Albe ist frei, und Lou sitzt noch ein Jahr im Knast. Ein von Albe mit Geld bestochener Anwalt hat ihre Texte rausgeschmuggelt, jetzt will sie sie abholen, um endlich Autorin zu werden.Vermeintliche Freunde enttäuschen sie, für viele Regionen Frankreichs hat sie ein Aufenthaltsverbot, arbeiten ist für sie keine Option, und so wird es schwer, die Zeit bis zu Lous Entlassung zu überstehen, ohne rückfällig zu werden.Albertine Sarrazin hat zeit ihres Lebens nachgedacht, über ihre Adoptiveltern, über das Leben und immer über sich selbst, um mit ihrer immensen dichterischen Erfindungskraft darüber zu schreiben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Außer Atem
Albertine Sarrazin führte ein
wildes, kurzes, tragisches Leben.
So liest sich auch ihre Prosa
VON ALEX RÜHLE
Wenn man 26 ist und gerade erst aus dem Gefängnis kommt, denkt man nicht ans Sterben. Im Gegenteil, zum ersten Mal liegt die Zukunft vor Albe wie die Weiten der Cevennen, wild, duftend, ein spannendes Versprechen. Endlich kann es losgehen, endlich das Buch fertigschreiben, das während der langen Haft schon erste Form angenommen hat. Außerdem ist ihr Geliebter Lou, auf den sie fast 200 Seiten gewartet hat, mittlerweile auch freigekommen, sie haben ein eigenes Haus, selbst wenn es nur eine Abbruchhütte in der Wildnis ist, durch die der Mistral pfeift. Und so klingen die folgenden Zeilen beim ersten Lesen wie ein souveränes Einverstandensein mit den Mühen der Armut: „Vielleicht werden wir nie vom Pont du Gard ins Wasser springen, keine Weltreise machen und die Leute, denen wir in unseren nächtlichen Träumen auf dem Strohsack den Hals umdrehen wollten, erst viel später wiedersehen (…) Wir waren einmal am Fluss, einmal im Schwimmbad, einmal im Kino, einmal beim Stierkampf, alles ein Mal, und das reicht uns.“ Wenn man aber um Albertine Sarrazins Ende weiß, bekommen die zitierten Sätze etwas von einem unheimlichen Lebensresümee.
Sie wäre heute 82, zwei Jahre älter als Annie Ernaux. Als diese 1974 ihr erstes Buch publizierte, war Sarrazin schon sieben Jahre tot. Nur, weil sie im Krankenhaus von Montpellier einem Dilettanten in die Hände fiel. Der Anästhesist hat sie nicht mal angeschaut vor der Operation, kannte weder ihr Gewicht noch ihre Blutgruppe. Nach der OP blieb er nicht im Zimmer, bis sie aufwachte und er hatte sich auch nicht darum gekümmert, dass Blutreserven vorrätig waren. So ist Albertine Sarrazin eben gestorben, nach einer eigentlich ungefährlichen Nierenoperation, alleine im Aufwachraum des Hôpital Saint-Roch, am 10. Juli 1967. Mit 29 Jahren. Was hätte sie wohl alles noch geschrieben? Immer wieder, geradezu beißend, kehrt diese Frage beim Lesen von „Querwege“, Sarrazins drittem und letztem Roman, zurück. So lässig, so poetisch, so wild und frei klingt ihre Sprache, dass Patti Smith sie ihre Lebensleitfigur nannte, „die kleine Heilige der schreibenden Außenseiter“.
Geboren wurde Albertine Sarrazin 1937 in Algier, ihre Mutter war wohl eine 15-jährige Spanierin, die sie vor einem Waisenheim ablegte. Mit eineinhalb Jahren wurde sie von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert, der Mann war ein 58-jähriger Militärarzt (und vielleicht ihr leiblicher Vater). Mit zehn wurde sie vom Adoptivonkel vergewaltigt, kurz darauf gab der „Vater“ das hochbegabte Kind in eine Besserungsanstalt. Kurz vor dem Abitur brach sie von dort aus und schlug sich nach Paris durch, wo sie sich ihren Lebensunterhalt fortan entweder zusammenklaute oder mit Prostitution verdiente. Was natürlich irgendwann ins Gefängnis führte.
Vielleicht war dieses Gefängnis ihr Glück. Schließlich hat sie dort zu schreiben angefangen. Ihre beiden Helfer waren „Bic und Nes“, Wegwerfkuli und Instantkaffee, ihre Anwältin schmuggelte die Texte heraus, Simone de Beauvoir bekam Auszüge davon in die Hände, Texte über die Träume dieses lebensgegerbten Mädchens und die Langeweile des Knastalltags und machte sich für die junge Albertine stark, die übrigens ironischerweise im Gefängnis von Pontoise saß, dem Ort, in dem 500 Jahre zuvor Francois Villon die Gefängnisliteratur erfunden hatte.
Nachdem sie freikam, schrieb sie innerhalb von zwei Jahren ihre drei Bücher, Hanser Berlin hat 2013 den ersten Band „Astragalus“ herausgegeben, aber dann anscheinend das Interesse verloren. Glücklicherweise hat Susanne Schenzle sofort zugeschlagen und in ihrem Zürcher Ink-Press-Verlag die anderen beiden Bände verlegt, 2018 „Der Ausbruch“ über die Jahre im Gefängnis, diesen Herbst erscheint nun der dritte und letzte Band „Querwege“.
Alle drei wurden übersetzt von Claudia Steinitz, der man als deutscher Leser französischer Literatur ohnehin immer wieder nur dankbar sein kann für ihre meisterliche Arbeit. So wie sie es geschafft hat, bei Virginie Despentes’ „Vernon Subutex“ jeder Figur ihre ganz eigene Tonlage zu geben, so schafft Steinitz es hier, Sarrazins jugendliche Schnoddrigkeit genauso unverstellt ins Deutsche zu übertragen wie ihre bissige Poesie. Den perfekten Sechzigerjahreslang von den Polypen bis zur Fluppe gibt’s gratis dazu.
So. Aber worum geht es überhaupt? Der erste Band, „Astragalus“, begann mit einem tiefen Fall: Die 19-jährige Anne ist von der zehn Meter hohen Gefängnismauer gesprungen, hat sich dabei den Fußknochen gebrochen, der ihrem Buch den Titel geben sollte und wurde von Julien aufgelesen, einem Mann, der selbst auf der Flucht war. Flucht- und Liebesgeschichte sind so von Anfang an ineinander verwoben, die beiden Kleinkriminellen erinnern in Charme, Eros und Witz an Jean Seberg und Belmondo in „À bout de souffle“, nur dass das hier alles tatsächlich durchlebt war, die Fluchten, die Einbrüche, das Aufeinanderangewiesensein. Am Ende des Buchs wartet ein behäbig grinsender Polizist und nimmt sie mit, zurück ins Gefängnis, alles auf null. „Der Ausbruch“ erzählte dann – erstmals in der Geschichte der Literatur aus Sicht einer Frau – von Gefängnis und dem seltsamen Zeitempfinden dort („Eine leere Minute saugt grenzenlose Ewigkeiten ein“). Interessanterweise werden beide Bücher aus der Warte einer festgesetzten, zur Passivität verdammten Beobachterin erzählt, einmal wegen des Beinbruchs, das andere Mal aus der Haft heraus. Umso erstaunlicher, wie temporeich, quecksilbrig, kapriolesk Sarrazin erzählt.
Zu guter Letzt nun also „Querwege“, geschrieben 1966. Die Erzählerin wird aus dem Gefängnis entlassen, steht auf dem Bahnsteig, „mit dem durchscheinenden Teint eines Keller-Chicorées“, und sucht alte Freunde auf. Sie sieht, wie die ehemaligen Weggefährten in Zeitlupe untergehen, sei es, weil sie in kaputten Beziehungen feststecken oder – eine Phase weiter – allein mit zwei Kindern dasitzen. Albe weiß, so will sie nie leben, sie wartet auf ihren Geliebten, jobbt bei einem Supermarkt und will schreiben, sonst nichts. „Ich schlief mit dem Heft als Kopfkissen ein, völlig ausgelaugt, aber den Kopf voller Morgenröte.“ Und so schmilzt sie ihr eigenes Leben in Texte um, verwandelt Pritschendreck in Gold und Schönheit, beschreibt die behäbigen bürgerlichen Menschen um sich herum aus weiter Ferne, mit scharfem Witz.
Als ihr Geliebter freikommt, fangen sie mühsam an, sich freizustrampeln. Lou (der in den beiden Vorgängerbänden den „echten“ Namen Julien trug) „hansdampft in allen Gassen“, um die Ruine in den Cevennen irgendwie bewohnbar zu machen, sie selbst schreibt Tag und Nacht. „Die Schlenderpausen, der schmale Grat der Zärtlichkeit, die Nachsicht des Glücks sind uns immer nur für kurze Zeit vergönnt.“ Einer der vielen Sätze, an denen man kurz innehalten möchte, um Claudia Steinitz für diese lässige Lyrik en passant aus wildwuchernden Brombeerranken einen notdürftigen Kranz zu flechten.
„Querwege“, Traversières, so heißen in Südfrankreich die Erdstreifen, die man terrassierte, um dem kargen Boden etwas abzugewinnen. Sarrazin ist elektrisiert, als sie das Wort erstmals hört, „Hindernis, Durchgang, Abkürzung, ein gekreuztes Wort, das den Wegen meines Lebens gleicht.“ Auf den Querwegen ihres Anwesens ist alles verwildert, „man bräuchte eine Machete, um sich einen Weg durch das Gewirr aus Dornen, verfilztem Gras und verdorrten Weinranken zu bahnen.“
Es ist unglaublich, was für einen blühenden Garten Albertine Sarrazin aus den kargen, kurzen Querwegen ihres Lebens geschaffen hat. Ihr drittes Buch wird mit einem Happy End gekrönt, mündet er doch in den eigenen Anfang als Autorin ein: Albe, die wie die echte Albertine keine Kinder kriegen kann und von ihren Texten als ihren Babys spricht, bekommt einen Brief aus dem fernen Paris: „Ich schließe die Augen vor den wie Sterne in meine Lider gravierten Worten: Wir freuen uns, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Manuskript angenommen wurde. Ein großes Pendel schlägt in meiner Brust die feierlichen, magischen Sekunden, jetzt kann es stehen bleiben, mein Pendel: Mein Kind ist geboren.“
Im echten Leben haben Julien und Albertine geheiratet, weil sie merkten, dass das vermeintlich freie Gangsterleben am Ende eines der unfreiesten ist: „Die Freiheit ist vielleicht eine Geschichte aufgesperrter Türschlösser, vielleicht eine Geschichte spiritueller Meisterschaft oder ganz einfach eine Geschichte von viel Geld, aber ich denke nicht, dass sie eine Geschichte des Vagabundierens sein kann.“ Albertine Sarrazin nahm noch den Prix des Quatre-Jurys in Tunis entgegen, wusste, dass sie in Paris plötzlich als neue Hoffnung gefeiert wird, fühlte sich aber im Literaturbetrieb fremd. Dann starb sie, einfach so. Zurück blieben Pläne für ein neues Romanprojekt, Tagebuchaufzeichnungen, Essays, Gedichte, Chansons. Und Julien, der sie sehr geliebt haben muss, der ihr ein wunderschönes Grabmal im Garten baute, ihren Nachlass verwaltete, und den Anästhesisten, der sie in den Tod geschludert hat, für zwei Jahre ins Gefängnis brachte.
Vielleicht war das Gefängnis
ihr Glück, schließlich
fing sie dort an zu schreiben
Albertine Sarrazin: Querwege.
Aus dem Französischen von
Claudia Steinitz.
Ink Press, Zürich 2019.
228 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Albertine Sarrazin führte ein
wildes, kurzes, tragisches Leben.
So liest sich auch ihre Prosa
VON ALEX RÜHLE
Wenn man 26 ist und gerade erst aus dem Gefängnis kommt, denkt man nicht ans Sterben. Im Gegenteil, zum ersten Mal liegt die Zukunft vor Albe wie die Weiten der Cevennen, wild, duftend, ein spannendes Versprechen. Endlich kann es losgehen, endlich das Buch fertigschreiben, das während der langen Haft schon erste Form angenommen hat. Außerdem ist ihr Geliebter Lou, auf den sie fast 200 Seiten gewartet hat, mittlerweile auch freigekommen, sie haben ein eigenes Haus, selbst wenn es nur eine Abbruchhütte in der Wildnis ist, durch die der Mistral pfeift. Und so klingen die folgenden Zeilen beim ersten Lesen wie ein souveränes Einverstandensein mit den Mühen der Armut: „Vielleicht werden wir nie vom Pont du Gard ins Wasser springen, keine Weltreise machen und die Leute, denen wir in unseren nächtlichen Träumen auf dem Strohsack den Hals umdrehen wollten, erst viel später wiedersehen (…) Wir waren einmal am Fluss, einmal im Schwimmbad, einmal im Kino, einmal beim Stierkampf, alles ein Mal, und das reicht uns.“ Wenn man aber um Albertine Sarrazins Ende weiß, bekommen die zitierten Sätze etwas von einem unheimlichen Lebensresümee.
Sie wäre heute 82, zwei Jahre älter als Annie Ernaux. Als diese 1974 ihr erstes Buch publizierte, war Sarrazin schon sieben Jahre tot. Nur, weil sie im Krankenhaus von Montpellier einem Dilettanten in die Hände fiel. Der Anästhesist hat sie nicht mal angeschaut vor der Operation, kannte weder ihr Gewicht noch ihre Blutgruppe. Nach der OP blieb er nicht im Zimmer, bis sie aufwachte und er hatte sich auch nicht darum gekümmert, dass Blutreserven vorrätig waren. So ist Albertine Sarrazin eben gestorben, nach einer eigentlich ungefährlichen Nierenoperation, alleine im Aufwachraum des Hôpital Saint-Roch, am 10. Juli 1967. Mit 29 Jahren. Was hätte sie wohl alles noch geschrieben? Immer wieder, geradezu beißend, kehrt diese Frage beim Lesen von „Querwege“, Sarrazins drittem und letztem Roman, zurück. So lässig, so poetisch, so wild und frei klingt ihre Sprache, dass Patti Smith sie ihre Lebensleitfigur nannte, „die kleine Heilige der schreibenden Außenseiter“.
Geboren wurde Albertine Sarrazin 1937 in Algier, ihre Mutter war wohl eine 15-jährige Spanierin, die sie vor einem Waisenheim ablegte. Mit eineinhalb Jahren wurde sie von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert, der Mann war ein 58-jähriger Militärarzt (und vielleicht ihr leiblicher Vater). Mit zehn wurde sie vom Adoptivonkel vergewaltigt, kurz darauf gab der „Vater“ das hochbegabte Kind in eine Besserungsanstalt. Kurz vor dem Abitur brach sie von dort aus und schlug sich nach Paris durch, wo sie sich ihren Lebensunterhalt fortan entweder zusammenklaute oder mit Prostitution verdiente. Was natürlich irgendwann ins Gefängnis führte.
Vielleicht war dieses Gefängnis ihr Glück. Schließlich hat sie dort zu schreiben angefangen. Ihre beiden Helfer waren „Bic und Nes“, Wegwerfkuli und Instantkaffee, ihre Anwältin schmuggelte die Texte heraus, Simone de Beauvoir bekam Auszüge davon in die Hände, Texte über die Träume dieses lebensgegerbten Mädchens und die Langeweile des Knastalltags und machte sich für die junge Albertine stark, die übrigens ironischerweise im Gefängnis von Pontoise saß, dem Ort, in dem 500 Jahre zuvor Francois Villon die Gefängnisliteratur erfunden hatte.
Nachdem sie freikam, schrieb sie innerhalb von zwei Jahren ihre drei Bücher, Hanser Berlin hat 2013 den ersten Band „Astragalus“ herausgegeben, aber dann anscheinend das Interesse verloren. Glücklicherweise hat Susanne Schenzle sofort zugeschlagen und in ihrem Zürcher Ink-Press-Verlag die anderen beiden Bände verlegt, 2018 „Der Ausbruch“ über die Jahre im Gefängnis, diesen Herbst erscheint nun der dritte und letzte Band „Querwege“.
Alle drei wurden übersetzt von Claudia Steinitz, der man als deutscher Leser französischer Literatur ohnehin immer wieder nur dankbar sein kann für ihre meisterliche Arbeit. So wie sie es geschafft hat, bei Virginie Despentes’ „Vernon Subutex“ jeder Figur ihre ganz eigene Tonlage zu geben, so schafft Steinitz es hier, Sarrazins jugendliche Schnoddrigkeit genauso unverstellt ins Deutsche zu übertragen wie ihre bissige Poesie. Den perfekten Sechzigerjahreslang von den Polypen bis zur Fluppe gibt’s gratis dazu.
So. Aber worum geht es überhaupt? Der erste Band, „Astragalus“, begann mit einem tiefen Fall: Die 19-jährige Anne ist von der zehn Meter hohen Gefängnismauer gesprungen, hat sich dabei den Fußknochen gebrochen, der ihrem Buch den Titel geben sollte und wurde von Julien aufgelesen, einem Mann, der selbst auf der Flucht war. Flucht- und Liebesgeschichte sind so von Anfang an ineinander verwoben, die beiden Kleinkriminellen erinnern in Charme, Eros und Witz an Jean Seberg und Belmondo in „À bout de souffle“, nur dass das hier alles tatsächlich durchlebt war, die Fluchten, die Einbrüche, das Aufeinanderangewiesensein. Am Ende des Buchs wartet ein behäbig grinsender Polizist und nimmt sie mit, zurück ins Gefängnis, alles auf null. „Der Ausbruch“ erzählte dann – erstmals in der Geschichte der Literatur aus Sicht einer Frau – von Gefängnis und dem seltsamen Zeitempfinden dort („Eine leere Minute saugt grenzenlose Ewigkeiten ein“). Interessanterweise werden beide Bücher aus der Warte einer festgesetzten, zur Passivität verdammten Beobachterin erzählt, einmal wegen des Beinbruchs, das andere Mal aus der Haft heraus. Umso erstaunlicher, wie temporeich, quecksilbrig, kapriolesk Sarrazin erzählt.
Zu guter Letzt nun also „Querwege“, geschrieben 1966. Die Erzählerin wird aus dem Gefängnis entlassen, steht auf dem Bahnsteig, „mit dem durchscheinenden Teint eines Keller-Chicorées“, und sucht alte Freunde auf. Sie sieht, wie die ehemaligen Weggefährten in Zeitlupe untergehen, sei es, weil sie in kaputten Beziehungen feststecken oder – eine Phase weiter – allein mit zwei Kindern dasitzen. Albe weiß, so will sie nie leben, sie wartet auf ihren Geliebten, jobbt bei einem Supermarkt und will schreiben, sonst nichts. „Ich schlief mit dem Heft als Kopfkissen ein, völlig ausgelaugt, aber den Kopf voller Morgenröte.“ Und so schmilzt sie ihr eigenes Leben in Texte um, verwandelt Pritschendreck in Gold und Schönheit, beschreibt die behäbigen bürgerlichen Menschen um sich herum aus weiter Ferne, mit scharfem Witz.
Als ihr Geliebter freikommt, fangen sie mühsam an, sich freizustrampeln. Lou (der in den beiden Vorgängerbänden den „echten“ Namen Julien trug) „hansdampft in allen Gassen“, um die Ruine in den Cevennen irgendwie bewohnbar zu machen, sie selbst schreibt Tag und Nacht. „Die Schlenderpausen, der schmale Grat der Zärtlichkeit, die Nachsicht des Glücks sind uns immer nur für kurze Zeit vergönnt.“ Einer der vielen Sätze, an denen man kurz innehalten möchte, um Claudia Steinitz für diese lässige Lyrik en passant aus wildwuchernden Brombeerranken einen notdürftigen Kranz zu flechten.
„Querwege“, Traversières, so heißen in Südfrankreich die Erdstreifen, die man terrassierte, um dem kargen Boden etwas abzugewinnen. Sarrazin ist elektrisiert, als sie das Wort erstmals hört, „Hindernis, Durchgang, Abkürzung, ein gekreuztes Wort, das den Wegen meines Lebens gleicht.“ Auf den Querwegen ihres Anwesens ist alles verwildert, „man bräuchte eine Machete, um sich einen Weg durch das Gewirr aus Dornen, verfilztem Gras und verdorrten Weinranken zu bahnen.“
Es ist unglaublich, was für einen blühenden Garten Albertine Sarrazin aus den kargen, kurzen Querwegen ihres Lebens geschaffen hat. Ihr drittes Buch wird mit einem Happy End gekrönt, mündet er doch in den eigenen Anfang als Autorin ein: Albe, die wie die echte Albertine keine Kinder kriegen kann und von ihren Texten als ihren Babys spricht, bekommt einen Brief aus dem fernen Paris: „Ich schließe die Augen vor den wie Sterne in meine Lider gravierten Worten: Wir freuen uns, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Manuskript angenommen wurde. Ein großes Pendel schlägt in meiner Brust die feierlichen, magischen Sekunden, jetzt kann es stehen bleiben, mein Pendel: Mein Kind ist geboren.“
Im echten Leben haben Julien und Albertine geheiratet, weil sie merkten, dass das vermeintlich freie Gangsterleben am Ende eines der unfreiesten ist: „Die Freiheit ist vielleicht eine Geschichte aufgesperrter Türschlösser, vielleicht eine Geschichte spiritueller Meisterschaft oder ganz einfach eine Geschichte von viel Geld, aber ich denke nicht, dass sie eine Geschichte des Vagabundierens sein kann.“ Albertine Sarrazin nahm noch den Prix des Quatre-Jurys in Tunis entgegen, wusste, dass sie in Paris plötzlich als neue Hoffnung gefeiert wird, fühlte sich aber im Literaturbetrieb fremd. Dann starb sie, einfach so. Zurück blieben Pläne für ein neues Romanprojekt, Tagebuchaufzeichnungen, Essays, Gedichte, Chansons. Und Julien, der sie sehr geliebt haben muss, der ihr ein wunderschönes Grabmal im Garten baute, ihren Nachlass verwaltete, und den Anästhesisten, der sie in den Tod geschludert hat, für zwei Jahre ins Gefängnis brachte.
Vielleicht war das Gefängnis
ihr Glück, schließlich
fing sie dort an zu schreiben
Albertine Sarrazin: Querwege.
Aus dem Französischen von
Claudia Steinitz.
Ink Press, Zürich 2019.
228 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Albertine Sarrazin schreibt, um von ihrem Leben sprechen zu können. Ein «authentisches» Schreiben, in Zeitnot. Eine Planung für die Zukunft gibt es nicht: Lebendig ist nur die Gegenwart. Ria Endres