Lenox Avenue, Harlem: das 'Reich der Stimmlosen'. Hier, in einem Abbruchhaus, lebt Precious Jones, sechzehn und schon zum zweitenmal von ihrem eigenen Vater schwanger. Ihre eifersüchtige, gewalttätige Mutter prügelt ihr jedes Gefühl aus außer dem Selbsthaß. Sie ist schwarz, übergewichtig, Analphabetin, kaum der Sprache mächtig. Sie weiß nichts von der Welt, und die Welt verschließt die Augen vor ihr.
Und doch gibt es, wie durch ein Wunder, Hoffnung für Precious. Als ihr die mutige, entschlossene Lehrerin Blue Rain mit viel Liebe, List und Überredungskunst das Lesen beibringt, öffnet sich für sie langsam eine Pforte zur Welt. Sie lernt, daß sie Gefühle hat und Träume - und eine machtvolle innere Stimme, die ihr die ungeschminkte Wahrheit über ihr Leben sagt.
Und doch gibt es, wie durch ein Wunder, Hoffnung für Precious. Als ihr die mutige, entschlossene Lehrerin Blue Rain mit viel Liebe, List und Überredungskunst das Lesen beibringt, öffnet sich für sie langsam eine Pforte zur Welt. Sie lernt, daß sie Gefühle hat und Träume - und eine machtvolle innere Stimme, die ihr die ungeschminkte Wahrheit über ihr Leben sagt.
In Harlem geschraubt: Ramona Loftons Mißbildungsroman
"Push" erzählt in Form eines Tagebuchs die Emanzipationsgeschichte eines afroamerikanischen Mädchens, das im schwarzen New Yorker Stadtteil Harlem lebt. Das sich steigernde Ausdrucksvermögen sowie die zunehmenden orthographischen und grammatikalischen Qualitäten dieses Berichts sollen die fortschreitende Alphabetisierung der sechzehnjährigen Precious Jones veranschaulichen.
Von früher Kindheit an wurde das übergewichtige Mädchen geschlagen und ausgebeutet, nicht nur vom Vater, sondern auch von der Mutter mißbraucht. Ihre Intelligenz hat sich in einem nackten, der Selbsterhaltung dienenden Autismus eingekapselt, aus dem auszubrechen ihr erst gelingt, als sie in einem alternativen Schulprojekt mit großem Ehrgeiz Lesen und Schreiben lernt. Während sie in ihrem Tagebuch beginnt, sich selbst zu entdecken wie einen fremden Kontinent, ist sie zum zweitenmal von ihrem Vater schwanger. Überdies erfährt sie nach dessen Tod und der Geburt des Kindes, daß sie HIV-positiv ist. Dieses Beispiel schriftverliebter Selbstaufklärung, dessen Übertragung ins Deutsche gut gelungen ist, bezeugt weniger den Emanzipationswillen der Tagebuchschreiberin. Die sprachlichen Ausdrucksformen depravierter Individualität sind vielmehr Beweis für den fragwürdigen Authentizitätsdrang Ramona Loftons, die unter dem Pseudonym Sapphire als Schriftstellerin figuriert.
Die ursprünglich als Tänzerin ausgebildete Afroamerikanerin hat Performances veranstaltet, Lyrik verfaßt und lernbehinderte Kinder in den Slums von Harlem und der Bronx unterrichtet. Die Verwertung ihrer Erfahrungen als Lehrerin hat das neunundvierzigjährige Allround-Talent bei seinem ersten Romanversuch zu einem folgenschweren Mißverständnis verleitet. Einen größtmöglichen, das moralische Gewissen des Lesers wachrüttelnden, dokumentarischen Realismus glaubt sie allein durch die "authentische" Abbildung faktischer Wirklichkeit erreichen zu können. Literarisches Resultat solcher Widerspiegelungsversuche ist häufig eine konstruiert wirkende Realität, die bei Sapphire wie aus sozialstatistischen Partikeln zusammengeschraubt erscheint. Ihre Protagonistin erscheint eher als ideelle Gesamt-Asoziale, kombiniert aus allen Reizthemen der amerikanischen Öffentlichkeit, denn als ein lebendiges Wesen.
Das gewünschte Mitgefühl ruft dieses Inferno einer geschundenen schwarzen Mädchenseele deshalb nur selten hervor. An der immensen Herausforderung, die Erbarmungswürdigkeit solch eines Lebenslaufs fern aller Klischees und Stereotypen darzustellen, scheitert der Roman kläglich. Der Grund für dieses Unvermögen ist ein stupendes Desinteresse an der psychologischen Ausgestaltung individuellen Schicksals zugunsten eines ideologischen Kalküls. Nie verliert die auch als Bürgerrechtsaktivistin hervorgetretene Feministin Sapphire die politische Korrektheit des angepeilten multikulturellen Marktsegments aus dem Blick. Unverhüllt epigonal versucht sie mit "Push" an den Erfolg von Alice Walkers Roman "Die Farbe Lila" (1983) anzuschließen, die Geschichte schwarzer sisterhood, der Steven Spielbergs Verfilmung zum Welterfolg verhalf.
Zwar versucht Sapphire mit gesteigerter Rührseligkeit und pornographischer Drastik in den Inzestszenen Aufmerksamkeit zu provozieren. Doch dürfte ihr "Gender-Feminismus" in seinem ethnischen Partikularismus von vornherein weniger massenwirksam sein als der wegen seiner humanistischen Botschaft immerhin noch universalismusfähige Feminismus einer Alice Walker. Im Kontrast zu deren Buch ist die Emanzipation von Sapphires Protagonistin hauptsächlich ideologisches Abziehbild jener die neunziger Jahre der Vereinigten Staaten beherrschenden Mentalität der Differenz, die im Zeichen kultureller Identität authentische Selbstentfaltung proklamiert. Daß diese für Precious Jones nirgendwo anders als im schwarzen Harlem und unter (lesbischen) Frauen stattfinden kann, liest sich wie eine Persiflage partikularistischer Identitätshudelei, ist jedoch bitter ernst gemeint. Wenn Precious' psychischer Autismus vom Paradies eines auf Ethnie und Geschlecht beruhenden, neuen Ghettos abgelöst wird, haben kulturelle Gruppenidentitäten der individuellen Freiheit der Zivilgesellschaft endgültig den Garaus gemacht. THOMAS MEDICUS
Sapphire: "Push". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gunter Blank. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998. 188 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main