Waldemar, genannt Putin, ein mäßig ambitionierter Schreiber in den Dreißigern, hat sich in seiner gemütlichen Existenz eingerichtet, Entscheidungen und ihre dämonischen Implikationen vermeidet er tunlichst. Doch als seine Freundin erst fremd- und dann auf Abstand geht, ist es mit Putins Seelenruhe vorbei: Er denkt über Liebesalternativen nach - und zwar über diejenigen, die er hatte, als diese Alternativen noch zögernd vertagte Gelegenheiten waren. Wo wäre er heute, wenn er damals mehr Mut gehabt hätte? Und wer wäre er jetzt? Putin begibt sich auf die Suche nach seinen Beinah-Vergangenheiten: Mareike, mittlerweile Psychotherapeutin mit Glücksdefizit; Marie, Ehefrau und Mutter in der Provinz; Mimi, deren Spur ihn bis nach Finnland führt. In seiner zaghaften Neugier trifft Putin das, was ihn erwartet, um so überraschender: Er wird von den Frauen einiges erfahren - und über sich selbst lernen müssen ... Stefan Gärtner erzählt komisch und hintersinnig von guten und schlechten Gründen, großen Fehlern und großer Liebe - und von der Schwierigkeit, vorher schlauer zu sein.
Leben ist die Summe von Fehlern, die wir Erfahrung nennen: Stefan Gärtners Roman "Putins Weiber" schickt einen Gagschreiber auf Wiederbegegnungstour mit den verflossenen Geliebten.
Der Titel war vor dem Buch da. "Putins Weiber" ist natürlich der Hammer, aber auch doppelt irreführend. Zum einen ist Putin bloß der Spitzname von Waldemar Winkelhock, einem höflich beflissenen, entscheidungsschwachen Gebrauchstexter und Gagschreiber aus Bielefeld. Nur Dr. Raimund aus Wien hält ihn für ein verkanntes Genie; nur in seinen Kolumnen für eine Fernsehzeitschrift wütet Putin wie Iwan der Schreckliche, aber die redigiert und liest ja auch niemand. Und dann ist "Weiber" ein viel zu grobes, pubertäres Wort für all die schönen, klugen, auf keusche Weise koketten Frauen, die Putin auf seiner sentimentalen Reise zurück in die Vergangenheit trifft.
Das ist nämlich die (schon von Nick Hornby in "High Fidelity" durchexerzierte) Grundidee von Stefan Gärtners erstem richtigem Roman: die Suche nach der verlorenen Zeit in ihrer weiblichen Gestalt als Verflossene. Nachdem Vera, seine aktuelle Freundin, ihn schamvoll betrogen und in eine längere Denk- und Beziehungspause entlassen hat, will Putin alle erinnerungswürdigen Ex-Freundinnen noch einmal besuchen, um mit sich und ihnen ins Reine zu kommen. Er muss herausfinden, welche Möglichkeiten und Alternativen er damals, vor fünfzehn Jahren in Frankfurt, versäumt, welche Fehler er gemacht hat, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht gekniffen, geschwiegen oder jedenfalls versagt hätte. Oder wie sein Männerfreund Georg es formuliert: "Kannst was nachholen. Oder wenigstens sehen, was du damals verpasst hast. Und ob überhaupt. Oder so."
Alle Ehemaligen stellen sich für Putins Rückführungstherapie zur Verfügung: Manuela, die so verknallt in ihn war, die Psychotherapeutin Mareike, seine große Liebe, Marie, inzwischen Lehrerin in Prüm; nur Mimi, die Putin auf einer Pornoseite im Internet ausgegoogelt hat, liegt bereits auf dem Friedhof. Bei dieser Tour tauscht man Erinnerungen, Vorwürfe und melancholische Bemerkungen aus, man lacht und weint miteinander, einmal ergibt sich sogar Sex im Wald. Aber es gibt kein Zurück. Das Leben ist die Summe von Fehlern, die wir begangen haben und Erfahrung nennen, und hinterm Horizont geht's weiter. Manchmal auch für den "Retrodepp" Putin: An Mimis Grab keimt unverhofft eine neue Liebe zwischen Matti, ihrem kaurismäkihaften Nachbarn aus Helsinki, und Mareike. "Aus der Geschichte lernen heißt nicht einmal verlieren lernen", erläutert Georg, "und so wir uns nicht sowieso verbieten wollen, in diesem Zusammenhang einen Sinn zu suchen, wo keiner ist, liegt er allenfalls darin, dass ich dir das jetzt erzähle."
Gärtner war zehn Jahre lang Titanic-Redakteur und hat sich in Werken wie "Guido außer Rand und Band", "Benehmt euch! Ein Pamphlet" und einem "erotisch-historischen Schelminnenroman" über Angela Merkel für sein Romandebüt warmgeschrieben. "Putins Weiber" hat Stil, Witz und Verstand, die Pointendichte ist erwartungsgemäß hoch, und viele von Gärtners satirischen Spitzen gegen Joggingbrötchen, Minicabrios, Hannelore Elsner und biodynamische Metzger treffen ins Schwarze. Außerdem wurde Gärtner nicht zufällig Sieger des Eckhard-Henscheid-Ähnlichkeitswettbewerbs 2014. Wenn Putin und seine Freunde beim Herrengedeck mit Bielefelder Luft und Detmolder Pilsener über Weiberkram und "Damengedöns" räsonieren, wenn Frührentner "Bei Olga" Fußballer- und Historikerwitze erzählen, zauberhafte Nachbarinnen anbaggern und Weisheiten wie "Was soll man machen?" und "Hört nie auf" absondern, fühlt man sich in die Zeit der "Vollidioten" zurückversetzt. Geht in Ordnung, sowieso, genau.
Gärtners Humor ist zwar eher an Seinfeld und den Simpsons geschult, aber er schöpft wie Henscheid aus einem breiten bildungsbürgerlichen Fundus und ist im Grunde ein hoffnungsloser Romantiker. Putin, der "Hans-Joachim Kulenkampff für das 21. Jahrhundert", beherrscht nicht nur die Kunst des Kalauers, sondern hat auch "perniziöse" Fremdwörter, preziöse Sätze ("Sie taumeln durch den Glast des Nachmittags") und gedrechselte Schwerenötereien drauf: "Ich habe keinen Grund zu der Annahme, ein Frauenversteher zu sein, aber die generelle Wirksamkeit eines sauber dosierten Kompliments ist nichts, was einem Zweifel unterliegt."
Verglichen mit dem maßlosen fränkischen Bruddler Henscheid, ist Gärtner erzählerisch relativ diszipliniert und ökonomisch, aber auch er zeigt Schwächen im Aufbau und in der Figurenzeichnung. Der Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive, Ich- und Er-Passagen ist wenig überzeugend; Spannung kommt beim serienmäßigen Weiber-Abklappern nicht auf. Alle, egal, ob junge Jurastudentin oder alter Bierdimpfl, reden im nämlichen Jargon ironischer Uneigentlichkeit und "spöttischer Jovialität", und dieses dauernde Frotzeln, Plänkeln und Sticheln kann einem schon auf den Geist gehen. Die komplizierten, geradezu adornitisch verschachtelten Satzbauten, die großflächig eingesetzte indirekte Rede, die gespreizten, wohlerzogenen Ausdrücke bilden einen aparten Kontrast zum banalen, bestenfalls sentimentalen Inhalt, und das ist vielleicht doch ein Fehler. Putin kommt sich mit seinem gepflegten Stil und seinen Prätentionen manchmal selbst vor "wie ein preußischer Offizier auf dem Ballermann". Karl Kraus kam nicht bis Bielefeld, Luhmann und Gärtner schon.
MARTIN HALTER.
Stefan Gärtner: "Putins Weiber". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 284 S., geb., 19,95 [Euro].
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Ein unterhaltsamer, mit Pointen und feinen Beobachtungen aus den Widrigkeiten des Alltags gespickter Gegenwartsroman. HR