjuristen, dass die Erörterung eines anstehenden Prozesses oft in eine unstrukturierte Diskussion einmündet, gerade wenn eine Vielzahl projektbeteiligter Personen mit unterschiedlichen fachlichen Kompetenzen am Besprechungstisch sitzt", schreiben die Autoren. Jeder Teilnehmer versuche dann, seine Anwesenheit durch einen mehr oder weniger wichtigen Redebeitrag zu rechtfertigen. "Ja, aber"-Argumentationsmuster prägten solche Besprechungen: "Der Beitrag des Vorredners wird nur scheinbar durch ein kurzes ,Ja' bestätigt, um dann über die Brücke des ,aber' gleich zum eigenen Argument zu kommen - auch wenn dieses auf einer ganz anderen fachlichen Ebene liegen mag. Der Jurist kontert das technische Argument des Ingenieurs, das er gar nicht verstanden hat, mit dem Einwand: Ja, aber man muss zusätzlich die Verjährung bedenken. Ein Gespräch kommt nicht zustande, eine echte Klärung wird nicht erreicht."
Die Prozessrisikoanalyse ist eine Methode, die solche Gespräche strukturieren lässt. Dabei wird Komplexität nicht reduziert, sondern organisiert. Dies gelingt mittels eines Entscheidungsbaums, der sich auf jedem Flipchart abbilden lässt. In einer Besprechung können dann Schritt für Schritt die einzelnen Risiken abgearbeitet werden: Wird über einen juristischen Knotenpunkt diskutiert, verspüren die anwesenden Kaufleute und Ingenieure keinen Äußerungsdruck. Sie konzentrieren sich darauf, die Sichtweise des Juristen zu verstehen.
Umgekehrt werden sich die Juristen zurückhalten, wenn das Vorliegen eines technischen Mangels erörtert wird. Am Ende steht eine klar nachvollziehbare Handlungsempfehlung. "Verwendet der Jurist diese Entscheidungsbäume für seine Darstellung, wechselt er zu der Sprachform der Manager", schreiben Risse und Morawietz: "Sieht der Betriebswirt einen Entscheidungsbaum, fühlt er sich zuhause." Das habe drei positive Konsequenzen: Der Aufmerksamkeitsgrad des Zuhörers werde erhöht, der Jurist als Gesprächspartner akzeptiert, und das Gesamtverständnis für den Konflikt wachse. "Werden die Entscheidungsknoten dann mit Eintrittswahrscheinlichkeiten versehen und Erwartungswerte errechnet, ist man endgültig in der Zahlenwelt des Managements oder der Wirtschaftsprüfer angekommen."
Mit der Prozessrisikoanalyse können Juristen auch zeigen, dass es bei Prozessen nicht nur um Kosten, sondern auch um Investitionen mit einer klaren Renditeerwartung geht. Denn der Konflikt ist nun einmal da - ob erwünscht oder nicht -, und er hat einen bezifferbaren Geldwert. Risse und Morawietz nennen ein Beispiel: "Ein Unternehmen möchte für die Errichtung eines Offshore-Windparks Mehrkostenansprüche von 100 Millionen Euro über den vereinbarten Pauschalfestpreis hinaus gegen den Windparkbetreiber geltend machen. Kommt die Prozessrisikoanalyse zu dem Ergebnis, dass diese Forderung einen Erwartungswert von 53,5 Millionen Euro hat, ist dies der erwartete Ertrag. Um den Erwartungswert zu heben, müssen 5 Millionen Euro an Anwaltskosten und Schiedsgerichtsgebühren investiert werden. Die Investition von 5 Millionen Euro verspricht also eine gut zehnfache Rendite." Diese Investition zu unterlassen sei unternehmerisch nicht zu rechtfertigen.
Die Prozessrisikoanalyse ermögliche einen Perspektivwechsel, weg vom "Kostenfokus" hin zum Investitionsdenken. Freilich sind solche Analysen nicht für alle Fälle geeignet. Nichtmonetäre Aspekte können schlecht abgebildet werden. So mag ein Unternehmer den emotionalen Stress befürchten, der mit einem jahrelangen Prozess einhergeht. Auch kann es einen Imageverlust bedeuten, wenn man als Unternehmen im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozess in den Medien auftaucht. Umgekehrt wird der Markenhersteller auch einen aussichtslosen Prozess um eine Marke führen wollen, um den Wettbewerbern seine grundsätzliche Kampfbereitschaft zu demonstrieren. All diese Faktoren können in einem Entscheidungsbaum nicht auftauchen, obwohl sie die Entscheidung über das weitere Vorgehen beeinflussen.
Trotzdem stellt das Werk einen nützlichen Denkansatz vor, der insbesondere für Unternehmensjuristen hilfreich ist. Darüber hinaus ermöglicht eine Reihe von Fallstudien die eigene Übung. Das Buch kommt zur rechten Zeit, da im Zuge von "Legal Tech" und "Big Data" diskutiert wird, ob und wie auch die juristische Fallbearbeitung in digitalisierte Abläufe gepresst und von Logarithmen unterstützt oder gar übernommen werden kann. Auch mit der Prozessrisikoanalyse lassen sich juristische Entscheidungsprozesse modellieren. Ob das am Ende eine gute Entwicklung ist, ist allerdings eine ganz andere - auch ethisch relevante - Frage. Obwohl die neue Technik eine Art Heirat zwischen Juristerei und Mathematik ist, werden dem Leser keinerlei stochastische Vorkenntnisse abverlangt. Alles wird ganz einfach und in grafischer Aufbereitung erklärt, also in einer Form, die auch Juristen wählen sollten, wenn sie in Sitzungen auf Betriebswirte oder Techniker treffen. Und zu Beginn des Buches räumen die Autoren anhand praktischer Beispiele auch mit populären Denk-Irrtümern auf.
JOCHEN ZENTHÖFER
Jörg Risse / Matthias Morawietz: Prozessrisikoanalyse - Erfolgsaussichten vor Gericht bestimmen. C.H. Beck/Manz/Helbing Lichtenhahn, München 2017. 237 Seiten. 45 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kluge Juristen überzeugen mit Mathematik
Zunehmend mehr Unternehmer verlangen von ihren Juristen sogenannte Prozessrisikoanalysen, die realistische Risikoabschätzungen ermöglichen. Das kostet zwar Geld, ist aber eine vernünftige Investition, um Unternehmen davor zu bewahren, falsche - da intuitive - Entscheidungen für oder gegen das Führen langwieriger und teurer Prozesse zu treffen. Nun liegt erstmals ein Lehrbuch zur Prozessrisikoanalyse in deutscher Sprache vor, und es ist vortrefflich gelungen. In klarer Sprache führen Jörg Risse, einer der bekanntesten Prozessanwälte Deutschlands, und Matthias Morawietz, der als Jurist bei einem Dax-Konzern wirkt, in die neue Materie ein. "Es ist eine leidige Erfahrung vieler Anwälte und Unternehmensjuristen, dass die Erörterung eines anstehenden Prozesses oft in eine unstrukturierte Diskussion einmündet, gerade wenn eine Vielzahl projektbeteiligter Personen mit unterschiedlichen fachlichen Kompetenzen am Besprechungstisch sitzt", schreiben die Autoren. Jeder Teilnehmer versuche dann, seine Anwesenheit durch einen mehr oder weniger wichtigen Redebeitrag zu rechtfertigen. "Ja, aber"-Argumentationsmuster prägten solche Besprechungen: "Der Beitrag des Vorredners wird nur scheinbar durch ein kurzes ,Ja' bestätigt, um dann über die Brücke des ,aber' gleich zum eigenen Argument zu kommen - auch wenn dieses auf einer ganz anderen fachlichen Ebene liegen mag. Der Jurist kontert das technische Argument des Ingenieurs, das er gar nicht verstanden hat, mit dem Einwand: Ja, aber man muss zusätzlich die Verjährung bedenken. Ein Gespräch kommt nicht zustande, eine echte Klärung wird nicht erreicht."
Die Prozessrisikoanalyse ist eine Methode, die solche Gespräche strukturieren lässt. Dabei wird Komplexität nicht reduziert, sondern organisiert. Dies gelingt mittels eines Entscheidungsbaums, der sich auf jedem Flipchart abbilden lässt. In einer Besprechung können dann Schritt für Schritt die einzelnen Risiken abgearbeitet werden: Wird über einen juristischen Knotenpunkt diskutiert, verspüren die anwesenden Kaufleute und Ingenieure keinen Äußerungsdruck. Sie konzentrieren sich darauf, die Sichtweise des Juristen zu verstehen.
Umgekehrt werden sich die Juristen zurückhalten, wenn das Vorliegen eines technischen Mangels erörtert wird. Am Ende steht eine klar nachvollziehbare Handlungsempfehlung. "Verwendet der Jurist diese Entscheidungsbäume für seine Darstellung, wechselt er zu der Sprachform der Manager", schreiben Risse und Morawietz: "Sieht der Betriebswirt einen Entscheidungsbaum, fühlt er sich zuhause." Das habe drei positive Konsequenzen: Der Aufmerksamkeitsgrad des Zuhörers werde erhöht, der Jurist als Gesprächspartner akzeptiert, und das Gesamtverständnis für den Konflikt wachse. "Werden die Entscheidungsknoten dann mit Eintrittswahrscheinlichkeiten versehen und Erwartungswerte errechnet, ist man endgültig in der Zahlenwelt des Managements oder der Wirtschaftsprüfer angekommen."
Mit der Prozessrisikoanalyse können Juristen auch zeigen, dass es bei Prozessen nicht nur um Kosten, sondern auch um Investitionen mit einer klaren Renditeerwartung geht. Denn der Konflikt ist nun einmal da - ob erwünscht oder nicht -, und er hat einen bezifferbaren Geldwert. Risse und Morawietz nennen ein Beispiel: "Ein Unternehmen möchte für die Errichtung eines Offshore-Windparks Mehrkostenansprüche von 100 Millionen Euro über den vereinbarten Pauschalfestpreis hinaus gegen den Windparkbetreiber geltend machen. Kommt die Prozessrisikoanalyse zu dem Ergebnis, dass diese Forderung einen Erwartungswert von 53,5 Millionen Euro hat, ist dies der erwartete Ertrag. Um den Erwartungswert zu heben, müssen 5 Millionen Euro an Anwaltskosten und Schiedsgerichtsgebühren investiert werden. Die Investition von 5 Millionen Euro verspricht also eine gut zehnfache Rendite." Diese Investition zu unterlassen sei unternehmerisch nicht zu rechtfertigen.
Die Prozessrisikoanalyse ermögliche einen Perspektivwechsel, weg vom "Kostenfokus" hin zum Investitionsdenken. Freilich sind solche Analysen nicht für alle Fälle geeignet. Nichtmonetäre Aspekte können schlecht abgebildet werden. So mag ein Unternehmer den emotionalen Stress befürchten, der mit einem jahrelangen Prozess einhergeht. Auch kann es einen Imageverlust bedeuten, wenn man als Unternehmen im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozess in den Medien auftaucht. Umgekehrt wird der Markenhersteller auch einen aussichtslosen Prozess um eine Marke führen wollen, um den Wettbewerbern seine grundsätzliche Kampfbereitschaft zu demonstrieren. All diese Faktoren können in einem Entscheidungsbaum nicht auftauchen, obwohl sie die Entscheidung über das weitere Vorgehen beeinflussen.
Trotzdem stellt das Werk einen nützlichen Denkansatz vor, der insbesondere für Unternehmensjuristen hilfreich ist. Darüber hinaus ermöglicht eine Reihe von Fallstudien die eigene Übung. Das Buch kommt zur rechten Zeit, da im Zuge von "Legal Tech" und "Big Data" diskutiert wird, ob und wie auch die juristische Fallbearbeitung in digitalisierte Abläufe gepresst und von Logarithmen unterstützt oder gar übernommen werden kann. Auch mit der Prozessrisikoanalyse lassen sich juristische Entscheidungsprozesse modellieren. Ob das am Ende eine gute Entwicklung ist, ist allerdings eine ganz andere - auch ethisch relevante - Frage. Obwohl die neue Technik eine Art Heirat zwischen Juristerei und Mathematik ist, werden dem Leser keinerlei stochastische Vorkenntnisse abverlangt. Alles wird ganz einfach und in grafischer Aufbereitung erklärt, also in einer Form, die auch Juristen wählen sollten, wenn sie in Sitzungen auf Betriebswirte oder Techniker treffen. Und zu Beginn des Buches räumen die Autoren anhand praktischer Beispiele auch mit populären Denk-Irrtümern auf.
JOCHEN ZENTHÖFER
Jörg Risse / Matthias Morawietz: Prozessrisikoanalyse - Erfolgsaussichten vor Gericht bestimmen. C.H. Beck/Manz/Helbing Lichtenhahn, München 2017. 237 Seiten. 45 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main