Seit drei Jahrzehnten untersuchen Queer Studies die Macht geschlechtlicher und sexueller Normen - und wie diese infrage gestellt werden. Sie erforschen die komplexen Zusammenhänge von Sexualität, Geschlecht, Rassismus, Klasse und Nation. Dieser Band versammelt klassische und neuere Schlüsseltexte der anglophonen Queer Studies in deutscher Sprache, von Judith Butler und Eve Kosofsky Sedgwick bis Cathy Cohen und José Esteban Muñoz. Er führt in die wichtigsten theoretischen Positionen ein, macht mit den zentralen Entwicklungslinien des Diskurses vertraut und präsentiert wegweisende queere Analysen zu Kapitalismus, Migration, Geopolitik, Behinderung, Aktivismus, Kultur und Subkultur.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Überfällig scheint dem Rezensenten Andreas Bernard dieser von Mike Laufenberg und Bent Trott herausgebene Band, der die wichtigsten Schlüsseltexte der Queer Studies aus den Jahren 1990 bis 2015 versammelt. Ein bisschen Mühe werden Leser angesichts der dekonstruktivistischen und diskursanalytischen Lektüren auf sich nehmen müssen, warnt der Kritiker vor - aber es lohnt sich, versichert er: Schon die belesene, neunzigseitige Einleitung der Herausgeber führt den Rezensenten profund ins Thema ein, die kluge Auswahl der Texte macht ihn zudem auf das anfängliche Spannungsverhältnis zwischen der Kulturkritik der Queer Studies und der Ökonomiekritik marxistisch geprägter Denker aufmerksam: Erst in den letzten fünfzehn Jahren denken die Queer Studies die ökonomischen Bedingungen bei der Analyse von Sexualität mit, liest Bernard in einigen Beiträgen. Dass die dem Fach innewohnende "übermäßige Selbstbezüglichkeit" zu einer eher "kurzen Lebenszeit" der Disziplin beitragen könnte, erkennt Bernard allerdings auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Warum ausgerechnet Sexualität und Geschlecht zum Kristallisationspunkt erhitzter Debatten werden konnten, versteht, wer den Band Queer Studies liest.« Tania Martini taz. die tageszeitung 20231017
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2023Gegen alle Normen
Ein Sammelband mit Schlüsseltexten der Queer Studies könnte die Genderdebatte klüger machen - vielleicht sogar deren Kritiker.
Von Adrian Daub
Es ist einigermaßen verblüffend, wie viel man in deutschen Medien zu Queer Studies liest, in Anbetracht dessen, wie wenige der kritisierten Texte bisher überhaupt auf Deutsch erhältlich waren. Kritik an Queer Studies oder Genderstudien ist im Normalfall alles andere als Arbeit am Text, eher Flucht vorm Text. Man liest im Deutschen eher über Queer Theory, als dass man sie liest.
Anna Schneider, die "Chefreporterin Freiheit" a. D., hat seinerzeit "im Selbstversuch" ein Semester Genderstudien in Wien belegt und in der "Welt" darüber berichtet - von der "Lehre der Opferhierarchien", von Sesselkreisen, von "Sehr geehrtx Profx". Einen Text, der in diesem Studium vorgekommen wäre, nannte sie nicht. Auch Deniz Yücel, der die Disziplin in der "Welt" zum "Mainstream" in Deutschland erklärte, blieb Textnachweise schuldig. Ein seltsamer Mainstream, der bis 2023 gar nicht auf Deutsch erhältlich war.
Wenn sich auch durch den Band "Queer Studies. Schlüsseltexte", herausgegeben von Mike Laufenberg und Ben Trott, kaum die feuilletonistische Bereitschaft reduzieren wird, auf Texte einzuschlagen, die man nicht gelesen, geschweige denn verstanden hat, so eröffnet das Buch doch immerhin die Möglichkeit einer fundierteren Diskussion. Als interessierter Leser kann man sich nun zumindest den kritisierten Texten nähern. Es handelt sich somit nicht nur um eine wissenschaftlich wertvolle Leistung, die Laufenberg, Soziologe in Jena, und Trott, der zur Zeit an der Leuphana Universität Lüneburg lehrt, hier erbracht haben. Sie haben auch dem öffentlichen Diskurs einen großen Dienst erwiesen.
Der Reader umfasst Texte und Theorieansätze, die zwischen den späten 1980er-Jahren und den frühen 2010er-Jahren entstanden sind. Diese wurden im englischsprachigen Raum als Queer Theory rezipiert. Die breitere Bezeichnung "Queer Studies" ist aber insofern richtig, als das Buch den "heterogenen und dynamischen Charakter dieses Arbeitsfeldes" betont und wichtige Kritiken der Queer Theory gleich miteinbezieht. Das bedeutet aber auch, dass dieses Buch im Endeffekt etwas Unmögliches vorhat: fast 40 Jahre Forschung und zuweilen hitziger Debatten einigermaßen überparteiisch abzubilden. Dennoch ist der Band, mit seiner kundigen Textauswahl und einer beeindruckenden, 93 Seiten langen Einleitung, ein überfälliger erster Schritt.
Sobald man auch nur einen dieser Texte liest, zerbröseln viele der von den engagierten Nichtlesern der Queer Studies reflexiv ins Feld geführten Kritikpunkte. Einerseits wird Queer Theory gerne als Spielart der "Identitätspolitik" bezeichnet, andererseits wird sie dem Poststrukturalismus zugerechnet, der mit Kategorien wie "Identität" eher Probleme hat. Die von Laufenberg und Trott zusammengestellten Texte zeigen sofort, dass sich Queer Theory natürlich für Identität interessiert, diese aber einer komplexen Reflexion unterzieht.
Sie zeigen aber auch, dass es sich keineswegs - wie vor Kurzem gerade wieder Michel Foucault vorgeworfen wurde - um apolitisches oder gar nihilistisches Posieren handelt. Einem Text wie Cathy Cohens "Punks, Bulldaggers und Welfare Queens" von 1997 geht es um die soziale Logik des Reaganismus in den USA und wie er auf Kategorien rekurrierte, die immer mit Gender und Sexualität zu tun hatten, aber nie auf diese reduzibel waren. Auch Eve Kosofsky Sedgwick verstand Queer Theory - gerade auch unter dem Eindruck von AIDS - als Analyse eines langen Backlashs in der amerikanischen Politik, von Reagan bis Trump , der zwischen Reagan und Trump die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung zunichtemachte. Durch das Nachdenken über Drag, Sexarbeit, vermeintlich feminisierte Universitäten oder instabile afroamerikanische Familienstrukturen geriet all das in den Blick, was der "heteronormative" Mainstream einerseits als irgendwie unpassend ausklammern musste, was aber andererseits die inkonsistenten und bizarren "family values" der amerikanische Gesellschaft überhaupt erst einigermaßen lesbar machte.
Aber eine Kritik der Heteronormativität der Mehrheitsgesellschaft beinhaltete eben auch jene Begriffe und Schlagwörter, unter deren Flagge Minderheiten überhaupt erst Zugang zu dieser erstritten. Bei aller Heterogenität dieser Texte lässt sich sagen: Die meisten entspringen einer Auseinandersetzung mit den Kategorien, durch die LGBTQ+ Personen historisch ihre gesellschaftliche Position erstritten und verteidigt haben. Es geht um das politische Unbewusste von Konzepten wie "Identität", "Community", "Selbstbestimmung", um das, was sie aussparen, unterschlagen. Der Verdacht der Queer Theory war, wie Sedgwick in ihrem Text von 1990 schreibt, dass diese Aussparung das Feld "bestenfalls humanistisch-liberaler 'Toleranz' oder repressiv trivialisierender Zelebrierung, schlimmstenfalls reaktionärer Unterdrückung" überlasse. Wenn Harvey Milk, der erste offen schwule Amtsinhaber in den USA, verlangen konnte "Come out, come out, wherever you are!", wollte Sedgwick wissen, welche Vorstellung des Privaten bei der Idee des Coming-out Pate stand. Und die nicht im Band vertretene Lauren Berlant fragte, welche Form der Öffentlichkeit es für nichtnormative Sexualität überhaupt geben könnte.
Ähnliche Skepsis galt den wissenschaftlichen Theorien, in deren Traditionen Frauen-, Schwulen-, Lesben- und Transbewegungen ihre Wissensansprüche artikuliert hatten. Ob feministische oder psychoanalytische Theorie, Dekonstruktion oder Postmoderne: Queer Theory registriert wie ein Seismograph das Knirschen in den Kategorien, die im Fokus dieser Theorierichtungen standen. Wenn der Feminismus die Welt aus Sicht "der" Frau denkt, wer ist dann mit "die" Frau gemeint? Was ist "der" Ödipuskomplex? José Esteban Muñoz bringt in seinem Text den Begriff der "Desidentifikation" ins Spiel - er meint damit kein Sich-Losmachen von etwas, sondern eine problematisierende Identifikation. Ein Schlüsselbegriff für fast alle hier versammelten Texte.
In ihrer Einleitung legen die Herausgeber überzeugend dar, dass Queerness und die Queer Studies in ihrer Genealogie heterogener waren, als gemeinhin angenommen wird. In Deutschland wird die Wahrnehmung oft auf Judith Butler und "Das Unbehagen der Geschlechter" verknappt, in den USA der Bezug auf Michel Foucault überbewertet. Die Herausgeber betonen unter anderem den Einfluss materialistischer Ansätze auf die Queer Studies oder auch den des lesbischen Feminismus, der in seiner Kritik an der "Ideologie der Zwangsheterosexualität" darauf hinwies, wie die heterosexuelle Partnerwahl als "politische Institution" wirkt, die "aus der Norm der biologischen Reproduktion ein soziales und erotisches Passungsverhältnis zwischen Frauen und Männern ableite".
Fast alle Texte in dem Band stellen nicht nur klassische Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und Sexualität infrage, sondern erweitern auch den Blick auf Zusammenhänge von Kapitalismus und Klassenverhältnissen, Rassismus und Nation oder von Kultur und Subkultur. Das geht bis zu einer Kritik an gängigen Vorstellungen von Zeitlichkeit, die sich aus queerer Sicht als heteronormativ entpuppen: Gegen die durch "subventionierte Akte der Reproduktion" kultivierte "straight time", die "uns glauben macht, dass es keine Zukunft außer dem Hier und Jetzt unseres alltäglichen Lebens gibt", entwirft Muñoz eine kritische Utopie der "Queer Futurity".
Fast gegenteilig argumentiert Lee Edelman, der in seinem Text "No Future" Queer Theory gegen einen "Reproduktiven Futurismus" in Stellung bringt. Es geht ihm um die Figur des "KINDES" (in der deutschen Übersetzung immer groß geschrieben): das Kind als Instanz politischer Einbildungskraft. Das Kind, dem die Zukunft gehört, "der phantasmatische Adressat jeder politischen Intervention". Aber eben auch das Kind, das es zu schützen gilt, vor bösen Fremden, vor Drogen, vor Transpersonen, vor LGBT-Inhalten.
Queerness stellt für Edelman eine mögliche Kritik dar eines "unhinterfragten, da so offensichtlich unhinterfragbaren Wertes, wie desjenigen des Kindes, dessen Unschuld unseren Schutz erfordert". Die gesellschaftliche und analytische Sprengkraft von Queerness ergibt sich daraus, dass sie durch das heterosexuelle Patriarchat zu einer unmöglichen Frage gedrängt wird: "Was würde es in diesem Fall bedeuten, nicht 'für die Kinder zu kämpfen?'". Queerness weist voraus auf eine Politik, die unsere eigene Zukünftigkeit nicht in den Vordergrund stellt. In dieser Hinsicht gibt Edelman homophoben Fundamentalisten eher recht als netten Humanisten: Dass Queerness die öffentliche Ordnung neu definiert, wie Reaktionäre warnen, hält er aber für durchaus erstrebenswert. Queerness in seinem Sinne hat keine Zukunft, Queerness ist verantwortungslos - und das ist auch gut so.
Dass dabei das reine Faktum der Homosexualität nicht an sich schon destabilisierend sein muss, ist in der Queer Theorie schon relativ früh etabliert. Es kann unterdrückende Strukturen tolerieren oder sogar unterstützen. Wenn die offen lesbische AfD-Vorsitzende Alice Weidel nun vor der Bezeichnung "queer" die Flucht antritt und das bürgerliche Wesen ihrer Partnerschaft betont, demonstriert sie das sehr anschaulich. Nur wenn die konzeptuellen Konsequenzen aus einer nicht-heteronormativen Orientierung gezogen werden, stellt diese wirklich eine Herausforderung für etablierte Macht- und Denkstrukturen dar.
Historisch gesehen, haben Queer Studies in den Literatur- und Geschichtswissenschaften angefangen. Das hat dazu geführt, dass gewisse Disziplinen anfangs stark überrepräsentiert waren und viele der Texte radikale Thesen präsentieren, aber orientiert an kanonischer Literatur. Einer Achse, wie Petrus Liu in seinem Text im Band spottet, "die von Marcel Proust bis Henry James, Jane Austen und Herman Melville reicht". Lius Text zeigt sehr schön, wie mobil und produktiv die Lehren der Queer Theory sind, selbst oder gerade wenn man sie auf die Queer Theory selbst anwendet. Für ihn ist ein uneingestandenes Hauptmotiv der Queer Theory, einerseits einen "Westen" zu konstruieren, in dem Sexualität so oder so gedacht wurde. Und andererseits eben einen "Nichtwesten", durch den erst die Rede vom Westen "Bedeutung und Kohärenz erlangt". Dabei betont er, dass Queerness eigentlich beides aufbrechen müsste und könnte: die Kohärenz des "Westens" und die des Rests der Welt.
Das Bild, das sich in diesem Band ergibt, ist das einer überaus lebendigen Tradition, die seit Jahrzehnten einer intensiven Selbstkritik und Selbstbefragung fähig ist. Vielleicht können die Kritiker der Queer Studies ja von dieser zumindest das lernen: wie man Queer Studies intelligenter kritisiert.
Mike Laufenberg und Ben Trott (Hg.): "Queer Studies. Schlüsseltexte". Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Zacharias Wackwitz. Suhrkamp, 576 Seiten, 28,00 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Sammelband mit Schlüsseltexten der Queer Studies könnte die Genderdebatte klüger machen - vielleicht sogar deren Kritiker.
Von Adrian Daub
Es ist einigermaßen verblüffend, wie viel man in deutschen Medien zu Queer Studies liest, in Anbetracht dessen, wie wenige der kritisierten Texte bisher überhaupt auf Deutsch erhältlich waren. Kritik an Queer Studies oder Genderstudien ist im Normalfall alles andere als Arbeit am Text, eher Flucht vorm Text. Man liest im Deutschen eher über Queer Theory, als dass man sie liest.
Anna Schneider, die "Chefreporterin Freiheit" a. D., hat seinerzeit "im Selbstversuch" ein Semester Genderstudien in Wien belegt und in der "Welt" darüber berichtet - von der "Lehre der Opferhierarchien", von Sesselkreisen, von "Sehr geehrtx Profx". Einen Text, der in diesem Studium vorgekommen wäre, nannte sie nicht. Auch Deniz Yücel, der die Disziplin in der "Welt" zum "Mainstream" in Deutschland erklärte, blieb Textnachweise schuldig. Ein seltsamer Mainstream, der bis 2023 gar nicht auf Deutsch erhältlich war.
Wenn sich auch durch den Band "Queer Studies. Schlüsseltexte", herausgegeben von Mike Laufenberg und Ben Trott, kaum die feuilletonistische Bereitschaft reduzieren wird, auf Texte einzuschlagen, die man nicht gelesen, geschweige denn verstanden hat, so eröffnet das Buch doch immerhin die Möglichkeit einer fundierteren Diskussion. Als interessierter Leser kann man sich nun zumindest den kritisierten Texten nähern. Es handelt sich somit nicht nur um eine wissenschaftlich wertvolle Leistung, die Laufenberg, Soziologe in Jena, und Trott, der zur Zeit an der Leuphana Universität Lüneburg lehrt, hier erbracht haben. Sie haben auch dem öffentlichen Diskurs einen großen Dienst erwiesen.
Der Reader umfasst Texte und Theorieansätze, die zwischen den späten 1980er-Jahren und den frühen 2010er-Jahren entstanden sind. Diese wurden im englischsprachigen Raum als Queer Theory rezipiert. Die breitere Bezeichnung "Queer Studies" ist aber insofern richtig, als das Buch den "heterogenen und dynamischen Charakter dieses Arbeitsfeldes" betont und wichtige Kritiken der Queer Theory gleich miteinbezieht. Das bedeutet aber auch, dass dieses Buch im Endeffekt etwas Unmögliches vorhat: fast 40 Jahre Forschung und zuweilen hitziger Debatten einigermaßen überparteiisch abzubilden. Dennoch ist der Band, mit seiner kundigen Textauswahl und einer beeindruckenden, 93 Seiten langen Einleitung, ein überfälliger erster Schritt.
Sobald man auch nur einen dieser Texte liest, zerbröseln viele der von den engagierten Nichtlesern der Queer Studies reflexiv ins Feld geführten Kritikpunkte. Einerseits wird Queer Theory gerne als Spielart der "Identitätspolitik" bezeichnet, andererseits wird sie dem Poststrukturalismus zugerechnet, der mit Kategorien wie "Identität" eher Probleme hat. Die von Laufenberg und Trott zusammengestellten Texte zeigen sofort, dass sich Queer Theory natürlich für Identität interessiert, diese aber einer komplexen Reflexion unterzieht.
Sie zeigen aber auch, dass es sich keineswegs - wie vor Kurzem gerade wieder Michel Foucault vorgeworfen wurde - um apolitisches oder gar nihilistisches Posieren handelt. Einem Text wie Cathy Cohens "Punks, Bulldaggers und Welfare Queens" von 1997 geht es um die soziale Logik des Reaganismus in den USA und wie er auf Kategorien rekurrierte, die immer mit Gender und Sexualität zu tun hatten, aber nie auf diese reduzibel waren. Auch Eve Kosofsky Sedgwick verstand Queer Theory - gerade auch unter dem Eindruck von AIDS - als Analyse eines langen Backlashs in der amerikanischen Politik, von Reagan bis Trump , der zwischen Reagan und Trump die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung zunichtemachte. Durch das Nachdenken über Drag, Sexarbeit, vermeintlich feminisierte Universitäten oder instabile afroamerikanische Familienstrukturen geriet all das in den Blick, was der "heteronormative" Mainstream einerseits als irgendwie unpassend ausklammern musste, was aber andererseits die inkonsistenten und bizarren "family values" der amerikanische Gesellschaft überhaupt erst einigermaßen lesbar machte.
Aber eine Kritik der Heteronormativität der Mehrheitsgesellschaft beinhaltete eben auch jene Begriffe und Schlagwörter, unter deren Flagge Minderheiten überhaupt erst Zugang zu dieser erstritten. Bei aller Heterogenität dieser Texte lässt sich sagen: Die meisten entspringen einer Auseinandersetzung mit den Kategorien, durch die LGBTQ+ Personen historisch ihre gesellschaftliche Position erstritten und verteidigt haben. Es geht um das politische Unbewusste von Konzepten wie "Identität", "Community", "Selbstbestimmung", um das, was sie aussparen, unterschlagen. Der Verdacht der Queer Theory war, wie Sedgwick in ihrem Text von 1990 schreibt, dass diese Aussparung das Feld "bestenfalls humanistisch-liberaler 'Toleranz' oder repressiv trivialisierender Zelebrierung, schlimmstenfalls reaktionärer Unterdrückung" überlasse. Wenn Harvey Milk, der erste offen schwule Amtsinhaber in den USA, verlangen konnte "Come out, come out, wherever you are!", wollte Sedgwick wissen, welche Vorstellung des Privaten bei der Idee des Coming-out Pate stand. Und die nicht im Band vertretene Lauren Berlant fragte, welche Form der Öffentlichkeit es für nichtnormative Sexualität überhaupt geben könnte.
Ähnliche Skepsis galt den wissenschaftlichen Theorien, in deren Traditionen Frauen-, Schwulen-, Lesben- und Transbewegungen ihre Wissensansprüche artikuliert hatten. Ob feministische oder psychoanalytische Theorie, Dekonstruktion oder Postmoderne: Queer Theory registriert wie ein Seismograph das Knirschen in den Kategorien, die im Fokus dieser Theorierichtungen standen. Wenn der Feminismus die Welt aus Sicht "der" Frau denkt, wer ist dann mit "die" Frau gemeint? Was ist "der" Ödipuskomplex? José Esteban Muñoz bringt in seinem Text den Begriff der "Desidentifikation" ins Spiel - er meint damit kein Sich-Losmachen von etwas, sondern eine problematisierende Identifikation. Ein Schlüsselbegriff für fast alle hier versammelten Texte.
In ihrer Einleitung legen die Herausgeber überzeugend dar, dass Queerness und die Queer Studies in ihrer Genealogie heterogener waren, als gemeinhin angenommen wird. In Deutschland wird die Wahrnehmung oft auf Judith Butler und "Das Unbehagen der Geschlechter" verknappt, in den USA der Bezug auf Michel Foucault überbewertet. Die Herausgeber betonen unter anderem den Einfluss materialistischer Ansätze auf die Queer Studies oder auch den des lesbischen Feminismus, der in seiner Kritik an der "Ideologie der Zwangsheterosexualität" darauf hinwies, wie die heterosexuelle Partnerwahl als "politische Institution" wirkt, die "aus der Norm der biologischen Reproduktion ein soziales und erotisches Passungsverhältnis zwischen Frauen und Männern ableite".
Fast alle Texte in dem Band stellen nicht nur klassische Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und Sexualität infrage, sondern erweitern auch den Blick auf Zusammenhänge von Kapitalismus und Klassenverhältnissen, Rassismus und Nation oder von Kultur und Subkultur. Das geht bis zu einer Kritik an gängigen Vorstellungen von Zeitlichkeit, die sich aus queerer Sicht als heteronormativ entpuppen: Gegen die durch "subventionierte Akte der Reproduktion" kultivierte "straight time", die "uns glauben macht, dass es keine Zukunft außer dem Hier und Jetzt unseres alltäglichen Lebens gibt", entwirft Muñoz eine kritische Utopie der "Queer Futurity".
Fast gegenteilig argumentiert Lee Edelman, der in seinem Text "No Future" Queer Theory gegen einen "Reproduktiven Futurismus" in Stellung bringt. Es geht ihm um die Figur des "KINDES" (in der deutschen Übersetzung immer groß geschrieben): das Kind als Instanz politischer Einbildungskraft. Das Kind, dem die Zukunft gehört, "der phantasmatische Adressat jeder politischen Intervention". Aber eben auch das Kind, das es zu schützen gilt, vor bösen Fremden, vor Drogen, vor Transpersonen, vor LGBT-Inhalten.
Queerness stellt für Edelman eine mögliche Kritik dar eines "unhinterfragten, da so offensichtlich unhinterfragbaren Wertes, wie desjenigen des Kindes, dessen Unschuld unseren Schutz erfordert". Die gesellschaftliche und analytische Sprengkraft von Queerness ergibt sich daraus, dass sie durch das heterosexuelle Patriarchat zu einer unmöglichen Frage gedrängt wird: "Was würde es in diesem Fall bedeuten, nicht 'für die Kinder zu kämpfen?'". Queerness weist voraus auf eine Politik, die unsere eigene Zukünftigkeit nicht in den Vordergrund stellt. In dieser Hinsicht gibt Edelman homophoben Fundamentalisten eher recht als netten Humanisten: Dass Queerness die öffentliche Ordnung neu definiert, wie Reaktionäre warnen, hält er aber für durchaus erstrebenswert. Queerness in seinem Sinne hat keine Zukunft, Queerness ist verantwortungslos - und das ist auch gut so.
Dass dabei das reine Faktum der Homosexualität nicht an sich schon destabilisierend sein muss, ist in der Queer Theorie schon relativ früh etabliert. Es kann unterdrückende Strukturen tolerieren oder sogar unterstützen. Wenn die offen lesbische AfD-Vorsitzende Alice Weidel nun vor der Bezeichnung "queer" die Flucht antritt und das bürgerliche Wesen ihrer Partnerschaft betont, demonstriert sie das sehr anschaulich. Nur wenn die konzeptuellen Konsequenzen aus einer nicht-heteronormativen Orientierung gezogen werden, stellt diese wirklich eine Herausforderung für etablierte Macht- und Denkstrukturen dar.
Historisch gesehen, haben Queer Studies in den Literatur- und Geschichtswissenschaften angefangen. Das hat dazu geführt, dass gewisse Disziplinen anfangs stark überrepräsentiert waren und viele der Texte radikale Thesen präsentieren, aber orientiert an kanonischer Literatur. Einer Achse, wie Petrus Liu in seinem Text im Band spottet, "die von Marcel Proust bis Henry James, Jane Austen und Herman Melville reicht". Lius Text zeigt sehr schön, wie mobil und produktiv die Lehren der Queer Theory sind, selbst oder gerade wenn man sie auf die Queer Theory selbst anwendet. Für ihn ist ein uneingestandenes Hauptmotiv der Queer Theory, einerseits einen "Westen" zu konstruieren, in dem Sexualität so oder so gedacht wurde. Und andererseits eben einen "Nichtwesten", durch den erst die Rede vom Westen "Bedeutung und Kohärenz erlangt". Dabei betont er, dass Queerness eigentlich beides aufbrechen müsste und könnte: die Kohärenz des "Westens" und die des Rests der Welt.
Das Bild, das sich in diesem Band ergibt, ist das einer überaus lebendigen Tradition, die seit Jahrzehnten einer intensiven Selbstkritik und Selbstbefragung fähig ist. Vielleicht können die Kritiker der Queer Studies ja von dieser zumindest das lernen: wie man Queer Studies intelligenter kritisiert.
Mike Laufenberg und Ben Trott (Hg.): "Queer Studies. Schlüsseltexte". Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Zacharias Wackwitz. Suhrkamp, 576 Seiten, 28,00 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main