Produktdetails
  • Verlag: Cornelsen Verlag
  • ISBN-13: 9783464001783
  • ISBN-10: 3464001784
  • Artikelnr.: 03526960
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2001

Pflichtlektüre: Der Putzger

Das kulturelle Gedächtnis hat meist Eselsohren, häufig viele Seiten und ist fast immer beschmiert. Vom Drama des betagten Kindes.

VON JÜRGEN KAUBE

Es gibt Bücher, an denen niemand vorbeikommt. Aber keiner redet über sie. Dabei handelt es sich um gelesene Bücher, nicht um solche, die bloß verschenkt, von denen bloß Geld abgehoben oder die, etwa zum Telefonieren, bloß konsultiert werden. Es sind sogar Bücher, die studiert werden müssen. Wir sprechen von Pflichtlektüre. Und doch sind es Bestseller, die in keiner Bestenliste stehen, die nicht besprochen werden, deren Autoren keine Lesungen geben.

Es geht um Schulbücher. An Schulbücher erinnern wir uns - wenn nicht an ihren Inhalt, so doch an ihre Farbe, ihren Titel. Linnekugel, Lambacher-Schweizer, "Lesen. Darstellen. Begreifen". Jeder erkennt solche Namen seiner eigenen Schulzeit wieder. "Hattet ihr auch den . . . ?" Ja, wir hatten den Daumer und den Barth-Krumbacher, haben unter ihnen sanft gelitten, uns mit ihnen sehr gelangweilt, ihre weißen Ränder und Vorsatzblätter mittels Geha oder Pelikan vollgemalt. Der Linnekugel war auch als Tischtennisschläger praktisch.

Dennoch sind diese überaus vielseitig genutzten Bücher kaum einmal Gegenstand öffentlicher Anerkennung. Wenn von ihnen überhaupt die Rede ist, dann geht es um Abbildungen und Texte im Umkreis der Sexualkunde, um die Darstellung des Nationalsozialismus oder um fremde Kulturen, jetzt vermutlich den Islam. All dies mag im Einzelfall seinen anstößigen Anlaß haben, mißt moralempfindlichen Unterrichtsthemen aber eine ganz übertriebene Bedeutung zu. Was ein gutes Schulbuch ausmacht, läßt sich nicht an skandalisierten Fällen ermitteln. Die Schule ist ein auf Alltäglichkeit, auf Gewohnheiten beruhendes, Normalität hervorbringendes Gebilde.

Wir wollen darum mit dem publizistischen Schweigen über diese Alltagslektüre eines Teils unserer Mitbürger brechen. In loser Folge soll auf dieser Seite vorgestellt und beurteilt werden, was die Pädagogen "Unterrichtsmaterialien" nennen; vorzugsweise Schulbücher, aber auch "Lernsoftware", Tabellenwerke und was die Erziehungswelt an Lesestoff sonst noch bereithält.

Beginnen wir mit dem "Putzger". 1877 erstmals vom sächsischen Realschullehrer Friedrich Wilhelm Putzger herausgegeben, ist er für die Gattung des Schulbuches ein besonders gutes Beispiel. Läßt sich an ihm doch ablesen, wie sehr sich die Schule seitdem geändert hat - und wie sehr sie sich nach wie vor ähnelt. Wer die neueste, die 103. Auflage des Putzger durchblättert, findet alte Orientierungen nach wie vor intakt. Die Weltgeschichte beginnt in der Frühe des "Südaffen" Australopithecus und endet, bis auf weiteres, mit der Europäischen Union. Dazwischen wird mit ausführlicher Kommentierung so ziemlich alles gezeigt, was sich an Geschichte auf Territorien abbilden läßt.

Anders aber als in älteren Auflagen geht die kartographische Phantasie inzwischen weit über das Nachzeichnen des Aufstiegs und Falls von Imperien und Staaten hinaus. Geschichte bildet sich hier nicht nur in der Verschiebung von Grenzen ab, sondern auch in der Entwicklung von Wirtschaftsdaten, Siedlungsmustern oder demographischen Verläufen. Die Landkarte ist inzwischen also nur ein Fall dessen, was heute "Informationsgrafik" heißt, hinzugetreten sind Tabelle und Schaubild. So finden sich die Tribute, die Heinrich II. bei seinen Reichsreisen entgegennahm - in Bayern 16 000 Hühner, in Sachsen gut 20 000 -, ebenso verzeichnet wie der Lebenlauf eines Universitätsprofessors im fünfzehnten Jahrhundert oder Organigramme politischer Machtverteilung im antiken Rom, in dem frühneuzeitlichen London oder im Badischen um 1818.

Wichtiger noch ist, daß eine Geschichte zu haben nicht mehr allein politischen Gebilden - von Dynastien, Städten oder Bündnissen - vorbehalten bleibt. Genauso ernst werden Handelswege, die Missionsgeschichte oder die Ausbreitung der großen Seuchen genommen. Und auch der Alltag hat Karten: Sie zeigen das Kloster St. Gallen um 820, mittelalterliche Flurformen, die ethnisch differenzierte Einwanderung nach Amerika. Bilder der Welthandelsströme um 1700 oder der seitherigen Ausbreitung von Nutzpflanzen machen deutlich, daß damit neben die "Grenzziehung" der Begriff der "Diffusion", der Verbreitung sozialer Errungenschaften in Raum und Zeit, als historiographischer Leitbegriff tritt. Und schließlich erscheint die politische Geschichte hier als Geschichte im ökonomischen, technologischen und kulturellen Zusammenhang. Das führt zu der dritten historischen Kategorie, die der Putzger verbildlicht: Korrelation. Hierher gehören beispielsweise Karten über den Zusammenhang von Konfession und Wahlverhalten in der Weimarer Republik, auch die wiederholten Parallelabbildungen von wirtschaftlicher und politischer Entwicklung ganzer Kontinente. Die Akribie und Detailfülle erschweren mitunter das Lesen, erlauben es aber oft, durchaus spezielle Fragen zu beantworten: Wo überall gab es Parteischulen der NSDAP? Aus welchen Gemeinden bestand die urchristliche Kirche vor 325? Welcher Indianerstamm besiedelte vor der Kolonisation Nordamerikas welche Region? Festzuhalten ist die Ausweitung des historischen Raums: Indien, China und Afrika haben inzwischen eine Geschichte außerhalb der Kolonialperiode.

Die Mängelanzeige ist beim Putzger schnell gemacht, denn sie umfaßt nicht viel. Mitunter gilt sie der Sprache. Noch scheint nicht ein gutes, jargonfreies Vokabular für jede Passage der erheblichen Textanteile gefunden. Über frühe Städte in Flußkulturen ist etwa zu lesen: "Als Zentren der Kommunikation, des Handels, der Religion und der Herrschaft wurden sie auch zum Nukleus einer kulturellen Identität, die sich ideologisch umschrieben zur Staatsräson entwickelte." Was immer das überhaupt heißen mag, so darf man zumindest fragen, wie man sich eine "Staatsräson" um 2700 vor Christus vorstellen soll, als es noch gar keine Staaten gab? Auch ist manches Bild entbehrlich. Welcher Wirtschaftswissenschaftler etwa hilft uns dabei, jenen "Teufelskreis" der Armut im gegenwärtigen Nord-Süd-Konflikt zu deuten, bei dem folgende Wirkungskette abgebildet wird: "Unterernährung" führt zu "häufigem Kranksein", dieses zu "geringer Ausbildung" und diese zu "niedriger Sparquote"?

Vielleicht findet sich ja ein Hochbegabter, der hier durchblickt. Wenn nicht, so können solche Seltsamkeiten und Schwächen im Unterricht aber leicht ausgeglichen werden, etwa indem man sie in Denkaufgaben für Schüler umformuliert. Wie es sich für ein gutes Schulbuch gehört, wären das zugleich Denkaufgaben für Eltern. Der Putzger sei auch ihnen zum Kauf empfohlen - sofern sie nicht auf dem Speicher irgendeine seiner 102 Vorgängerauflagen finden.

Putzger - Historischer Weltatlas, Hrsg. von Ernst Bruckmüller und Peter Claus Hartmann, 103. Auflage, Cornelsen Verlag: Berlin 2001, 260 Seiten, geb. 54,90 Mark.

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