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Zum ersten Mal befaßt sich ein Buch mit den Vorgängen in den psychiatrischen Anstalten in Bayern in der Zeit von 1933 bis 1945. Es sind die Beschäftigten in den ehemaligen "Heil- und Pflegeanstalten" selbst, die durch intensive Archivarbeit die Vergangenheit dieser Institutionen aufarbeiten. Sie machen der Öffentlichkeit eine Fülle neuen Quellenmaterials zugänglich, das den ganzen Schrecken der Psychiatrie im Nationalsozialismus dokumentiert.

Produktbeschreibung
Zum ersten Mal befaßt sich ein Buch mit den Vorgängen in den psychiatrischen Anstalten in Bayern in der Zeit von 1933 bis 1945. Es sind die Beschäftigten in den ehemaligen "Heil- und Pflegeanstalten" selbst, die durch intensive Archivarbeit die Vergangenheit dieser Institutionen aufarbeiten. Sie machen der Öffentlichkeit eine Fülle neuen Quellenmaterials zugänglich, das den ganzen Schrecken der Psychiatrie im Nationalsozialismus dokumentiert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.1999

Der zeitkranke Arzt
Ein bedeutsamer Band über Psychiatrie im Nationalsozialismus

Michael von Cranach, Hans-Ludwig Siemen (Herausgeber): Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945. R. Oldenbourg Verlag, München 1999. 508 Seiten, 78,- Mark.

"Zur Geschichte der deutschen Psychiatrie gehören grundlegende Errungenschaften, etwa in der allgemeinen und klinischen Psychopathologie, die bis heute Weltgeltung besitzen, aber auch schreckliche Irrwege und Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus." Diese Polarisierung stellt Henning Saß, amtierender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) dem Katalog zur Ausstellung "In memoriam" voran, die Anfang August im Rahmen des XI. Weltkongresses für Psychiatrie - dem ersten auf deutschem Boden - in Hamburg gezeigt wurde.

Michael von Cranach, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, war Initiator der Ausstellung, die die nationalsozialistische Vergangenheit der Klinik thematisiert. Gemeinsam mit dem Erlangener Diplompsychologen Hans-Ludwig Siemen ist ihm zudem die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Historie der Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zu verdanken. Das Werk ist Ernst Lossar gewidmet, der als Vierzehnjähriger nach 28 Monaten Aufenthalt in der - pervertierend - Heil- und Pflegeanstalt genannten Institution in Kaufbeuren mit einer Spritze getötet worden ist. Eine "Dokumentation wider das Vergessen" nennt von Cranach das akribische und in diesem Umfang in Deutschland bisher einzigartige Werk. 19 Autoren, zumeist Ärzte und allesamt Mitarbeiter der bayerischen Bezirkskrankenhäuser, belegen nicht nur detailliert, in welcher Vielfalt die 13 Anstalten in die Vernichtungspolitik gegen psychisch kranke Menschen verstrickt worden waren, sondern zeigen auch, wie verzweifelt und hilflos Betroffene und Angehörige reagiert haben.

Die Quellenlage wird nicht selten als problematisch beschrieben. So sind in der heutigen Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Schloß Werneck wesentliche Quellenmaterialien verloren gegangen oder "nicht auffindbar". Aus Karthaus-Prüll/Regensburg wird berichtet, dass die gesamten Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Regensburg gegen den 1945 seines Amtes enthobenen Anstaltsdirektor "auf dubiose Weise" verschwunden seien.

Unzweifelhafte Fakten: Von 1939-1945 sind in Deutschland unter dem euphemistischen Etikett "Euthanasie" 200 000 Menschen ermordet worden, weil sie psychisch krank oder geistig behindert waren. Im gleichen Zeitraum starben 44 Prozent aller Psychiatriepatienten in Bayern. Mindestens 7686 davon wurden in Tötungsanstalten außerhalb Bayerns verfrachtet und vergast. Weitere 15 284 psychisch Kranke und geistig Behinderte gingen an den elenden Lebensbedingungen, an systematischem Nahrungsmittelentzug und an Todesspritzen zugrunde.

Ein kurzes Kapitel beschäftigt sich mit Menschenversuchen, insbesondere Tuberkulose-Impfungen an Kindern in Kaufbeuren, aber auch mit Impfungen von Multiple-Sklerose-Liquor "von Idioten und unheilbaren Geisteskranken" in Werneck. Unterlagen über diese Experimente konnten in Werneck nicht gefunden werden; im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren existieren Dokumente aus dem Nachlass eines früheren ärztlichen Mitarbeiters des Krankenhauses, aus denen klar hervorgeht, dass in Kaufbeuren Menschenversuche durchgeführt worden sind.

Von erdrückender atmosphärischer Dichte ist ein 1946 erstmals unter dem Titel "Der zeitkranke Arzt in Deutschland - Selbstgespräch eines Anstaltsarztes um 1943-1944" erschienener Beitrag. "Ich gehe durch einen Krankensaal. Es herrscht Totenstille. Bett steht an Bett - blutleere, ausgemergelte Gesichter mit übergroßen Augen, die oft müde geschlossen sind, liegen in den Kissen, willen- und teilnahmslos. Dazwischen geht ein Arzt. Was sucht er hier?"

Ein von Ulrich Pötzel gefertigtes Porträt des Kaufbeurer Anstaltsdirektors Valentin Faltlhauser, der als einer der Hauptaktivisten der Mordaktion an den deutschen Psychiatriepatienten gilt, zeichnet auf vorbildliche Weise die individuellen, institutionellen und gesellschaftlich-politischen Bedingungsstrukturen eines psychiatrischen Täters im Nationalsozialismus auf. Exemplarisch werden nicht nur therapeutische Ambivalenzen, der Widerspruch zwischen Heilen und Vernichten aufgezeigt, sondern auch, dass nicht "Mordbestien" die Hauptstützen der Lebensvernichtung im Nationalsozialismus waren, sondern gut angepasste, fortschrittlich ambitionierte und fachlich qualifizierte Ärzte.

1999, sechs Jahrzehnte nach Beginn der "Aktion T4", benannt nach dem Sitz der Organisation in der Berliner Tiergartenstraße 4, durch die alle Anstaltsinsassen Deutschlands mit Meldebögen erfasst und die Errichtung der Tötungsmaschinerie in 6 Anstalten koordiniert wurde, resümiert Hans-Ludwig Siemen in einer "Bilanz des Grauens", dass in bayerischen Anstalten nicht viele Menschen direkt - durch Spritzen - getötet worden seien. Die meisten Patienten seien entweder der Aktion T4 (Vergasung in speziellen Tötungsanstalten) zum Opfer gefallen oder an den elenden Verhältnissen in den Anstalten oder dem bewusst herbeigeführten Hungertod gestorben. Nur wenige Menschen hätten sich in bayerischen Anstalten in strafrechtlicher Hinsicht des Mordes schuldig gemacht. Da bleibe die Frage nach den anderen. Erschüttert und ratlos, so die Herausgeber, hätten sie auf die von ihnen aufgedeckte Unmenschlichkeit und Brutalität reagiert und sich die Frage gestellt, ob ein Mensch noch einem Arzt vertrauen könne. Ihre Dokumentation werten sie als Beitrag zu der von ihnen angestrebten Zäsur und als einen Schritt auf dem Weg, Vertrauen neu zu begründen.

Fazit: Die Autoren werden ihrem selbst gewählten Anspruch gerecht durch die Offenheit der Auseinandersetzung mit einer immer noch tabuisierten Geschichte. Sie leisten damit Wesentliches zum Entstehen einer überfälligen Gesamtdarstellung der Psychiatriegeschichte im Nationalsozialismus. Zum ersten Mal sind für eine ganze Region die Geschehnisse in den psychiatrischen Anstalten während der Jahre 1933-1945 nachgezeichnet worden, wissenschaftlich begründet und gleichermaßen emotional verfasst. Im Anhang befinden sich die Krankengeschichte von Ernst Lossa sowie Zahlen über alle Transportbewegungen aus und zwischen den bayerischen Anstalten. Die Übersichtlichkeit der Register und Quellen wird unnötig getrübt durch die verwirrende Voranstellung der Vornamen im umfangreichen Literaturverzeichnis.

MANFRED GASPAR

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