Seit es urbane Räume gibt, haben Städte eine eigene Identität. Jedes einzelne Gebäude, jede Straße, jedes Viertel, jede Litfaßsäule und jeder monumentale Prachtbau hat eine eigene Geschichte, die es zu erzählen gilt, wenn wir begreifen wollen, wie uns die Welt um uns herum beeinflusst. Dies ist besonders wichtig, wenn Städte sich so rasant verändern, wie es derzeit der Fall ist. Dann müssen die alten Fragen, wem die Stadt gehört und wer sie gestaltet, neue Ausdrucksformen finden. Von Paris nach London und über Umwege nach Berlin: Diese von Anneke Lubkowitz herausgegebene Anthologie versammelt wichtige und überwiegend erstmals auf Deutsch publizierte Grundlagentexte zur Auseinandersetzung mit einer hierzulande bisher kaum bekannten Tradition der Stadterkundung. Die erstmals 1956 von Guy Debord beschriebene Psychogeografie ist eine Methode des Gehens und der Stadterkundung, in der man sich treiben lässt, sich der Umgebung aussetzt, sie beobachtet und darüber objektive Erkenntnisse zu gewinnen versucht. Die Gefühle, die dabei ausgelöst werden, unterscheiden sich von denen des Flaneurs oder des dandyhaften Schlenderers: Sie dienen dem »Aufspüren« einer städteplanerischen Absicht, die etwa den Zugang zu manchen Bezirken erschwert und bestimmte gesellschaftliche Gruppen voneinander abgrenzt. Das Gehen der Psychogeografen bringt somit die verborgenen Logiken einer Stadt zum Vorschein.Mit Beiträgen von Garnette Cadogan, Guy Debord, Aminatta Forna, Grashina Gabelmann, Anja Kümmel, Henri Lefebvre, Fabian Saul, Paul Scraton, Will Self, Iain Sinclair, David Wagner und Frank Witzel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2020Man kann sich dem Mittelstreifen auch spielerisch nähern
Von der Wirkung der Stadträume auf ihre Benutzer: Eine Anthologie versammelt Erkundungen urbaner Landschaften im Zeichen der Psychogeographie
Im Jahr 1957 nahm Guy Debord, Cheftheoretiker der gerade formierten "Situationistischen Internationale", einen alten Pariser Stadtplan, zerschnipselte ihn und setze dann einige der Schnipsel, halbwegs nach ihrer ursprünglichen Lage, auf einen weißen Grund. Zwischen sie, in die reichlich entstandenen Lücken, plazierte er rote Pfeile verschiedener Stärke und Zahl. Die entstandene neue Karte, tatsächlich im Format eines faltbaren Stadtplans in kleiner Auflage gedruckt, bekam den Titel "Psychogeographischer Paris-Führer" (Guide psychogéographique de Paris).
Den Terminus "Psychogeographie" hatte Debord schon einige Jahre zuvor in Umlauf gebracht. Jetzt gab es dazu eine sinnfällige Illustration: Die Pfeile waren so etwas wie Gradienten eines komplizierten urbanen Potentialfelds, das auf die Stadtbenutzer wirkt: Dicke Pfeile standen für leicht gemachte, entsprechend oft gewählte Übergänge zwischen den ausgewählten Mikro-Stadtteilen, kümmerliche Pfeile für weit weniger attraktive Verbindungswege. Oder in Debords Worten: Sie ließen ein "psychogeographisches Bodenprofil" erkennen, "mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen".
Mit einem Verweis auf diesen "Guide" beginnt Anneke Lubkowitz das Vorwort der von ihr herausgegebenen Anthologie psychogeographischer Texte. Oder vorsichtiger formuliert: von Texten - jene aus dem Kreis der Situationisten, die naturgemäß den Anfang machen, beiseitegesetzt -, deren Autoren sich auf Debord beziehen, oder von der Herausgeberin als Varianten psychogeographischer Exploration vorgestellt werden.
Die bis in die Gegenwart reichende und von Paris über London und New York stolz nach Berlin führende Auswahl ist reizvoll, gerade weil sie nicht auf der Hand liegt. Denn die "situationistische Theorie der Psycheogeographie", Lubkowitz hält das auch fest, war alles andere als ein halbwegs klar umrissenes Konzept. Wie sich die Momente der individuellen, durch die Technik des zweckfreien "Umherschweifens" (dérive) von alltäglichen Routinen der Stadtbenutzung befreiten Erfahrung zu den kollektiv geltenden "genauen Gesetzen und exakten Wirkungen" der Stadträume addieren sollten, welche eine "psychogeographische Gliederung" der Stadt zu kartieren gestatten - mehr als Andeutungen, die sich nicht so leicht unter einen Hut bringen lassen, gibt es dazu bei Debord nicht.
Das Spielerische des Situationismus schlägt sich in diesem "Theorie"-Entwürfen nieder, deren Beschwörung von Exaktheit wohl mehr mit der Distanznahme von den surrealistischen Stadt- und Selbsterkundungen zu tun hat als mit verwirklichter Methodenstrenge bei der Arbeit an der Subversion stadtplanerischer Gewalttaten (deren schlimmste damals Paris sogar noch bevorstanden).
Weshalb die langfristige Wirkung von Debords einschlägigen Texten doch vor allem die eines einprägsamen Wortes ist, das viele Spielräume lässt, es mit Bedeutung, literarischen Strategien und - durchaus auf situationistischer Linie - Spielereien zu verknüpfen. Selbst jene Autorinnen und Autoren der vorliegenden Anthologie, die sich auch als Psychogeographen verstehen - wie Iain Sinclair, Will Self und Laura Oldfield Ford -, zerbrechen sich nicht den Kopf darüber, wie an Debords skizzierte Experimentalanordnungen anzuknüpfen sei, sondern orientieren sich vielmehr frei an deren subversiv-spielerischen Charakter, um Stadterkundungen ganz verschiedener Art zu entwerfen.
Noch breiter wird das Spektrum, blättert man weiter zu Garnette Cadogan und Aminatta Forna, die sich konkreten Machtverhältnissen bei der Benutzung des Stadtraums widmen, zwischen Weißen und Schwarzen, Männern und Frauen. Und ist man schließlich über die Stationen London und New York in Berlin angekommen, würde einem die Psychogeographie als gemeinsamer Bezugspunkt oft gar nicht in den Sinn kommen, wären die Beiträge hier nicht unter diesem Titel versammelt. Obwohl einem Guy Debord zum Schluss dann doch wieder begegnet, etwa im dadaistisch verspielten "Manifest für eine neue Kultur des Gehens" des englischen Künstlerkollektivs "Wrights & Sites" oder in Fabian Sauls Variationen über die "Stadt als Friedhof". Während Kevin Braddocks "Alternative Nutzungsmöglichkeiten für den Mittelstreifen der Kantstraße" (mit Bildbeigaben) einen Schuss Ulkerei beifügen.
Zeiten der Pandemie sind zwar keine für ausgedehnte urbane Wanderungen, selbst wenn die geleerten Städte eigentlich dazu einladen. Aber man kann sich ja schon einmal lesend einstimmen auf die Zeit danach, auf das wieder erwachende Treiben entlang der "Ströme, festen Punkte und Strudel".
HELMUT MAYER.
Anneke Lubkowitz (Hg.): "Psychogeografie". Eine Anthologie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 239 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Wirkung der Stadträume auf ihre Benutzer: Eine Anthologie versammelt Erkundungen urbaner Landschaften im Zeichen der Psychogeographie
Im Jahr 1957 nahm Guy Debord, Cheftheoretiker der gerade formierten "Situationistischen Internationale", einen alten Pariser Stadtplan, zerschnipselte ihn und setze dann einige der Schnipsel, halbwegs nach ihrer ursprünglichen Lage, auf einen weißen Grund. Zwischen sie, in die reichlich entstandenen Lücken, plazierte er rote Pfeile verschiedener Stärke und Zahl. Die entstandene neue Karte, tatsächlich im Format eines faltbaren Stadtplans in kleiner Auflage gedruckt, bekam den Titel "Psychogeographischer Paris-Führer" (Guide psychogéographique de Paris).
Den Terminus "Psychogeographie" hatte Debord schon einige Jahre zuvor in Umlauf gebracht. Jetzt gab es dazu eine sinnfällige Illustration: Die Pfeile waren so etwas wie Gradienten eines komplizierten urbanen Potentialfelds, das auf die Stadtbenutzer wirkt: Dicke Pfeile standen für leicht gemachte, entsprechend oft gewählte Übergänge zwischen den ausgewählten Mikro-Stadtteilen, kümmerliche Pfeile für weit weniger attraktive Verbindungswege. Oder in Debords Worten: Sie ließen ein "psychogeographisches Bodenprofil" erkennen, "mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen".
Mit einem Verweis auf diesen "Guide" beginnt Anneke Lubkowitz das Vorwort der von ihr herausgegebenen Anthologie psychogeographischer Texte. Oder vorsichtiger formuliert: von Texten - jene aus dem Kreis der Situationisten, die naturgemäß den Anfang machen, beiseitegesetzt -, deren Autoren sich auf Debord beziehen, oder von der Herausgeberin als Varianten psychogeographischer Exploration vorgestellt werden.
Die bis in die Gegenwart reichende und von Paris über London und New York stolz nach Berlin führende Auswahl ist reizvoll, gerade weil sie nicht auf der Hand liegt. Denn die "situationistische Theorie der Psycheogeographie", Lubkowitz hält das auch fest, war alles andere als ein halbwegs klar umrissenes Konzept. Wie sich die Momente der individuellen, durch die Technik des zweckfreien "Umherschweifens" (dérive) von alltäglichen Routinen der Stadtbenutzung befreiten Erfahrung zu den kollektiv geltenden "genauen Gesetzen und exakten Wirkungen" der Stadträume addieren sollten, welche eine "psychogeographische Gliederung" der Stadt zu kartieren gestatten - mehr als Andeutungen, die sich nicht so leicht unter einen Hut bringen lassen, gibt es dazu bei Debord nicht.
Das Spielerische des Situationismus schlägt sich in diesem "Theorie"-Entwürfen nieder, deren Beschwörung von Exaktheit wohl mehr mit der Distanznahme von den surrealistischen Stadt- und Selbsterkundungen zu tun hat als mit verwirklichter Methodenstrenge bei der Arbeit an der Subversion stadtplanerischer Gewalttaten (deren schlimmste damals Paris sogar noch bevorstanden).
Weshalb die langfristige Wirkung von Debords einschlägigen Texten doch vor allem die eines einprägsamen Wortes ist, das viele Spielräume lässt, es mit Bedeutung, literarischen Strategien und - durchaus auf situationistischer Linie - Spielereien zu verknüpfen. Selbst jene Autorinnen und Autoren der vorliegenden Anthologie, die sich auch als Psychogeographen verstehen - wie Iain Sinclair, Will Self und Laura Oldfield Ford -, zerbrechen sich nicht den Kopf darüber, wie an Debords skizzierte Experimentalanordnungen anzuknüpfen sei, sondern orientieren sich vielmehr frei an deren subversiv-spielerischen Charakter, um Stadterkundungen ganz verschiedener Art zu entwerfen.
Noch breiter wird das Spektrum, blättert man weiter zu Garnette Cadogan und Aminatta Forna, die sich konkreten Machtverhältnissen bei der Benutzung des Stadtraums widmen, zwischen Weißen und Schwarzen, Männern und Frauen. Und ist man schließlich über die Stationen London und New York in Berlin angekommen, würde einem die Psychogeographie als gemeinsamer Bezugspunkt oft gar nicht in den Sinn kommen, wären die Beiträge hier nicht unter diesem Titel versammelt. Obwohl einem Guy Debord zum Schluss dann doch wieder begegnet, etwa im dadaistisch verspielten "Manifest für eine neue Kultur des Gehens" des englischen Künstlerkollektivs "Wrights & Sites" oder in Fabian Sauls Variationen über die "Stadt als Friedhof". Während Kevin Braddocks "Alternative Nutzungsmöglichkeiten für den Mittelstreifen der Kantstraße" (mit Bildbeigaben) einen Schuss Ulkerei beifügen.
Zeiten der Pandemie sind zwar keine für ausgedehnte urbane Wanderungen, selbst wenn die geleerten Städte eigentlich dazu einladen. Aber man kann sich ja schon einmal lesend einstimmen auf die Zeit danach, auf das wieder erwachende Treiben entlang der "Ströme, festen Punkte und Strudel".
HELMUT MAYER.
Anneke Lubkowitz (Hg.): "Psychogeografie". Eine Anthologie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 239 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
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