In which Daniel Waterhouse, fearless thinker and courageous Puritan, pursues knowledge in the company of the greatest minds of Baroque-era Europe -- in a chaotic world where reason wars with the bloody ambitions of the mighty, and where catastrophe, natural or otherwise, can alter the political landscape overnight.
"Genius . . . You'll wish it were longer." Time magazine
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2003Vorwärts zur Aufklärung
Neal Stephensons Großroman "Quicksilver" und seine Wurzeln
Verwissenschaftlichung und Technisierung sind nicht, wie man manchmal hören muß, die Totengräber, sondern die Eltern des linguistischen Luxus. Im Zeitraum zwischen der Renaissance und dem Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts zum Beispiel hatte sich mit ihrer Hilfe der Wortschatz jener Sprache verdoppelt, die in den wissenschaftlich und industriell fortgeschrittensten Gegenden gesprochen wurde: Englisch. Bis die Literatur aufnimmt und in Kunst verwandelt, was sprachlich im übrigen Sozialen passiert, vergeht zwar manchmal eine Weile. Im Englischen aber hat das genannte Fortschrittsgeschehen immerhin eine breite, nachhaltig faszinierende Tradition gestiftet, die von den elektrisch beleuchteten "Feenpalästen" in Dickens' "Harte Zeiten" bis zu Ian R. MacLeods zauberhafter Romanparabel "The Light Ages" (2003) reicht, in der die industrielle Revolution keine der Verwissenschaftlichung, sondern eine der "Magie" und des "Äthers" war. Der wahre Äther, wissen Historiker, hieß Mathematisierung, die Magier, die ihn anzapften, waren Descartes, Galilei, Huygens, vor allem aber: Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz.
Daß diese beiden in dieser Aufzählung so einträchtig beisammenstehen, verdeckt zwar ihre mitunter unschön ausgetragenen Rivalitäten, soll hier aber ein Hinweis darauf sein, daß das Bild Newtons in den englischsprachigen Ländern so hoch nicht mehr hängt, wie man meinen sollte, Leibnizens im Ausgleich dafür jedoch etwas höher als zuvor. Sein Name hat einen guten Klang bei der wissenschaftlich-technischen Avantgarde des IT-Zeitalters: Stephen Wolfram zitiert ihn, die Science-fiction entdeckt ihn, und gut ein Jahr erst ist es her, daß der theoretische Computerwissenschaftler und Mathematiker Gregory Chaitin auf einer Deutschland-Reise zunächst vor Philosophenpublikum in Bonn, dann auf einem Kurt Gödel gewidmeten Symposion in Karlsruhe erklärte, Leibniz seien wesentliche Anregungen zum besseren Verständnis von Erscheinungen und Tiefenproblemen wie Einfachheit, Komplexität und Irreduzibilität zu verdanken. Ja, er sprach sich sogar dafür aus, die Versuche des Leibniz-Anhängers Maupertuis wiederzubeleben, eine mehr oder weniger neue Physik nach leibnizschen Prinzipien zu konstruieren, weil die den Möglichkeiten der Computer gerechter werde als die gewöhnliche. Wenn so etwas der neben A. N. Kolmogorow originellste Erforscher des Komplexitätsbegriffs im zwanzigsten Jahrhundert erzählt, darf man's zumindest ernst nehmen.
Belastet war die internationale Leibniz-Rezeption lange Zeit durch den häßlichen Prioriätenstreit zwischen Leibniz und Newton um die von beiden ungefähr gleichzeitig vollzogene Entdeckung der Infinitesimalrechnung. In den letzten Jahren haben viele kluge und inspirierende Bücher allerlei Kontexte dafür bereitgestellt: "The Creation of the modern world" (2002) des Medizinhistorikers und Aufklärungsforschers Roy Porter half dabei, zu verstehen, daß und warum Newton kein ganz so unbedingter Antiobskurantist war, wie man meinen sollte, ja im Alter mit Werken wie den biblisch-astronomischen "Observations on the Prophecies" von 1733 durchaus Verschrobenes unternahm. Jessica Riskins wertvolle Studie "Science in the Age of Sensibility" (2002) erläuterte überzeugend, daß der Empirismus der Früh- und Hochaufklärung keineswegs ein früher Positivismus war, sondern gerade in Gestalt Newtons durchaus dem "Dunklen", Mythischen seinen Platz in der Kosmogonie zuwies, wofür interessanterweise Leute wie Voltaire und Hume dem Autor der "Principia Mathematica" höchsten Respekt zollten. Jonathan Israels einzigartiges Opus magnum "Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750" (2001) schließlich hat im Rahmen seines Breitwand-Schlachtengemäldes zum Weltbürgerkrieg der Rationalismen daran erinnert, daß Leibniz zwar der erste war, der Newtons experimentell-mathematische Synthese begrüßte, aber doch auch in anderen Fragen als denen der wissenschaftlichen Priorität mit dem großen Engländer haderte: Leibniz glaubte an kein Vakuum in der Natur - die Newtonianer schon -, und er lehnte auch den absoluten Raum ab (in ersterer Frage hat die Zeit ihm unrecht gegeben, in letzterer recht; die Zeit hieß vor allem Albert Einstein).
Leibniz und Newton als Paten
Nach diesem Vorspiel unter Gelehrten ist jetzt die Kunst an der Reihe: Ein neuer Roman über Leibniz und Newton ist erschienen, die zwei "Säulen des Herkules" der Neuzeit, wie sich eine der Romanfiguren ausdrückt. Als Verfasser zeichnet der (ehemalige?) Science-fiction-Autor Neal Stephenson, der 1999 mit seiner Code-Epopöe "Cryptonomicon" beeindruckte. Das Buch heißt "Quicksilver" und ist der erste Band einer Trilogie, die "The Baroque Cycle" heißen soll. Sowohl die "New York Times Book Review" wie das "Times Literary Supplement" haben dem Werk die Ehre sorgfältiger ganzseitiger Rezensionen erwiesen, zeigen sich aber noch unschlüssig im Urteil, wollen die übrigen Bände abwarten. Und das ist nun etwa so, wie wenn ein Kinobesucher nach zehn Minuten Spektakel, in denen drei Morde, ein Erdbeben, fünf philosophische Fragen von äußerster Brisanz, ein Dutzend Spezialeffekte und mehrere überraschende Plot-Wendungen vorkommen, konstatierte, es sei noch zu früh, den Film für aufregend zu befinden, man solle doch das Ende abwarten. Denn bombastischer als Stephenson kann man nicht hochgehen lassen, was in jener Epoche an erkenntnishistorischem Sprengstoff in lauter frühmodernen sozioökonomischen Sprungfedern eingerollt war.
Das Neunhundert-Seiten-Ungeheuer beginnt 1713 in Boston, wo der Kundschafter Enoch Root, Mitglied der Royal Society, Geheimagent der Weltvernunft und so etwas wie die Natural Philosophy zu Pferde, Daniel Waterhouse sucht, einen zurückgezogenen Gelehrten, der an einer von Leibnizschen Ideen beeinflußten Maschine baut, die wir heute wohl einen Computer nennen würden. Aus komplizierten dynastischen und strategischen Gründen wünscht eine einflußreiche Adlige die Versöhnung von Leibniz und Newton; Waterhouse ward ausersehen, sie zu bewerkstelligen, denn außer Leibnizianer ist er ein Jugendfreund Newtons (und ein Schüler des Klerikers John Wilkins, der das Rätselbuch aller Rätselbücher geschrieben hat: "Cryptonomicon").
Eine zweite Handlungsebene wird besetzt vom sympathischen Schurken Jack Shaftoe, auch er, wie Waterhouse, Vorfahr von Figuren, die man als Stephenson-Leser kennen kann. Shaftoe kämpft 1683 bei Wien gegen die Türken und befreit eine gewisse Eliza aus dem Serail eines Wesirs, die später eine Spionin in der langen Linie wird, die von Aphra Behn bis Mata Hari führt. Natürlich ist auch das soldatische und das Spionagegeschäft zu mathematisieren, wenn es neuzeitlich werden will: Dazu eben braucht der Plot das Finanzgenie Eliza, wie Waterhouse darin ein wichtiges Instrument jener Produktivkraftumwälzung ist, an der uns Stephenson durch die Schilderung von Huygens' Pendeluhr, neuartigen Tierexperimenten und Newtons Kurvenerläuterungen teilnehmen läßt.
Was ist der moderne Mensch?
Sein ästhetisch-philosophisches Ziel dabei ist nichts Geringes: ein Porträt des dezidiert neuzeitlichen Menschen, das er vom revisionistischen schlechten Gewissen des zwanzigsten Jahrhunderts zu säubern wünscht, welches mit einer Modernität nichts mehr zu tun haben wollte, die angeblich den Zweiten Weltkrieg, die Schoa und die Atombombe notwendig mit sich brachte. Ganz recht: Wenn man sie auf diese Formel verkürzt, klingt die (post-)moderne Vernunftkritik genau so blöde, wie Leibniz sie vermutlich auch gefunden hätte.
Die Aufklärung, klagen subtilere Varianten, hat nebst anderem Unheil jene "Wissenschaften vom Menschen" verbrochen, die dann umgekehrt den "Menschen der Wissenschaft" zeugen mußten, um ihn in allerlei moderne Maschinen, Gefängnisse und Krankenhäuser einzusperren. Die Meta-Geistesgeschichtler, die solches lehrten, waren anfangs einverstanden mit dem Etikett "Strukturalisten", später mußte ein "Post-" davor, weil sie sich gegen den naheliegenden Einwand, die Sache sei doch ein bißchen komplexer, mit der Idee verteidigten, es gehe ihnen ja eigentlich doch nicht um die vielen schönen Analogien und Korrespondenzen zwischen Denk- und Sozialstrukturen, die sie aufgelistet hatten, sondern um "die Macht" oder etwas anderes, das jene Strukturen gesetzt habe und schon dadurch jenseits von Gut und Böse stehe. Das müsse einen als Philosophen (sie meinten: Nietzscheaner) doch interessieren. Der Rest waren fade Aufgüsse simplizistischer Gewalttheorien à la Eugen Dühring und dann bald die penetranten verdeckten Moralgefechte des postmodernen Kulturalismus.
So eine Geschichtskarikatur ist für jemanden wie Stephenson nicht satisfaktionsfähig, und auch bei den zitierten neuen Aufklärungsforschern läßt man sie auf sich beruhen - weder bei Porter noch bei Riskin noch bei Israel spielt die gedankenersparende Anrufung des Namens "Michel Foucault" eine Rolle.
Es gibt in "Quicksilver" eine wunderbare Stelle, an der ein junger Neugieriger protestiert, er sei kein Calvinist, denn er lese keine Scholastiker, die Religionsreformer "interessieren sich alle noch für die Streitigkeiten der Puritaner und ihrer Gegner", er schon nicht mehr. Hofft man zuviel, wenn man das Buch einer Kultur zuordnet, die verlangt, daß wir mit unseren wissenschaftlich-technischen Potentialen demokratisch, modern, vernünftig umgehen, einer Kultur also, deren Intellektuelle Turing lesen, Stephen J. Gould und seinen Widersacher Dawkins, Ernst Mayr, Gregory Chaitin, Stephen Wolfram, David Corfield, und das nicht einmal unbedingt anstelle von Foucault und Adorno, sondern, sagen wir: zusätzlich?
Ein Glück: Diese Kultur gibt es. Stephenson gehört wirklich dazu, und sie meint er, wenn er fromm von der Frühaufklärung schwärmt. Wovon wäre denn auch sonst zu schwärmen, zu einer Zeit, da die zivilisatorische Mission des Abendlands George W. Bush heißt, die fabelhafte Europa-Idee allein in den letzten zehn Jahren viertausend Flüchtlinge an ihren Grenzen hat sterben lassen und Friedenspreise wieder zu Instrumenten der Nothilfe in Religionsstreitigkeiten werden, als ginge es immer noch um Puritaner und ihre Gegner?
Was unsere Computer tun, ist von Leibniz so weit weg wie ein Atomkraftwerk von Demokrit und Epikur - immerhin, der zeitliche Abstand von der Wahrheit zur Wirklichkeit wird kürzer. In dieser Lage muß uns nicht so sehr der Begriff der Aufklärung interessieren, sondern die soziale Tatsache, die damit gemeint war: Der Weg durch all die Kriege vom Dreißig- bis zum Siebenjährigen, die wirtschaftlichen Veränderungen des Frühkapitalismus von Manufaktur bis Fabrik. Zweiter Weltkrieg bis Bagdad, Kolonien bis Globalisierung: Wenn wir Glück gehabt haben werden, wenn die Menschen ihre Geschichte eines Tages selbst verantworten, könnten all die Katastrophen Geburtswehen gewesen sein, Auspizien neuer "Light Ages" anstatt - nicht weniger wahrscheinlich - scheußliche Vorboten nachgeschichtlicher Finsternis.
DIETMAR DATH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neal Stephensons Großroman "Quicksilver" und seine Wurzeln
Verwissenschaftlichung und Technisierung sind nicht, wie man manchmal hören muß, die Totengräber, sondern die Eltern des linguistischen Luxus. Im Zeitraum zwischen der Renaissance und dem Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts zum Beispiel hatte sich mit ihrer Hilfe der Wortschatz jener Sprache verdoppelt, die in den wissenschaftlich und industriell fortgeschrittensten Gegenden gesprochen wurde: Englisch. Bis die Literatur aufnimmt und in Kunst verwandelt, was sprachlich im übrigen Sozialen passiert, vergeht zwar manchmal eine Weile. Im Englischen aber hat das genannte Fortschrittsgeschehen immerhin eine breite, nachhaltig faszinierende Tradition gestiftet, die von den elektrisch beleuchteten "Feenpalästen" in Dickens' "Harte Zeiten" bis zu Ian R. MacLeods zauberhafter Romanparabel "The Light Ages" (2003) reicht, in der die industrielle Revolution keine der Verwissenschaftlichung, sondern eine der "Magie" und des "Äthers" war. Der wahre Äther, wissen Historiker, hieß Mathematisierung, die Magier, die ihn anzapften, waren Descartes, Galilei, Huygens, vor allem aber: Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz.
Daß diese beiden in dieser Aufzählung so einträchtig beisammenstehen, verdeckt zwar ihre mitunter unschön ausgetragenen Rivalitäten, soll hier aber ein Hinweis darauf sein, daß das Bild Newtons in den englischsprachigen Ländern so hoch nicht mehr hängt, wie man meinen sollte, Leibnizens im Ausgleich dafür jedoch etwas höher als zuvor. Sein Name hat einen guten Klang bei der wissenschaftlich-technischen Avantgarde des IT-Zeitalters: Stephen Wolfram zitiert ihn, die Science-fiction entdeckt ihn, und gut ein Jahr erst ist es her, daß der theoretische Computerwissenschaftler und Mathematiker Gregory Chaitin auf einer Deutschland-Reise zunächst vor Philosophenpublikum in Bonn, dann auf einem Kurt Gödel gewidmeten Symposion in Karlsruhe erklärte, Leibniz seien wesentliche Anregungen zum besseren Verständnis von Erscheinungen und Tiefenproblemen wie Einfachheit, Komplexität und Irreduzibilität zu verdanken. Ja, er sprach sich sogar dafür aus, die Versuche des Leibniz-Anhängers Maupertuis wiederzubeleben, eine mehr oder weniger neue Physik nach leibnizschen Prinzipien zu konstruieren, weil die den Möglichkeiten der Computer gerechter werde als die gewöhnliche. Wenn so etwas der neben A. N. Kolmogorow originellste Erforscher des Komplexitätsbegriffs im zwanzigsten Jahrhundert erzählt, darf man's zumindest ernst nehmen.
Belastet war die internationale Leibniz-Rezeption lange Zeit durch den häßlichen Prioriätenstreit zwischen Leibniz und Newton um die von beiden ungefähr gleichzeitig vollzogene Entdeckung der Infinitesimalrechnung. In den letzten Jahren haben viele kluge und inspirierende Bücher allerlei Kontexte dafür bereitgestellt: "The Creation of the modern world" (2002) des Medizinhistorikers und Aufklärungsforschers Roy Porter half dabei, zu verstehen, daß und warum Newton kein ganz so unbedingter Antiobskurantist war, wie man meinen sollte, ja im Alter mit Werken wie den biblisch-astronomischen "Observations on the Prophecies" von 1733 durchaus Verschrobenes unternahm. Jessica Riskins wertvolle Studie "Science in the Age of Sensibility" (2002) erläuterte überzeugend, daß der Empirismus der Früh- und Hochaufklärung keineswegs ein früher Positivismus war, sondern gerade in Gestalt Newtons durchaus dem "Dunklen", Mythischen seinen Platz in der Kosmogonie zuwies, wofür interessanterweise Leute wie Voltaire und Hume dem Autor der "Principia Mathematica" höchsten Respekt zollten. Jonathan Israels einzigartiges Opus magnum "Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750" (2001) schließlich hat im Rahmen seines Breitwand-Schlachtengemäldes zum Weltbürgerkrieg der Rationalismen daran erinnert, daß Leibniz zwar der erste war, der Newtons experimentell-mathematische Synthese begrüßte, aber doch auch in anderen Fragen als denen der wissenschaftlichen Priorität mit dem großen Engländer haderte: Leibniz glaubte an kein Vakuum in der Natur - die Newtonianer schon -, und er lehnte auch den absoluten Raum ab (in ersterer Frage hat die Zeit ihm unrecht gegeben, in letzterer recht; die Zeit hieß vor allem Albert Einstein).
Leibniz und Newton als Paten
Nach diesem Vorspiel unter Gelehrten ist jetzt die Kunst an der Reihe: Ein neuer Roman über Leibniz und Newton ist erschienen, die zwei "Säulen des Herkules" der Neuzeit, wie sich eine der Romanfiguren ausdrückt. Als Verfasser zeichnet der (ehemalige?) Science-fiction-Autor Neal Stephenson, der 1999 mit seiner Code-Epopöe "Cryptonomicon" beeindruckte. Das Buch heißt "Quicksilver" und ist der erste Band einer Trilogie, die "The Baroque Cycle" heißen soll. Sowohl die "New York Times Book Review" wie das "Times Literary Supplement" haben dem Werk die Ehre sorgfältiger ganzseitiger Rezensionen erwiesen, zeigen sich aber noch unschlüssig im Urteil, wollen die übrigen Bände abwarten. Und das ist nun etwa so, wie wenn ein Kinobesucher nach zehn Minuten Spektakel, in denen drei Morde, ein Erdbeben, fünf philosophische Fragen von äußerster Brisanz, ein Dutzend Spezialeffekte und mehrere überraschende Plot-Wendungen vorkommen, konstatierte, es sei noch zu früh, den Film für aufregend zu befinden, man solle doch das Ende abwarten. Denn bombastischer als Stephenson kann man nicht hochgehen lassen, was in jener Epoche an erkenntnishistorischem Sprengstoff in lauter frühmodernen sozioökonomischen Sprungfedern eingerollt war.
Das Neunhundert-Seiten-Ungeheuer beginnt 1713 in Boston, wo der Kundschafter Enoch Root, Mitglied der Royal Society, Geheimagent der Weltvernunft und so etwas wie die Natural Philosophy zu Pferde, Daniel Waterhouse sucht, einen zurückgezogenen Gelehrten, der an einer von Leibnizschen Ideen beeinflußten Maschine baut, die wir heute wohl einen Computer nennen würden. Aus komplizierten dynastischen und strategischen Gründen wünscht eine einflußreiche Adlige die Versöhnung von Leibniz und Newton; Waterhouse ward ausersehen, sie zu bewerkstelligen, denn außer Leibnizianer ist er ein Jugendfreund Newtons (und ein Schüler des Klerikers John Wilkins, der das Rätselbuch aller Rätselbücher geschrieben hat: "Cryptonomicon").
Eine zweite Handlungsebene wird besetzt vom sympathischen Schurken Jack Shaftoe, auch er, wie Waterhouse, Vorfahr von Figuren, die man als Stephenson-Leser kennen kann. Shaftoe kämpft 1683 bei Wien gegen die Türken und befreit eine gewisse Eliza aus dem Serail eines Wesirs, die später eine Spionin in der langen Linie wird, die von Aphra Behn bis Mata Hari führt. Natürlich ist auch das soldatische und das Spionagegeschäft zu mathematisieren, wenn es neuzeitlich werden will: Dazu eben braucht der Plot das Finanzgenie Eliza, wie Waterhouse darin ein wichtiges Instrument jener Produktivkraftumwälzung ist, an der uns Stephenson durch die Schilderung von Huygens' Pendeluhr, neuartigen Tierexperimenten und Newtons Kurvenerläuterungen teilnehmen läßt.
Was ist der moderne Mensch?
Sein ästhetisch-philosophisches Ziel dabei ist nichts Geringes: ein Porträt des dezidiert neuzeitlichen Menschen, das er vom revisionistischen schlechten Gewissen des zwanzigsten Jahrhunderts zu säubern wünscht, welches mit einer Modernität nichts mehr zu tun haben wollte, die angeblich den Zweiten Weltkrieg, die Schoa und die Atombombe notwendig mit sich brachte. Ganz recht: Wenn man sie auf diese Formel verkürzt, klingt die (post-)moderne Vernunftkritik genau so blöde, wie Leibniz sie vermutlich auch gefunden hätte.
Die Aufklärung, klagen subtilere Varianten, hat nebst anderem Unheil jene "Wissenschaften vom Menschen" verbrochen, die dann umgekehrt den "Menschen der Wissenschaft" zeugen mußten, um ihn in allerlei moderne Maschinen, Gefängnisse und Krankenhäuser einzusperren. Die Meta-Geistesgeschichtler, die solches lehrten, waren anfangs einverstanden mit dem Etikett "Strukturalisten", später mußte ein "Post-" davor, weil sie sich gegen den naheliegenden Einwand, die Sache sei doch ein bißchen komplexer, mit der Idee verteidigten, es gehe ihnen ja eigentlich doch nicht um die vielen schönen Analogien und Korrespondenzen zwischen Denk- und Sozialstrukturen, die sie aufgelistet hatten, sondern um "die Macht" oder etwas anderes, das jene Strukturen gesetzt habe und schon dadurch jenseits von Gut und Böse stehe. Das müsse einen als Philosophen (sie meinten: Nietzscheaner) doch interessieren. Der Rest waren fade Aufgüsse simplizistischer Gewalttheorien à la Eugen Dühring und dann bald die penetranten verdeckten Moralgefechte des postmodernen Kulturalismus.
So eine Geschichtskarikatur ist für jemanden wie Stephenson nicht satisfaktionsfähig, und auch bei den zitierten neuen Aufklärungsforschern läßt man sie auf sich beruhen - weder bei Porter noch bei Riskin noch bei Israel spielt die gedankenersparende Anrufung des Namens "Michel Foucault" eine Rolle.
Es gibt in "Quicksilver" eine wunderbare Stelle, an der ein junger Neugieriger protestiert, er sei kein Calvinist, denn er lese keine Scholastiker, die Religionsreformer "interessieren sich alle noch für die Streitigkeiten der Puritaner und ihrer Gegner", er schon nicht mehr. Hofft man zuviel, wenn man das Buch einer Kultur zuordnet, die verlangt, daß wir mit unseren wissenschaftlich-technischen Potentialen demokratisch, modern, vernünftig umgehen, einer Kultur also, deren Intellektuelle Turing lesen, Stephen J. Gould und seinen Widersacher Dawkins, Ernst Mayr, Gregory Chaitin, Stephen Wolfram, David Corfield, und das nicht einmal unbedingt anstelle von Foucault und Adorno, sondern, sagen wir: zusätzlich?
Ein Glück: Diese Kultur gibt es. Stephenson gehört wirklich dazu, und sie meint er, wenn er fromm von der Frühaufklärung schwärmt. Wovon wäre denn auch sonst zu schwärmen, zu einer Zeit, da die zivilisatorische Mission des Abendlands George W. Bush heißt, die fabelhafte Europa-Idee allein in den letzten zehn Jahren viertausend Flüchtlinge an ihren Grenzen hat sterben lassen und Friedenspreise wieder zu Instrumenten der Nothilfe in Religionsstreitigkeiten werden, als ginge es immer noch um Puritaner und ihre Gegner?
Was unsere Computer tun, ist von Leibniz so weit weg wie ein Atomkraftwerk von Demokrit und Epikur - immerhin, der zeitliche Abstand von der Wahrheit zur Wirklichkeit wird kürzer. In dieser Lage muß uns nicht so sehr der Begriff der Aufklärung interessieren, sondern die soziale Tatsache, die damit gemeint war: Der Weg durch all die Kriege vom Dreißig- bis zum Siebenjährigen, die wirtschaftlichen Veränderungen des Frühkapitalismus von Manufaktur bis Fabrik. Zweiter Weltkrieg bis Bagdad, Kolonien bis Globalisierung: Wenn wir Glück gehabt haben werden, wenn die Menschen ihre Geschichte eines Tages selbst verantworten, könnten all die Katastrophen Geburtswehen gewesen sein, Auspizien neuer "Light Ages" anstatt - nicht weniger wahrscheinlich - scheußliche Vorboten nachgeschichtlicher Finsternis.
DIETMAR DATH
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[A] massive tour-de-force- Dense, witty, erudite, packed with fascinating characters, and gripping despite a distended length, Quicksilver is both a worthy prequel to Cryptonomicon, and an indication that Stephenson's Baroque Cycle is shaping up to be a far more impressive literary endeavour than most so-called "serious" fiction - No scholarly, and intellectually provocative, historical novel has been this much fun since The Name of the Rose. Charles Shaar Murray Independent