Produktdetails
  • Verlag: C.H.Beck
  • ISBN-13: 9783406392085
  • ISBN-10: 3406392083
  • Artikelnr.: 24048461
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.1995

Italien ohne Italiener
Die Krise hat Ursachen in alter Zeit: noch eine verspätete Nation

Jens Petersen: Quo vadis, Italia? Ein Staat in der Krise. Beck'sche Reihe 1108, Verlag C. H. Beck, München 1995. 210 Seiten, 19,80 Mark.

Von allen westeuropäischen Ländern erlebte Italien nach 1989 und vor allem seit 1992 die meisten Erschütterungen. Auf den 210 Seiten seiner jüngsten Buchveröffentlichung entwirft Jens Petersen ein bestechendes und überzeugendes Bild der italienischen Staatskrise, die zum Abtreten einer ganzen politischen Klasse und zum Umbau des gesamten Parteiensystems geführt hat. Mit analytischer Schärfe und Fingerspitzengefühl untersucht er die vielfältigen Faktoren, die zum Ausbruch der Krise beigetragen haben, und gewichtet ihren jeweiligen Anteil an den Veränderungen im politischen System der italienischen Republik. Anders als so mancher Schnell-und Vielschreiber, der sich keine Gedanken über den eigenen Zugang zum Gegenstand der Darstellung macht, setzt sich Petersen gleich zu Anfang mit dem ItalienBild der Deutschen, mit deutsch-italienischen Mentalitäten, Vorurteilen und Feindbildern auseinander.

Kurz läßt er eine Reihe von Stationen Revue passieren. Die "späte" nationale Einigung beider Länder in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, Faschismus und Nationalsozialismus, die "Achse Berlin-Rom", Resistenza und Besatzung 1943-45, die Jahre des Nachkriegsbooms, Italiener als "Gastarbeiter" in Wolfsburg und anderswo, Deutsche als Touristen an adriatischen und ligurischen Stränden; dann 1968 und die Italien-Sehnsucht westdeutscher Linker, schließlich die italienische Reaktion auf die Maueröffnung und die Wiedervereinigung.

Im nächsten Kapitel zeichnet Petersen nach, wie die "verspätete Nation" Italien sich selbst - nicht zuletzt in der Abgrenzung von anderen Nationen - wahrnahm und wahrnimmt. Petersen zitiert einen Ausspruch des liberalen Ministerpräsidenten d'Azeglio, wonach Italien bereits geschaffen sei, die Italiener jedoch noch geschaffen werden müßten. "Man hat kalkuliert", fügt der Autor hinzu, "daß 1860 kaum mehr als zwei Prozent der Italiener Italienisch sprechen konnten. Die vorherrschende Realität war die der Dialekte und der Sondersprachen: Sardisch, Sizilianisch, Neapolitanisch bis hin zu Piemontesisch und Venezianisch." Der Anteil der tatsächlich Italienisch sprechenden "Italiener" an der Gesamtbevölkerung entsprach ungefähr dem Anteil der Wahlberechtigten bei den ersten Wahlen im geeinten Königreich. Erst mit der Wahlrechtsreform Giovanni Giolittis stieg die Zahl der Wahlberechtigten 1912 auf über 20 Prozent. Mussolini führte das Frauenwahlrecht ein, als es schon nicht mehr viel zu wählen gab.

Die Faschisten deuteten den kosmopolitischen Risorgimento-Nationalismus um und verformten ihn gewaltsam. Petersen erinnert an den hauptstädtischen "Altar des Vaterlandes", im 19. Jahrhundert Europas größtes und teuerstes Nationaldenkmal, das heute von den Römern respektlos als "Schreibmaschine" bespöttelt wird. Lauten die beiden Inschriften auf dem Denkmal "Nationale Einheit" und "Bürgerfreiheit", so riß Mussolini diese Ideale des Risorgimento auseinander und opferte die Freiheit der "nationalen Größe".

Die zwei faschistischen Jahrzehnte endeten im totalen Zusammenbruch; der 8. September 1943, die Kapitulation Italiens vor den Alliierten und die Besetzung von zwei Dritteln des Landes durch die Deutschen bilden einen der tiefsten Einschnitte in der italienischen Geschichte. Plötzlich war die nationale Einheit wieder verspielt; die Apenninenhalbinsel wurde zum Schauplatz eines Krieges, der in sich mehrere bewaffnete Konflikte barg: Westliche Alliierte kämpften gegen NS-Deutschland, italienische Partisanen gegen die deutschen Besatzer und Mussolinis "Republik von Salò", Industrie- und Landarbeiter, Kleinbauern, Pächter gegen Industrielle und Grundbesitzer.

Ein neues Nationalbewußtsein war Ausgangspunkt und Resultat des Widerstands gegen den Faschismus: "Das Wort Vaterland bekam endlich wieder einen humanen und brüderlichen Sinn", schrieb ein Florentiner Jurist 1943 in sein Tagebuch. Der Resistenza-Mythos entwickelte sich zu einer Art Zivilreligion der italienischen Nachkriegsrepublik, erkenntlich an Denkmälern, Museen und Straßennamen ebenso wie am Datum des Nationalfeiertags - der 25. April als Tag der Befreiung von Faschismus und Nationalsozialismus ersetzte die früheren Festtage des Risorgimento und der Monarchie. Allerdings habe, so Petersen, die Resistenza inzwischen in Italien selbst viel von ihrer Bedeutung als positives Leitbild verloren.

Daß auf die "legale" Einigung Italiens keine "reale" Integration der italienischen Gesellschaft folgte, zeigt der Autor in zwei weiteren, mit "Großkriminalität" und "Nord-Süd-Dualismus" überschriebenen Kapiteln. Die historischen Bruchstellen, Verwerfungen und Frontlinien sind für den Außenstehenden nur schwer wahrzunehmen: Da distanzieren sich Norditaliener - Petersen nennt als prägnantes Beispiel den piemontesischen Starjournalisten Giorgio Bocca - bisweilen in durchaus verletzender Manier und Absicht vom "verlorenen" Mezzogiorno, um im nächsten Moment wieder die "nationale Einheit" zu beschwören. Oder sie verhelfen - wie der Gründer und charismatische Führer der Lega Nord, Umberto Bossi - den vulgärsten antisüdlichen Stereotypen zur Hochkonjunktur, um sich dann mit der klassischen Partei der Mezzogiorno-Protestwähler, Finis MSI/Alleanza Nazionale, zusammenzutun.

Daß die Spielarten des rechten Populismus, dessen bekanntester Protagonist der Medienmogul Silvio Berlusconi ist, überhaupt eine solche Anziehungskraft entfalten konnten, hängt mit den "Jahren des Schlamms" (anni di fango) zusammen, die in Italien auf die "bleiernen Jahre" (anni di piombo) des Brigate-Rosse-Terrorismus folgten. Im Jahrzehnt zwischen 1980 und 1990 gerieten insbesondere die Parteien der damals amtierenden Fünferkoalition (Christ- und Sozialdemokraten, Craxi-Sozialisten, Republikaner und Liberale), in geringerem Umfang auch die oppositionellen Kommunisten, in einen Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft, der alles bis dahin Denkbare in den Schatten stellte. Sehr instruktiv sind die Seiten, die Petersen den Enthüllungen der als Volkshelden gefeierten Mailänder Richter und Staatsanwälte um Antonio Di Pietro widmet. Deren Offensive nahm ähnliche Dimensionen an wie die Aufdeckung der Stasi-Machenschaften in der Endphase der DDR. Offenbar in Analogie zum deutschen Herbst 1989 spricht der Verfasser dann auch von einer "Revolution".

Nicht bis ins letzte geklärt ist, warum vor allem das vom Autor etwas unglücklich als "Triumvirat des Neuen" etikettierte Bündnis aus Bossi, Fini und Berlusconi von der Paralyse des alten Systems profitierte und warum seit 1992 mit Berlusconi ein Hauptnutznießer der "Jahre des Schlamms" einen kometenhaften politischen Aufstieg feiern konnte. Man wird daran erinnern müssen, daß seit 1789 auf europäische "Revolutionen", die nicht schon im Entstehen niedergeworfen wurden, binnen weniger Jahre ein "Thermidor", ein "Bonapartismus" oder Schlimmeres folgte. Andererseits hatten die Triumvirate schon in der Antike nur so lange Bestand, wie die gemeinsamen Interessen der Triumvirn überwogen. Dies Risiko, daß nämlich der aktuelle Teil seines Buches durch aktuellere Geschehnisse überholt sein könnte, mußte Petersen eingehen. Es wird durch die gründlich recherchierten und glänzend niedergeschriebenen strukturellen Kapitel mehr als ausgeglichen. ROLF WÖRSDÖRFER

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