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Pulcinella - Giovanni Domenico Tiepolo - Giorgio Agamben: ein Dreigestirn, das neugierig macht. Doch der Reihe nach. Pulcinella ist der neapolitanischen Commedia dell'arte entsprungen und eine in ganz Italien populäre Figur mit schwarzer Maske, Buckel und einem schillernden bis abgründigen Charakter. Giandomenico Tiepolo (1727-1804), Sohn und Gehilfe des großen Giambattista Tiepolo, entdeckte Pulcinella im Alter als Motiv für sich. Sein Landhaus im Veneto malte er mit Fresken aus, die alle von Pulcinella handeln (heute im Ca' Rezzonico, Venedig, zu besichtigen), und auch auf vielen seiner…mehr

Produktbeschreibung
Pulcinella - Giovanni Domenico Tiepolo - Giorgio Agamben: ein Dreigestirn, das neugierig macht. Doch der Reihe nach. Pulcinella ist der neapolitanischen Commedia dell'arte entsprungen und eine in ganz Italien populäre Figur mit schwarzer Maske, Buckel und einem schillernden bis abgründigen Charakter. Giandomenico Tiepolo (1727-1804), Sohn und Gehilfe des großen Giambattista Tiepolo, entdeckte Pulcinella im Alter als Motiv für sich. Sein Landhaus im Veneto malte er mit Fresken aus, die alle von Pulcinella handeln (heute im Ca' Rezzonico, Venedig, zu besichtigen), und auch auf vielen seiner späten Gemälde und Zeichnungen treibt Pulcinella sein kurzweiliges Unwesen. Belustigung für Kinder nannte er ein Album mit 104 Pulcinella-Zeichnungen, die wiederum den italienischen Philosophen Giorgio Agamben (geb. 1942) zu einer Art geistigem Testament inspiriert haben - zu klugen, tiefsinnigen und launigen Gedanken über Tragödie und Komödie, über unser menschliches Tun, wenn das eigene wie das Ende einer noch fassbaren Welt naht, und vieles andere mehr.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2019

Er ist die Maske, unter der es kein Gesicht gibt

Von einer tanzenden Hand auf die Bühne geworfen: Giorgio Agamben über die Figur des Pulcinella und die Werke, die Tiepolo ihr widmete.

Er führt das Leben eines Menschen, obwohl er kein Mensch ist. Er lebt im Diesseits, im Jenseits und dazwischen. Er isst, entleert sich, tanzt, spielt, heiratet, übt verschiedene Berufe aus, wird vor Gericht gestellt, verurteilt, erschossen, aufgeknüpft, stirbt an Altersschwäche. Und lebt weiter. Scheinbar nachdenklich, in der Pose eines Philosophen, steht sein Körper vor dem Grabmal, in dem sein Körper liegt. Er denkt, aber er denkt nicht nach. Er ist kein Philosoph. Er ist nur eine Idee. Eine Idee, die Gnocchi vertilgt und wieder ausscheidet. Eine Idee, die uriniert. Ganz so, wie das Leben selbst nur eine Idee ist, unabweisbar, aber ungreifbar, real und unverwirklicht zugleich. Sein Name: Pulcinella. Seine Bestimmung: Pulcinella zu sein.

"Pulcinella oder Belustigung für Kinder" ist das jüngste Buch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben. Sein Gegenstand: die 104 Zeichnungen, die der venezianische Maler Giandomenico Tiepolo, Sohn des ungleich berühmteren Giambattista Tiepolo, am Ende seines Lebens unter dem Titel "Pulcinella oder Belustigung für Kinder" zusammenfasste, sowie die Fresken, mit denen er seine Villa in Zianigo bei Venedig ausschmückte, während die einstmals so stolze und mächtige Republik ihrem Untergang entgegensah. Tiepolo überlebte sie um sieben Jahre. Er starb 1804.

Agamben, Jahrgang 1942, betrachtet die intensive Beschäftigung Tiepolos mit Pulcinella, der rätselhaften Dienerfigur der Commedia dell'arte, als Reaktion auf den Untergang der Republik Venedig, die nahezu kampflos an Napoleon übergeben wurde, wie auch als Altersreflexion des Künstlers, der zeitlebens im Schatten seines Vaters gestanden hatte. Während Giambattista Tiepolo in den zweiundzwanzig Zeichnungen, zwei Stichen und zwei Ölgemälden, die er dem Motiv widmete, Pulcinella fast durchgehend als missgestaltete Karikatur darstellte, als tölpelhaften Vielfraß mit aufgedunsenem Bauch und Buckel, zeigt der Sohn dasselbe Motiv als Teil einer Alltagsszenerie mit zuweilen bukolischen Zügen, die sich zu einer Art Biographie zu runden scheint: Pulcinella wird geboren (er schlüpft aus einem Putenei), verlobt sich, heiratet, arbeitet, erlebt Abenteuer, vergnügt sich, stirbt. Der Pulcinella des Vaters ist klein, grotesk, schmutzig, der des Sohnes zwar nach wie vor mit einem Buckel, der hohen, in einen Kegelstumpf auslaufenden Kappe und der charakteristischen schwarzen Halbmaske versehen, aber großgewachsen, schlank und aufrecht.

Dieser Pulcinella bewegt sich auf den 104 Blättern des "Divertimento" wie auf einer Bühne, auf die ihn "eine tanzende Hand" geworfen hat. Im Stil barocker Fresken zeichnet Giandomenico ihn in Untersicht vor Wolkenhimmel auf einer Schaukel, als Porträtmaler im Atelier, als Beute eines lüsternen Satyrs und als Delinquenten mit verbundenen Augen vor einem Hinrichtungskommando, eine Zeichnung, die in Komposition und Details bemerkenswerte Parallelen zu Goyas "Erschießung der Aufständischen" aufweist, die allerdings erst zehn Jahre später entstanden sein dürfte.

Agamben konfrontiert sich und sein philosophisches Denken in diesem ausnehmend schön gestalteten und ungeheuer gedankenreichen Buch mit der abgründigen Figur des Pulcinella, indem er ein Zwiegespräch zwischen Maler und Modell imaginiert, das von vielfältigen Reflexionen und Exkursen unterbrochen wird. Der Begriff des Komischen, das Verhältnis von Tragödie und Komödie, die bei Aristoteles so wichtige Differenz von Handlung und Charakter, das Wesen der Maske, die Kunst des Schauspiels, das Mysterium des freien Willens, das Politische jenseits des Politischen und vieles andere wird an der Figur des Pulcinella verhandelt, der auf die Probe gestellt und darüber seiner Natur gemäß zum Prüfstein wird.

Er wird mit Aristoteles, Kant und Schopenhauer befragt, aus christologischer Perspektive betrachtet, mit Nietzsche gedreht und gegen Benedetto Croce und Leibniz gewendet. Pulcinella ist kein Charakter, kein Typ und kein Individuum, sondern eine "Sammlung von Personen". Er ist die Marionette, die nicht nach Kleists paradiesischer Grazie strebt, sondern nach einer "höheren Unbeholfenheit", obwohl es nicht in seinem Wesen liegt, überhaupt nach etwas zu streben. Er ist nicht das Was einer Handlung, sondern das Wie. Er ist die "Idee, zu der das Ding fehlt", die Maske, unter der es kein Gesicht gibt.

Pulcinella ist wie jeder komische Held unschuldig, denn er ist "unlösbar an einen Charakter gebunden". Er muss seinen Spaß machen, mit einer Art mechanischer Notwendigkeit, die selbst schon etwas Komisches an sich hat. Im Unterschied zum tragischen Helden, der anders hätte handeln können und einen Irrtum begeht, unterläuft dem komischen Helden nur eine Verfehlung - mit der er identisch ist: "Der Komiker ist nicht nur die Unmöglichkeit zu sprechen, und als solche in der Sprache dargestellt, sondern auch die Unmöglichkeit, etwa zu tun, dargestellt in einer Geste".

Redend drückt Pulcinella seine Unfähigkeit zu handeln aus, handelnd bezeugt er die Unmöglichkeit zu handeln. Pulcinella, so könnte man folgern, ist eine Beckett-Figur mit Ursprüngen im römischen Theater der Antike, schriftlich erwähnt seit dem dreizehnten Jahrhundert, populär im Italien des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ausgewandert als Hanswurst, Punch und Mester Jockel in viele Länder Europas. Pulcinellas unvergängliches Geheimnis, ausgedrückt in den Worten seines philosophischen Impresarios Giorgio Agamben: "dass es in der Komödie des Lebens kein Geheimnis gibt, sondern nur in jedem Augenblick einen Ausweg".

HUBERT SPIEGEL

Giorgio Agamben: "Pulcinella oder Belustigung für Kinder".

Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Schirmer/Mosel Verlag, München 2018. 152 S., Abb., 39,80 [Euro].

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