Alexander Puschkin: Kein anderer Schriftsteller ist in Rußland so bekannt, so beliebt, wird so oft zitiert. Er gilt als Begründer der modernen russischen Literatur. Schon während seiner Schulzeit wird er von den großen alten Dichtern als »Hoffnung unseres Schrifttums« (W. Shukowski) gepriesen, mit zwanzig ist er berühmt und gefürchtet wegen seiner freiheitlichen Verse. Seine Lyrik und Prosa machten ihn zum bahnbrechenden Entwickler der russischen Literatur und haben bis heute von ihrer Wirkung nichts eingebüßt.
Rolf-Dietrich Keil, einer der besten Puschkin-Kenner und Vorsitzender der Deutschen Puschkin-Gesellschaft, beschreibt das Leben dieses Genies. Er erzählt vom Menschen Puschkin, von seinen Leidenschaften, seinen Leiden, von den ängsten und Schwächen dieses größten russischen Dichters - und von der) Machenschaften am Hof des Zaren.
»Nach den dichterischen Genien meiner Liebe und Wahl befragt, und sollten es nur sechs sein, nur vier, würde ich Puschkins Namen nie vergessen. Ganz halte ich es mit Tolstoj, der schrieb: 'Erweisen Sie mir die Freundschaft - lesen Sie noch einmal alle Erzählungen Belkins. jeder Schriftsteller muß sie studieren und immer wieder studieren. Ich habe es in diesen Tagen getan und kann Ihnen den wohltatigen Einfluß gar nicht schildern, den diese Lektüre auf mich ausgeübt hat.' - Wohltätig, das ist das richtige Wort. Es umfaßt Maß und Gefühl, die dieses großen Apollinikers Teil waren ein Maß der Fülle und ein Glück, das die Verklärung reichen und tiefen Schmerzes ist. Eine lebensgesegnete Vollkommenheit ist das Ergebnis, aus der die ganze nachfolgende russische Dichtung sich nährt. Puschkin, der slawische Lateiner, war volksecht und europäisch wie Goethe, wie Mozart. « Thomas Mann 1937 zum 100. Todestag Puschkins
»Man soll nicht zufrieden mit mir sein, sondern mich hochschätzen und bewundern: Darum heiße ich Schiller. «
Rolf-Dietrich Keil, einer der besten Puschkin-Kenner und Vorsitzender der Deutschen Puschkin-Gesellschaft, beschreibt das Leben dieses Genies. Er erzählt vom Menschen Puschkin, von seinen Leidenschaften, seinen Leiden, von den ängsten und Schwächen dieses größten russischen Dichters - und von der) Machenschaften am Hof des Zaren.
»Nach den dichterischen Genien meiner Liebe und Wahl befragt, und sollten es nur sechs sein, nur vier, würde ich Puschkins Namen nie vergessen. Ganz halte ich es mit Tolstoj, der schrieb: 'Erweisen Sie mir die Freundschaft - lesen Sie noch einmal alle Erzählungen Belkins. jeder Schriftsteller muß sie studieren und immer wieder studieren. Ich habe es in diesen Tagen getan und kann Ihnen den wohltatigen Einfluß gar nicht schildern, den diese Lektüre auf mich ausgeübt hat.' - Wohltätig, das ist das richtige Wort. Es umfaßt Maß und Gefühl, die dieses großen Apollinikers Teil waren ein Maß der Fülle und ein Glück, das die Verklärung reichen und tiefen Schmerzes ist. Eine lebensgesegnete Vollkommenheit ist das Ergebnis, aus der die ganze nachfolgende russische Dichtung sich nährt. Puschkin, der slawische Lateiner, war volksecht und europäisch wie Goethe, wie Mozart. « Thomas Mann 1937 zum 100. Todestag Puschkins
»Man soll nicht zufrieden mit mir sein, sondern mich hochschätzen und bewundern: Darum heiße ich Schiller. «
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.1999Puschkin-Verpflanzung
Die Gedichte und eine Biographie · Von Thomas Rosenlöcher
Bis heute sollen in Moskau die Pärchen nicht ausgestorben sein, die auf der Parkbank einander ihre Liebe in Versen erklären. Ein Verhältnis zur Poesie, das altmodisch erscheinen mag, wo Modernität vor allem Beziehungslosigkeit meint. Zur oft bestaunten Puschkin-Begeisterung der Russen trägt das Biographische bei. Durch sein exemplarisches Leben ist er für sie der Dichter schlechthin. "Mein erster Dichter war Puschkin - und mein erster Dichter wurde getötet", sagt Marina Zwetajewa in ihrem Aufsatz "Mein Puschkin". Schon das "Mein" spricht Bände.
In meiner Ausgabe von 1968 steckt bis heute das Lesezeichen verräterisch weit vorn. Freilich, "An Tschaadajew" - wer hätte nicht, tief im Osten, mit diesen aufrührerischen Versen etwas anzufangen gewusst? Wieso aber sollten am Schluss des Gedichts "auf des Thrones morschen Trümmern" ausgerechnet die Namen Puschkin und Tschaadajew stehen? Was heute imponiert, befremdete mich damals. Das hatte noch kein Freiheitskämpfer zugegeben, dass er vor allem deshalb Freiheitskämpfer war, um berühmt zu werden.
Befremdlich auch der pathetische Ton, hier wie in anderen Puschkin-Gedichten. Ob nun in der Ode "Die Freiheit" (die Anlass zu Puschkins Verbannung war) oder in "An das Meer" - überall diese Großbegriffe wie "Leidenschaft" oder "Schicksalswalten". Nicht einmal der berühmte, "Gift ins Herz" träufelnde "Dämon", der "nicht an Freiheit" glauben will (und mittlerweile als Ironiker in Feuilleton und Fernsehen auftritt), fand Gnade vor meinen Augen.
So wie mir Schiller bis heute fremd ist, wenn er die "Freude" im Allgemeinen bedichtet: Folge einer frühen Kränkung durch übermäßige Johannes-R.-Becher-Lektüre. Wobei der Schiller im Puschkin durch Übertragungsverluste auch noch in Richtung Freiligrath tendierte. Wenig ist zu spüren von jenem Spracherneuerer, dem Gogol, schon zu Lebzeiten, den ganzen "Reichtum, die Kraft und die Geschmeidigkeit unserer Sprache" nachsagte. Geschweige denn die gerühmte mozartsche Leichtigkeit und Tiefe. Schon Varnhagen hat vor der Lektüre Puschkins auf Deutsch gewarnt. Selbst der Herausgeber der neuen Gedichtausgabe meint, dass ein "geistiges Wunder" nötig wäre, um Puschkin jetzt noch in einen "fremden Boden" zu "verpflanzen".
Allerdings, ein mittleres Wunder ist es doch, dass eine neue Gedichtausgabe vorliegt - und zwar mit fast sechhundert von einem einzigen Übersetzer teils zum ersten Mal übertragenen Gedichten. Dabei kann oder will die Neuausgabe das Sonntagsdeutsch nicht umgehen: Wörter und Wendungen, die ältere Duden als "dichterisch" ausweisen und die es gerade deshalb kaum sind; auch Reime wie "Glut / Blut", "Nahn / Empfahn", "Trachten / schmachten".
Nun hat zwar Puschkin der damaligen Literatursprache französische Eleganz und Alltagsrussisch beigebracht, sich aber auch oft traditioneller Formeln bedient, die sich offenbar schlecht ins Deutsche transportieren lassen. Sollte man sich nicht deshalb eher für den Erneuerer entscheiden? Puschkins damalige Neuheit behutsam ins Heute transformieren? Durch vorsichtige Verschlankung, diskretere Reimabfolgen? Muss "O Schmach!" gesagt werden, selbst wenn im Original dergleichen steht? Doch halt: nicht die übliche Übersetzerschelte. Der Übersetzer ist immer der Verlierer. Ein eigener Versuch mittels Rohübersetzung klang auch nicht neu. Nach vielfachen "O Mensch"- und schlimmeren Rufen sind wir hier nur noch bedingt pathosfähig - und die unumgänglichen, längst gehabten Reimabfolgen deshalb besonders abgenutzt, weil selbst die Expressionisten, bei aller Sprachzertrümmerung, auf vorväterweise fortgereimt haben, während es bei den Russen eine Reimerneuerung gab.
Nun zeigt aber ein Vergleich mit den bisherigen - teils aus den sechziger Jahren stammenden, teils älteren - Übersetzungen, dass ihnen die neuen Nachdichtungen Michael Engelhards überlegen sind: gerade was Bündigkeit und Leichtigkeit betrifft. Engelhard muss also nicht zurückgenommen werden. Wodurch der Rezensent mit einer solchen Vielfalt von Tonhöhen, Formen und Gegenständen konfrontiert wird, dass er sich in der Lage eines Mannes befindet, der Goethes Gedichte zum ersten Mal liest, um sich über Goethe ein Urteil zu bilden.
"Aus einem Brief an Wiegel", "An die Fürstin M. A. Golizyna", "An . . ." : Schon in den Überschriften ein irritierendes Namensgestöber. Die Geburt des Gedichts aus der Epistel. Das Ich definiert sich geradezu durch ein im damaligen Literatur-, Freundschafts- und Erotikbetrieb zu umwerbendes oder zu attackierendes Du, und selbst in der Abkehr werden die "Freunde" angerufen. (Wogegen im heutigen Textrauschen ein eingelöstes Ich schon Seltenheitswert hat.) Mehr noch als bei Goethe gehen Lebens- und literarischer Text stilisiert ineinander über, ergeben gemeinsam erst das Gesamtkunstwerk Puschkin. So ist es hier also ratsam, die Gedichte mit der Biographie auf den Knien zu lesen, bis sich Puschkin-Begeisterung einstellt.
Was für ein Bündel an Vitalität dieser Mann gewesen sein muss! Wie domestiziert dagegen heutige Dichter sind! Allerdings: selbst bei Puschkin stand der Lebenstext dem aufzuschreibenden häufig im Weg, und so gesehen kann man Puschkins Verbannung durch Alexander I. auch als eine Literatur fördernde Maßnahme betrachten. "Alle Zeit, die ihm hier neben den substantiellen Gesprächen blieb", so der Herausgeber und Biograph, "verbrachte er im Billardzimmer der Dawydows, wo er - meist auf dem Tisch liegend - schrieb und schrieb und darüber manchmal die gemeinsamen Mahlzeiten versäumte." Seltsam, dass sich der Monumentalfilm nicht Puschkins bemächtigt hat (erst Jahre nach dem Duelltod ist der Befehl zu seiner polizeilichen Überwachung aufgehoben worden).
Der Kern Puschkins - die Leere: diese These Sinjawskis lässt sich besonders in den elegant-ironischen Episteln und Epigrammen nachvollziehen. "Als Dichter hielt er es für seine Pflicht, sich in alle hübschen Frauen und jungen Mädchen, die ihm über den Weg liefen, zu verlieben. In Wirklichkeit liebte er aber nur seine Poesie", berichtet in ihren "Erinnerungen" die Fürstin Wolkonskaja. Vielleicht wird in Puschkins Faust-Szenen nicht umsonst ein Schiff aus Langeweile versenkt.
Viel wesensverwandter als Goethe jedoch scheint Puschkin einem anderen Epikureer zu sein: "Priesterin der Aphrodite / Sieh uns flehend vor dir knien / Gib uns für die Nachtvisite / Einen sicheren Termin." Klingt das nicht ein wenig wie Heine? Und könnte das, viel zartere, "Du und Sie" nicht auch im "Buch der Lieder" stehen? "Sie sagt zu mir, wohl aus Versehen, / Statt Sie ein freundlich-liebes Du. / Und meine seligen Träume wehen / Ihr aus verliebter Seele zu. // Gedankenvoll zur Erde blickend / Steh ich vor ihr und schäme mich, / Und sage ihr: Sie sind entzückend! / Und denke: Ach wie lieb ich dich!"
Puschkins Beitrag zur Lorelei- beziehungsweise Rusalka-Literatur ist nicht unerheblich. Einmal darf eine Dame mit "wassergrünem Haar" gekost werden, ohne dass der Held deshalb unter Wasser muß; ein für Deutschland völlig neuer Gedanke. Vor dem Gedicht "Proserpina", wo sich die Todesgöttin als Aphrodite einen Jüngling schnappt und erst die Hölle der wahre Ort der Leidenschaft ist, hätte selbst Heinrich Heine seinen Hut gezogen - oder, falls Puschkin nach Paris exiliert wäre, sich mit dem Konkurrenten kurzerhand duelliert.
Dennoch mag auch Marina Zwetajewa Recht haben, wenn sie als Puschkins Kern "Liebe" nennt - in einem tragischen Sinn: "Und Menschen, die die unselige Gabe der glücklosen - einseitigen Liebe haben, entwickeln geradezu Genie bei der Wahl der ungeeigneten Objekte." Wie im "Onegin" ist in manchen Liebesgedichten, in der Balance zwischen gerissenem Spiel und Hingerissensein, etwas Verstörendes - eine Abwesenheit in der Anwesenheit. So wenn bei der Umarmung einer recht anakreontisch anmutenden "Doris" plötzlich durchs Dunkel ein anderes "Antlitz" leuchtet: "Und flüsternd sprach mein Mund den fremden Namen nach."
Alles Gedichte, die, nun auch in Deutsch, für sich selber stehen können. Das ist der Nachteil biographischen Lesens, dass man dabei einen anderen liest, obwohl Gedichte dazu da sind, dass man sich dabei selber liest. Benannt sei wenigstens das unheimliche Schneegestöber in dem Gedicht "Die Dämonen". Hier hat der Rezensent in seiner deutschen Brust so etwas wie eine russische Seele verspürt. Wie auch bei dem Gedicht "Der Winter", darin ohne Poesieverlust von ländlicher "Langeweile" und "Rübenherstellung" die Rede sein kann, bis man ins "Dämmerlicht" hinaushuscht: "Wie heiß im eisigen Frost des Mädchens Küsse schmecken!" Alltagsfeinheiten, wie sie hierzulande nur bei Mörike vorkommen.
Puschkin, viele Dichter in einem und offenbar doch stets er selbst. Eine Anverwandlungsleistung, die Dostojewski, im Zusammenhang mit den Reformen Peters des I., darauf brachte, "dass das russische Herz vielleicht unter allen Völkern am meisten zur allmenschlich-brüderlichen Einigung prädestiniert ist". Gewiss ist auch demjenigen, dem das übertrieben erscheint, schon der Verdacht gekommen, dass es ohne Rußland kein Europa geben wird.
Das hat sich weiterhin als schwierig erwiesen: auch, wie der Herausgeber hofft, bis zu dem "hinreißenden Freiheits- und Freundschaftspathos Puschkins" vorzudringen, wenngleich gerade die Großbegriffgedichte Ausdruck einer vehementen Sinnsuche sind, in deren Verlauf, statt des "Ruhms", die innere Freiheit, "das Haus", wichtiger werden.
Bei dem Gedicht "Das Denkmal", das in Russland jedes Schulkind kennt, bin ich, schon der Schulkinder wegen, eher froh, dass Goethe dergleichen nicht geschrieben hat. Obwohl es nichts als die Wahrheit spricht: "Und rühmen wird man mich auf dieser Welt, solange / Auch nur ein einziger Dichter lebt." Ja, da gibt es eine kulturelle Differenz. Doch sollte der Begriff der Weltliteratur nicht auch Abstand und Fremdheit einschließen - im Gegensatz zur Allerweltsliteratur?
Alexander Puschkin: "Die Gedichte". Aus dem Russischen von Michael Engelhardt. Russisch und deutsch. Herausgegeben von Rolf-Dietrich Keil. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 1070 S., geb., 148,- DM.
Rolf-Dietrich Keil: "Puschkin. Ein Dichterleben". Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 450 S., Abb., geb., 56,- DM.
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Die Gedichte und eine Biographie · Von Thomas Rosenlöcher
Bis heute sollen in Moskau die Pärchen nicht ausgestorben sein, die auf der Parkbank einander ihre Liebe in Versen erklären. Ein Verhältnis zur Poesie, das altmodisch erscheinen mag, wo Modernität vor allem Beziehungslosigkeit meint. Zur oft bestaunten Puschkin-Begeisterung der Russen trägt das Biographische bei. Durch sein exemplarisches Leben ist er für sie der Dichter schlechthin. "Mein erster Dichter war Puschkin - und mein erster Dichter wurde getötet", sagt Marina Zwetajewa in ihrem Aufsatz "Mein Puschkin". Schon das "Mein" spricht Bände.
In meiner Ausgabe von 1968 steckt bis heute das Lesezeichen verräterisch weit vorn. Freilich, "An Tschaadajew" - wer hätte nicht, tief im Osten, mit diesen aufrührerischen Versen etwas anzufangen gewusst? Wieso aber sollten am Schluss des Gedichts "auf des Thrones morschen Trümmern" ausgerechnet die Namen Puschkin und Tschaadajew stehen? Was heute imponiert, befremdete mich damals. Das hatte noch kein Freiheitskämpfer zugegeben, dass er vor allem deshalb Freiheitskämpfer war, um berühmt zu werden.
Befremdlich auch der pathetische Ton, hier wie in anderen Puschkin-Gedichten. Ob nun in der Ode "Die Freiheit" (die Anlass zu Puschkins Verbannung war) oder in "An das Meer" - überall diese Großbegriffe wie "Leidenschaft" oder "Schicksalswalten". Nicht einmal der berühmte, "Gift ins Herz" träufelnde "Dämon", der "nicht an Freiheit" glauben will (und mittlerweile als Ironiker in Feuilleton und Fernsehen auftritt), fand Gnade vor meinen Augen.
So wie mir Schiller bis heute fremd ist, wenn er die "Freude" im Allgemeinen bedichtet: Folge einer frühen Kränkung durch übermäßige Johannes-R.-Becher-Lektüre. Wobei der Schiller im Puschkin durch Übertragungsverluste auch noch in Richtung Freiligrath tendierte. Wenig ist zu spüren von jenem Spracherneuerer, dem Gogol, schon zu Lebzeiten, den ganzen "Reichtum, die Kraft und die Geschmeidigkeit unserer Sprache" nachsagte. Geschweige denn die gerühmte mozartsche Leichtigkeit und Tiefe. Schon Varnhagen hat vor der Lektüre Puschkins auf Deutsch gewarnt. Selbst der Herausgeber der neuen Gedichtausgabe meint, dass ein "geistiges Wunder" nötig wäre, um Puschkin jetzt noch in einen "fremden Boden" zu "verpflanzen".
Allerdings, ein mittleres Wunder ist es doch, dass eine neue Gedichtausgabe vorliegt - und zwar mit fast sechhundert von einem einzigen Übersetzer teils zum ersten Mal übertragenen Gedichten. Dabei kann oder will die Neuausgabe das Sonntagsdeutsch nicht umgehen: Wörter und Wendungen, die ältere Duden als "dichterisch" ausweisen und die es gerade deshalb kaum sind; auch Reime wie "Glut / Blut", "Nahn / Empfahn", "Trachten / schmachten".
Nun hat zwar Puschkin der damaligen Literatursprache französische Eleganz und Alltagsrussisch beigebracht, sich aber auch oft traditioneller Formeln bedient, die sich offenbar schlecht ins Deutsche transportieren lassen. Sollte man sich nicht deshalb eher für den Erneuerer entscheiden? Puschkins damalige Neuheit behutsam ins Heute transformieren? Durch vorsichtige Verschlankung, diskretere Reimabfolgen? Muss "O Schmach!" gesagt werden, selbst wenn im Original dergleichen steht? Doch halt: nicht die übliche Übersetzerschelte. Der Übersetzer ist immer der Verlierer. Ein eigener Versuch mittels Rohübersetzung klang auch nicht neu. Nach vielfachen "O Mensch"- und schlimmeren Rufen sind wir hier nur noch bedingt pathosfähig - und die unumgänglichen, längst gehabten Reimabfolgen deshalb besonders abgenutzt, weil selbst die Expressionisten, bei aller Sprachzertrümmerung, auf vorväterweise fortgereimt haben, während es bei den Russen eine Reimerneuerung gab.
Nun zeigt aber ein Vergleich mit den bisherigen - teils aus den sechziger Jahren stammenden, teils älteren - Übersetzungen, dass ihnen die neuen Nachdichtungen Michael Engelhards überlegen sind: gerade was Bündigkeit und Leichtigkeit betrifft. Engelhard muss also nicht zurückgenommen werden. Wodurch der Rezensent mit einer solchen Vielfalt von Tonhöhen, Formen und Gegenständen konfrontiert wird, dass er sich in der Lage eines Mannes befindet, der Goethes Gedichte zum ersten Mal liest, um sich über Goethe ein Urteil zu bilden.
"Aus einem Brief an Wiegel", "An die Fürstin M. A. Golizyna", "An . . ." : Schon in den Überschriften ein irritierendes Namensgestöber. Die Geburt des Gedichts aus der Epistel. Das Ich definiert sich geradezu durch ein im damaligen Literatur-, Freundschafts- und Erotikbetrieb zu umwerbendes oder zu attackierendes Du, und selbst in der Abkehr werden die "Freunde" angerufen. (Wogegen im heutigen Textrauschen ein eingelöstes Ich schon Seltenheitswert hat.) Mehr noch als bei Goethe gehen Lebens- und literarischer Text stilisiert ineinander über, ergeben gemeinsam erst das Gesamtkunstwerk Puschkin. So ist es hier also ratsam, die Gedichte mit der Biographie auf den Knien zu lesen, bis sich Puschkin-Begeisterung einstellt.
Was für ein Bündel an Vitalität dieser Mann gewesen sein muss! Wie domestiziert dagegen heutige Dichter sind! Allerdings: selbst bei Puschkin stand der Lebenstext dem aufzuschreibenden häufig im Weg, und so gesehen kann man Puschkins Verbannung durch Alexander I. auch als eine Literatur fördernde Maßnahme betrachten. "Alle Zeit, die ihm hier neben den substantiellen Gesprächen blieb", so der Herausgeber und Biograph, "verbrachte er im Billardzimmer der Dawydows, wo er - meist auf dem Tisch liegend - schrieb und schrieb und darüber manchmal die gemeinsamen Mahlzeiten versäumte." Seltsam, dass sich der Monumentalfilm nicht Puschkins bemächtigt hat (erst Jahre nach dem Duelltod ist der Befehl zu seiner polizeilichen Überwachung aufgehoben worden).
Der Kern Puschkins - die Leere: diese These Sinjawskis lässt sich besonders in den elegant-ironischen Episteln und Epigrammen nachvollziehen. "Als Dichter hielt er es für seine Pflicht, sich in alle hübschen Frauen und jungen Mädchen, die ihm über den Weg liefen, zu verlieben. In Wirklichkeit liebte er aber nur seine Poesie", berichtet in ihren "Erinnerungen" die Fürstin Wolkonskaja. Vielleicht wird in Puschkins Faust-Szenen nicht umsonst ein Schiff aus Langeweile versenkt.
Viel wesensverwandter als Goethe jedoch scheint Puschkin einem anderen Epikureer zu sein: "Priesterin der Aphrodite / Sieh uns flehend vor dir knien / Gib uns für die Nachtvisite / Einen sicheren Termin." Klingt das nicht ein wenig wie Heine? Und könnte das, viel zartere, "Du und Sie" nicht auch im "Buch der Lieder" stehen? "Sie sagt zu mir, wohl aus Versehen, / Statt Sie ein freundlich-liebes Du. / Und meine seligen Träume wehen / Ihr aus verliebter Seele zu. // Gedankenvoll zur Erde blickend / Steh ich vor ihr und schäme mich, / Und sage ihr: Sie sind entzückend! / Und denke: Ach wie lieb ich dich!"
Puschkins Beitrag zur Lorelei- beziehungsweise Rusalka-Literatur ist nicht unerheblich. Einmal darf eine Dame mit "wassergrünem Haar" gekost werden, ohne dass der Held deshalb unter Wasser muß; ein für Deutschland völlig neuer Gedanke. Vor dem Gedicht "Proserpina", wo sich die Todesgöttin als Aphrodite einen Jüngling schnappt und erst die Hölle der wahre Ort der Leidenschaft ist, hätte selbst Heinrich Heine seinen Hut gezogen - oder, falls Puschkin nach Paris exiliert wäre, sich mit dem Konkurrenten kurzerhand duelliert.
Dennoch mag auch Marina Zwetajewa Recht haben, wenn sie als Puschkins Kern "Liebe" nennt - in einem tragischen Sinn: "Und Menschen, die die unselige Gabe der glücklosen - einseitigen Liebe haben, entwickeln geradezu Genie bei der Wahl der ungeeigneten Objekte." Wie im "Onegin" ist in manchen Liebesgedichten, in der Balance zwischen gerissenem Spiel und Hingerissensein, etwas Verstörendes - eine Abwesenheit in der Anwesenheit. So wenn bei der Umarmung einer recht anakreontisch anmutenden "Doris" plötzlich durchs Dunkel ein anderes "Antlitz" leuchtet: "Und flüsternd sprach mein Mund den fremden Namen nach."
Alles Gedichte, die, nun auch in Deutsch, für sich selber stehen können. Das ist der Nachteil biographischen Lesens, dass man dabei einen anderen liest, obwohl Gedichte dazu da sind, dass man sich dabei selber liest. Benannt sei wenigstens das unheimliche Schneegestöber in dem Gedicht "Die Dämonen". Hier hat der Rezensent in seiner deutschen Brust so etwas wie eine russische Seele verspürt. Wie auch bei dem Gedicht "Der Winter", darin ohne Poesieverlust von ländlicher "Langeweile" und "Rübenherstellung" die Rede sein kann, bis man ins "Dämmerlicht" hinaushuscht: "Wie heiß im eisigen Frost des Mädchens Küsse schmecken!" Alltagsfeinheiten, wie sie hierzulande nur bei Mörike vorkommen.
Puschkin, viele Dichter in einem und offenbar doch stets er selbst. Eine Anverwandlungsleistung, die Dostojewski, im Zusammenhang mit den Reformen Peters des I., darauf brachte, "dass das russische Herz vielleicht unter allen Völkern am meisten zur allmenschlich-brüderlichen Einigung prädestiniert ist". Gewiss ist auch demjenigen, dem das übertrieben erscheint, schon der Verdacht gekommen, dass es ohne Rußland kein Europa geben wird.
Das hat sich weiterhin als schwierig erwiesen: auch, wie der Herausgeber hofft, bis zu dem "hinreißenden Freiheits- und Freundschaftspathos Puschkins" vorzudringen, wenngleich gerade die Großbegriffgedichte Ausdruck einer vehementen Sinnsuche sind, in deren Verlauf, statt des "Ruhms", die innere Freiheit, "das Haus", wichtiger werden.
Bei dem Gedicht "Das Denkmal", das in Russland jedes Schulkind kennt, bin ich, schon der Schulkinder wegen, eher froh, dass Goethe dergleichen nicht geschrieben hat. Obwohl es nichts als die Wahrheit spricht: "Und rühmen wird man mich auf dieser Welt, solange / Auch nur ein einziger Dichter lebt." Ja, da gibt es eine kulturelle Differenz. Doch sollte der Begriff der Weltliteratur nicht auch Abstand und Fremdheit einschließen - im Gegensatz zur Allerweltsliteratur?
Alexander Puschkin: "Die Gedichte". Aus dem Russischen von Michael Engelhardt. Russisch und deutsch. Herausgegeben von Rolf-Dietrich Keil. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 1070 S., geb., 148,- DM.
Rolf-Dietrich Keil: "Puschkin. Ein Dichterleben". Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 450 S., Abb., geb., 56,- DM.
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