Zunächst 12 Stories, viele davon in nostalgischer Rückschau auf die freizügigen sechziger Jahre ("Ich konnte mich gefahrlos nachts um eins mit einer Frau verabreden, weil ich wußte, daß ihr Mann dann mit meiner Frau schläft"), Erinnerungen an die Mutter, den Vater, die Katzen der Kindheit, auch eigenwillige psychologische Stücke wie die vom SPIEGEL vorab gedruckte ´Metamorphosis´. Ein neuer Bech. Höhepunkt ist Rabbit Remembered, eine weitere Folge der Familiengeschichte der Angstroms, ohne den toten Helden in persona aber als stets gegenwärtigen, mit einem virtuosen Thanksgiving Dinner, das vom freundlichen Plausch zu heftigem Familienstreit eskaliert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.11.2002Es wird alles gut
Das Gespenst: John Updikes Rabbit hat seinen Tod überlebt
Vor zehn Jahren hat John Updike seinen Helden einfach sterben lassen, mit 56 erst, aber immerhin nach einer letzten Affäre (mit seiner Schwiegertochter) und also halbwegs glücklich. So blieben Rabbit die Unbilden des Alters erspart, und der Autor musste seinen Liebling nicht beim körperlichen, also vor allem beim sexuellen Niedergang beobachten. Der Freibeuter wäre sonst womöglich den Weg aller Irdischen gegangen: „Wenn das Testosteron sich verabschiedet, bleibt man mit hängendem Kopf und spirituellem Ventil zurück.”
Vier Romane lang hat Updike diesem Harry Angstrom gewidmet, ihn begleitet auf seiner amerikanischen Lebensbahn vom Vorführer von Küchengeräten über den Setzer, dann den Autoverkäufer bis zum reichen Frühpensionär in karierten Hosen. Dick und kurzatmig ist Harry dabei geworden, und mit ihm die USA, reich, satt, und doch voller Gier auf mehr. Der Updik-Leser, der aus diesen Romanen alles über Amerika erfuhr, was die Nachrichten, Bush und Richard Rorty ihm vorenthalten, das „Werkeltagsleben”, wie es bei Ludwig Thoma heißt, sah sich auf Updikes Hobbies verwiesen. Gern nämlich schreibt er umständliche Romane über exotische („Brasilien”) oder sehr antiquarisch gewordene Themen („Gott und die Wilmots”), die tatsächlich besser in Sachbüchern behandelt werden.
Zyankali in der Speiseröhre
Vor einer Woche erst ist „Seek My Face” erschienen, ein wieder ziemlich anämischer Roman über die New Yorker Kunstszene der 50er und 60er Jahre, collagiert aus Biografien und Anthologien und offenbar eine weitere Diatribe gegen die moderne Kunst, gegen die Updike schon in den „Hexen von Eastwick” Recht haben wollte. Zwischendurch kehrt wenigstens seine andere Spielfigur wieder, Henry Bech, anders als Updike ein eher glückloser Schriftsteller, der, ohne im deutschen Feuilleton Anstoß oder auch nur Aufsehen zu erregen, einen verhassten Kritiker vor die einfahrende U-Bahn boxt oder sich nach dem Mord an einer Rezensentin daran weidet, wie „das schrecklich schmeckende Zyankali in ihre Speiseröhre schnitt”.
Gestorben aber war Rabbit, der Picaro, der Landstörzer, die Registriermaschine. Vor zwei Jahren ist er in dem Erzählband „Licks of Love” wieder erstanden. Unter dem Titel „A Sequel, Rabbit Remembered” war der edle Heimgegangene wieder mitten unter uns. In der jetzt erschienen deutschen Übersetzung ist das vertraute Gefühl sofort wieder da, denn Rabbit verbreitet sofort Unruhe. Seine Witwe Janice hat seinen besten Freund geheiratet, mit dessen Frau Harry ebenfalls ein Verhältnis hatte. Harrys Sohn Nelson, der aus seiner Kokain-Phase erstanden und Therapeut geworden ist, wohnt bei ihnen. Seine Frau ist mit den Kindern zurück in ihre Heimatstadt. Plötzlich steht eine Annabelle vor der Tür, für Janice „seine Abgesandte aus dem Grabe”, denn sie erklärt sich als Harry Angstroms Tochter, Ergebnis seiner ersten Flucht vor vierzig Jahren.
Es gibt Ärger, der, sehr amerikanisch, beim Thanksgiving-Dinner kulminiert, aber zum Anbruch des neuen Jahrtausends – das Buch endet kurz nach Silvester 1999 – ist alles wieder gut. Mit unerbittlicher Liebe nimmt sich Updike noch einmal seiner Figuren an, feiert die alten Zeiten der vergangenen Abenteuer, aber ohne Harry ist alles nichts. Das muss sein Erfinder selber gespürt haben, darum er beschwört er ihn nicht bloß ständig in den Erinnerungen seiner Frauen, Freunde und Kinder, sondern lässt ihn einmal sogar als Gespenst auftreten.
Ein weiterer Wiedergänger ist der ehebrecherische Freibeuter Bill Clinton, den Nelsons Stiefvater hasst. „Was dich an Clinton so fuchst, ist, dass er sich scheinbar alles erlauben kann. Wie mein Va-ter.” An einer sonst fast ausschließlich republikanischen Tafel hätte Annabelle dem Präsidenten gern als Gnade erwiesen, was den anderen als nationale Schande erscheint: „Ja, es ist sehr schade, dass er – dass er ein bisschen Zuneigung brauchte, aber vielleicht hat er ein Recht darauf gehabt.”
Wie früher kann Updike noch die graueste, die gräulichste Alltagswelt mit seinen nabokovschen Metaphern verschönern. Wenn sich etwa Nelsons Eltern stritten, wurde sein „kleines Gesicht immer ganz weiß vor Sorge, sah aus wie eine Seifenblase, die versucht, nicht zu platzen”. Noch immer kann er alles einfangen, kann das amerikanische Panorama beschreiben, vor dem sich die Geschichte abspielt, kann der jeweils aktuellen Kinoreklame ebenso viel Aufmerksamkeit widmen wie dem obsessiven Verhältnis Amerikas zum blow-job oder zum Tod. Im ersten „Rabbitt”-Roman, setzt die beschwipste Janice ihre Tochter in der Badewanne. „Wie zwei breite Hände greift das Wasser um ihre Arme, und vor ihren verwunderten Augen geht das rosa Baby wie ein grauer Stein unter.”
Auf dem Friedhof, vierzig Jahre später, hat das rosa Baby Becky „einen kleineren älteren taubengrauen Stein', keine Lebensdaten, nur eine Zahl, 1959. Der Erzähler dieser Totenwache ist nicht frei von Selbstironie, wenn er über Janice' neuen Mann sagt: „Dauernd in die Kirche gehen, aber mit den Gedanken immer zwischen den Beinen sein.” Im ersten Rabbit kamen die philosophische Belehrungen noch von Pascal. Diesmal schenkt Ronnie Harrison seinem vorsichtig ödipussierenden Stiefsohn Nelson zu Weihnachten ein Buch mit Lebensweisheiten aus der mobilen Hausapotheke des Dalai Lama: „Unser Leben ist eine einzige Bewegung zum Glück hin.”
Das klingt sehr bedenklich. Das Zerrissene, Schuldbeladene, das wahrscheinlich Rabbit weniger als seinen Autor quälte, hat sich in einem quasi- esoterischen Einsundalles aufgelöst. Dieser Rabbit stammt zwar nicht von Beatrix Potter, aber er ist auch ein Märchenbuch. Für den 43-jährigen Nelson erschöpft sich Sex in den e-mail-Witzen, die er mit seinem pubertierenden Sohn tauscht. Einmal schaut er seiner Nachbarin ins Schlafzimmer und bewundert sie im BH. Das Unsichere, Suchende, nervös Witternde, das Harry Angstrom einst den Spitznamen „Rabbit” eintrug, endet im Familienglück. Der Unruhestifter Rabbit musste dafür allerdings sterben.
Rabbit war ein richtiger Teufel, lüstete jeder Schürze nach und jedem Nackenflaum, wenn er sich nur weiblich kräuselte und am meisten, wenn er des Nachbarn Weib gehörte. Als Updikes Geschöpf suchte er dabei immer seine Tochter, suchte die gestorbene Becky. Er wird erlöst erst zehn Jahre nach seinem Tod, als Annabelle an der Tür klingelt und Rabbits Witwe noch einmal demütigt. Annabelle fleht um Verzeihung für Rabbits Fehltritt, für ihre Existenz. Nelson möchte die nachträgliche Absolution für seinen Vater erwirken, und sei's, weil er selber kein Talent zum Picaro hat. Nelsons Vater hätte auch die Tochter noch begehrt, der Sohn traut sich nicht, verkuppelt sie an einen Schulfreund und wird den Brautführer machen. So ist zuletzt die Familie, nach vier Jahrzehnten weitläufig zerstreut, über Kreuz verbandelt und zerstritten, in einem großväterlichen Rauchglasbild zusammengeführt.
Nur Rabbit fehlt. Dieser amerikanische Odysseus, der in einem posthumen Gutachten der vollversiegelten Therapeutensprache als „narzisstisch beeinträchtigt” gilt, hätte aus dieser schneerieseligen Weihnachtswelt sofort Reißaus genommen, wäre aufgebrochen zu neuen Abenteuern und neuen Frauen. Und die Frauen, jung und alt, sie hätten sich aufs Neue in ihn verliebt.
WILLI
WINKLER
JOHN UPDIKE: Rabbit, eine Rückkehr. Deutsch von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 254 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Das Gespenst: John Updikes Rabbit hat seinen Tod überlebt
Vor zehn Jahren hat John Updike seinen Helden einfach sterben lassen, mit 56 erst, aber immerhin nach einer letzten Affäre (mit seiner Schwiegertochter) und also halbwegs glücklich. So blieben Rabbit die Unbilden des Alters erspart, und der Autor musste seinen Liebling nicht beim körperlichen, also vor allem beim sexuellen Niedergang beobachten. Der Freibeuter wäre sonst womöglich den Weg aller Irdischen gegangen: „Wenn das Testosteron sich verabschiedet, bleibt man mit hängendem Kopf und spirituellem Ventil zurück.”
Vier Romane lang hat Updike diesem Harry Angstrom gewidmet, ihn begleitet auf seiner amerikanischen Lebensbahn vom Vorführer von Küchengeräten über den Setzer, dann den Autoverkäufer bis zum reichen Frühpensionär in karierten Hosen. Dick und kurzatmig ist Harry dabei geworden, und mit ihm die USA, reich, satt, und doch voller Gier auf mehr. Der Updik-Leser, der aus diesen Romanen alles über Amerika erfuhr, was die Nachrichten, Bush und Richard Rorty ihm vorenthalten, das „Werkeltagsleben”, wie es bei Ludwig Thoma heißt, sah sich auf Updikes Hobbies verwiesen. Gern nämlich schreibt er umständliche Romane über exotische („Brasilien”) oder sehr antiquarisch gewordene Themen („Gott und die Wilmots”), die tatsächlich besser in Sachbüchern behandelt werden.
Zyankali in der Speiseröhre
Vor einer Woche erst ist „Seek My Face” erschienen, ein wieder ziemlich anämischer Roman über die New Yorker Kunstszene der 50er und 60er Jahre, collagiert aus Biografien und Anthologien und offenbar eine weitere Diatribe gegen die moderne Kunst, gegen die Updike schon in den „Hexen von Eastwick” Recht haben wollte. Zwischendurch kehrt wenigstens seine andere Spielfigur wieder, Henry Bech, anders als Updike ein eher glückloser Schriftsteller, der, ohne im deutschen Feuilleton Anstoß oder auch nur Aufsehen zu erregen, einen verhassten Kritiker vor die einfahrende U-Bahn boxt oder sich nach dem Mord an einer Rezensentin daran weidet, wie „das schrecklich schmeckende Zyankali in ihre Speiseröhre schnitt”.
Gestorben aber war Rabbit, der Picaro, der Landstörzer, die Registriermaschine. Vor zwei Jahren ist er in dem Erzählband „Licks of Love” wieder erstanden. Unter dem Titel „A Sequel, Rabbit Remembered” war der edle Heimgegangene wieder mitten unter uns. In der jetzt erschienen deutschen Übersetzung ist das vertraute Gefühl sofort wieder da, denn Rabbit verbreitet sofort Unruhe. Seine Witwe Janice hat seinen besten Freund geheiratet, mit dessen Frau Harry ebenfalls ein Verhältnis hatte. Harrys Sohn Nelson, der aus seiner Kokain-Phase erstanden und Therapeut geworden ist, wohnt bei ihnen. Seine Frau ist mit den Kindern zurück in ihre Heimatstadt. Plötzlich steht eine Annabelle vor der Tür, für Janice „seine Abgesandte aus dem Grabe”, denn sie erklärt sich als Harry Angstroms Tochter, Ergebnis seiner ersten Flucht vor vierzig Jahren.
Es gibt Ärger, der, sehr amerikanisch, beim Thanksgiving-Dinner kulminiert, aber zum Anbruch des neuen Jahrtausends – das Buch endet kurz nach Silvester 1999 – ist alles wieder gut. Mit unerbittlicher Liebe nimmt sich Updike noch einmal seiner Figuren an, feiert die alten Zeiten der vergangenen Abenteuer, aber ohne Harry ist alles nichts. Das muss sein Erfinder selber gespürt haben, darum er beschwört er ihn nicht bloß ständig in den Erinnerungen seiner Frauen, Freunde und Kinder, sondern lässt ihn einmal sogar als Gespenst auftreten.
Ein weiterer Wiedergänger ist der ehebrecherische Freibeuter Bill Clinton, den Nelsons Stiefvater hasst. „Was dich an Clinton so fuchst, ist, dass er sich scheinbar alles erlauben kann. Wie mein Va-ter.” An einer sonst fast ausschließlich republikanischen Tafel hätte Annabelle dem Präsidenten gern als Gnade erwiesen, was den anderen als nationale Schande erscheint: „Ja, es ist sehr schade, dass er – dass er ein bisschen Zuneigung brauchte, aber vielleicht hat er ein Recht darauf gehabt.”
Wie früher kann Updike noch die graueste, die gräulichste Alltagswelt mit seinen nabokovschen Metaphern verschönern. Wenn sich etwa Nelsons Eltern stritten, wurde sein „kleines Gesicht immer ganz weiß vor Sorge, sah aus wie eine Seifenblase, die versucht, nicht zu platzen”. Noch immer kann er alles einfangen, kann das amerikanische Panorama beschreiben, vor dem sich die Geschichte abspielt, kann der jeweils aktuellen Kinoreklame ebenso viel Aufmerksamkeit widmen wie dem obsessiven Verhältnis Amerikas zum blow-job oder zum Tod. Im ersten „Rabbitt”-Roman, setzt die beschwipste Janice ihre Tochter in der Badewanne. „Wie zwei breite Hände greift das Wasser um ihre Arme, und vor ihren verwunderten Augen geht das rosa Baby wie ein grauer Stein unter.”
Auf dem Friedhof, vierzig Jahre später, hat das rosa Baby Becky „einen kleineren älteren taubengrauen Stein', keine Lebensdaten, nur eine Zahl, 1959. Der Erzähler dieser Totenwache ist nicht frei von Selbstironie, wenn er über Janice' neuen Mann sagt: „Dauernd in die Kirche gehen, aber mit den Gedanken immer zwischen den Beinen sein.” Im ersten Rabbit kamen die philosophische Belehrungen noch von Pascal. Diesmal schenkt Ronnie Harrison seinem vorsichtig ödipussierenden Stiefsohn Nelson zu Weihnachten ein Buch mit Lebensweisheiten aus der mobilen Hausapotheke des Dalai Lama: „Unser Leben ist eine einzige Bewegung zum Glück hin.”
Das klingt sehr bedenklich. Das Zerrissene, Schuldbeladene, das wahrscheinlich Rabbit weniger als seinen Autor quälte, hat sich in einem quasi- esoterischen Einsundalles aufgelöst. Dieser Rabbit stammt zwar nicht von Beatrix Potter, aber er ist auch ein Märchenbuch. Für den 43-jährigen Nelson erschöpft sich Sex in den e-mail-Witzen, die er mit seinem pubertierenden Sohn tauscht. Einmal schaut er seiner Nachbarin ins Schlafzimmer und bewundert sie im BH. Das Unsichere, Suchende, nervös Witternde, das Harry Angstrom einst den Spitznamen „Rabbit” eintrug, endet im Familienglück. Der Unruhestifter Rabbit musste dafür allerdings sterben.
Rabbit war ein richtiger Teufel, lüstete jeder Schürze nach und jedem Nackenflaum, wenn er sich nur weiblich kräuselte und am meisten, wenn er des Nachbarn Weib gehörte. Als Updikes Geschöpf suchte er dabei immer seine Tochter, suchte die gestorbene Becky. Er wird erlöst erst zehn Jahre nach seinem Tod, als Annabelle an der Tür klingelt und Rabbits Witwe noch einmal demütigt. Annabelle fleht um Verzeihung für Rabbits Fehltritt, für ihre Existenz. Nelson möchte die nachträgliche Absolution für seinen Vater erwirken, und sei's, weil er selber kein Talent zum Picaro hat. Nelsons Vater hätte auch die Tochter noch begehrt, der Sohn traut sich nicht, verkuppelt sie an einen Schulfreund und wird den Brautführer machen. So ist zuletzt die Familie, nach vier Jahrzehnten weitläufig zerstreut, über Kreuz verbandelt und zerstritten, in einem großväterlichen Rauchglasbild zusammengeführt.
Nur Rabbit fehlt. Dieser amerikanische Odysseus, der in einem posthumen Gutachten der vollversiegelten Therapeutensprache als „narzisstisch beeinträchtigt” gilt, hätte aus dieser schneerieseligen Weihnachtswelt sofort Reißaus genommen, wäre aufgebrochen zu neuen Abenteuern und neuen Frauen. Und die Frauen, jung und alt, sie hätten sich aufs Neue in ihn verliebt.
WILLI
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JOHN UPDIKE: Rabbit, eine Rückkehr. Deutsch von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 254 Seiten, 19,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Denn alles Fleisch kriegt nie genug
Vom Eise befreit: John Updike holt Rabbit, seinen Lieblingsspieler, aus dem Kühlhaus zurück ins Leben / Von Patrick Bahners
Genug. Das war Rabbits letztes Wort gewesen, der letzte Satz des letzten der vier Romane John Updikes über Harry Angstrom, der wie ein Hase Haken schlagen konnte auf dem Basketballfeld in der Schule, der über alles in der Welt hinwegkam und doch nie hinauskam über Brewer, Pennsylvania, seine Vaterstadt. Genug. Ein Sterbenswörtchen. Ausgesprochen hatte er es nicht. Aus seinem Munde sollte niemand die Scheideworte des greisen Priesters hören, der den neugeborenen Jesus auf Händen getragen hatte. Ich habe genug: Kein Abgang für einen Champion. Er glaubte zwar an Gott, spürte, daß er nicht allein in der Welt war. Aber eben in der Welt. Das Hoffen dieses Frommen war nicht auf ein Jenseits gerichtet. Er hatte keinen Sinn für das Mysterium der Inkarnation, daß Gott die Schuld der Menschen auf sich genommen hatte. Welche Schuld? Wenn jemand schuld daran war, daß vor dreißig Jahren in seinem Haus seine Tochter in der Badewanne ertrunken war und daß zehn Jahre später in seinem Haus, einem anderen Haus, ein anderes Mädchen verbrannt war, dann war es ja wohl Gott. Rabbit war nicht dagewesen, Rabbit war doch weggelaufen.
Genug. Nicht Harry Angstrom gab mit diesem Ausatmen seinen Geist auf, sondern der Erzähler von "Rabbit at Rest". Der letzte Satz, der Harry über die Lippen kam, galt seinem Sohn. "Nun, Nelson, ich kann dir nur sagen: So schlecht ist es nicht." Aber was? Das Sterben? Oder das Leben? Wie den Unterschied machen, wenn danach doch nichts mehr kam? Jede Transzendenzerfahrung warf Harry zurück in eine Immanenz, deren Spielräume sich wundersam weiteten, so daß er davon nicht genug bekommen konnte. Das kurze Abenteuer seines Daseins hienieden: eine einzige ewige Nahtodeserfahrung. Mit sechsundfünfzig Jahren hat es ihn dann erwischt.
Schon zehn Jahre zuvor hatte er seinen Frieden mit der Welt gemacht, sich in ein Glück gefügt, das ihm seine Sterblichkeit vor Augen stellte. Wie Simeon hatte er ein Kind auf seine begierigen Arme genommen. Aber es war kein Knabe, in dem er sein Heil erblickte, sondern, natürlich, ein weibliches Geschöpf, das ihm endlich die begrabene Tochter ersetzte. "Eine Enkeltochter. Seine. Ein weiterer Nagel zu seinem Sarg. Sein." So endete "Rabbit is Rich". Seine, seinem, sein: im Englischen ein Wort, "his". Festhalten und Fahrenlassen waren eins. Der Besitz der Nachkommenschaft nahm dem Tod seinen Stachel. Reich war Rabbit zu guter Letzt wie ein Patriarch des Alten Testaments, beschenkt mit einem Kindersegen, mit dem er nicht mehr hatte rechnen dürfen, ein Nomadenfürst, der abgrast, wo er nicht gesät hat. Ein Räuber: Indem er seine Enkelin gleichsam adoptierte, nahm er sie ihrem Vater weg.
Zehn Jahre später, als der letzte Nagel eingeschlagen ist, derselbe doppeldeutige Reflex. Er hat genug. Wovon? Hat er alles, was er braucht? Oder braucht er nichts mehr? Vergeblich versuchte er, seinem Sohn noch etwas mitzugeben. Nelson sollte erfahren, daß er eine Schwester hat. In der Nacht, als das Baby starb, war Rabbit zu der Frau gelaufen, mit der er eine zweite Tochter gezeugt hatte. Diese Tochter wollte er dem Sohn hinterlassen, dessen Kind er entwendet hatte: ein Akt der Wiedergutmachung, der keinem schlechten Gewissen entsprang, sondern einem Instinkt für die richtige Bewegung, die natürliche Zuordnung, der letzte, perfekte Paß des Meisterwerfers, bevor er vom Platz ging.
Es war noch nicht genug. Als Auslaufmodell war Rabbit gestartet: ein weißer Basketballstar. Nun nimmt er es von jenseits des Grabes mit Michael Jordan auf. John Updike schickt seinen Lieblingsspieler noch einmal aufs Feld. Für eine Erzählung reicht die Kondition nach vier Romanen allemal noch aus. Rabbit, ein Comeback: So hätte der deutsche Verlag das Buch nennen sollen, wenn ihm der amerikanische Titel "Rabbit Remembered" zu elegisch klang.
Die Erinnerungen kehren nicht von selbst zurück. Glauben die Hinterbliebenen. Rabbit war einmal. Sie haben neu angefangen. "Fresh Start" steht an der Tür, durch die Nelson jeden Morgen geht: Der Erbe des Riesenegoisten hat sich zur Sozialarbeit bekehrt. Janice, die Witwe, hat den Namen Angstrom abgelegt und Ronnie Harrison geheiratet, Harrys Rivalen aus frühesten Trainingstagen. "Die Zeit hat den spektakulären Mann zu Pulver zermahlen, in nur zehn Jahren." Eine Moritat singen sie im Familienkreis von dieser Pulverisierung. Auf dem Heimweg zur Beerdigung vergaßen sie die Urne auf dem Sims eines Motels. Später, routiniert im Zurückblicken, formulierten sie die Moral der Geschichte: Unbewußt nahmen sie Rache an dem Vater, der sie so oft verlassen hatte. Mit "schooled hindsight" betrachten sie ihr Schicksal, als hätten sie die Romane gelesen, deren Figuren sie sind. Sie sind übriggeblieben. Daß sie dem Geschehenen die simpelste Deutung geben, ist ihr gutes Recht. Die Wahrheit der Erzählung von ihrem Erzählen wird in der Trivialpsychologie nicht aufgehen, deren Geständnisse jene Entsorgung der unheimlichen Gegenwart des Vergangenen wiederholen, die sie aufdecken.
Aber zu den Hinterbliebenen, die allein die Tatsache ihres Überlebens zu einem entspannten Übermut verführt, gehört der Autor. Leichthändig kommen diese Variationen über die Leitmotive der Tetralogie daher, Fingerübung eines Virtuosen, der nicht mehr üben muß. Einen Schriftsteller, der mehr oder weniger alles könne, was er wolle, nannte Martin Amis den Verfasser von "Rabbit is Rich". Mit dem vorliegenden Büchlein zeigt Updike nun, daß er auch als sein eigener Epigone sein Niveau hält. Seit jeher haben die epischen Stoffe der Weltliteratur die Fortfabulierer angezogen. So viele Fäden lassen die Nornen fallen, die zum Verknoten einladen: Wie erging es den Helden des Trojanischen Krieges nach ihrer Heimkehr? Was war denn nun mit der Schwester, die Rabbit in die Obhut seines Sohnes geben wollte? Eines Tages stand sie bei Janice vor der Haustür. Daß man eine lange Geschichte so kurz machen kann, ist ein Scherz, den Updike sich auf seine und auf Rabbits Kosten gestattet. Sein Leben lang versuchte Harry heimlich zu ermitteln, ob das großgewachsene Mädchen vom Lande, das einmal mit einem Bauernjungen in seinem Toyota-Geschäft erschienen war, wirklich die Tochter sein konnte, die Ruth, seine Geliebte, vor ihm versteckt hatte. Und kaum ist Harry zehn Jahre tot, da betreibt Ruth von ihrem Totenbett aus plötzlich Familienzusammenführung! Wo gibt's denn so was? Im Fernsehen.
Nicht Bücher sind der Stoff, aus dem die amerikanischen Träume sind, sondern Fernsehserien. In "Rabbit Redux", dem zweiten Roman, erkennt sich der Held im Lone Ranger wieder - genauer gesagt, was charakteristisch ist für sein Gefühl, eine aussterbende Art zu vertreten, in einer Fernsehparodie der in seiner Jugend über das Radio ausgestrahlten Westernserie. Die Handlung von "Rabbit Remembered" kulminiert in der Silvesternacht 1999. Zu den Toten, derer die Feiernden flüchtig gedenken, gehört der Lone Ranger. Tatsächlich war Clayton Moore, der Originaldarsteller, am 28. Dezember 1999 gestorben. Durch Koinzidenzen dieser Art, die Updike sich in allen jeweils zehn Jahre vorwärts springenden Kapiteln der Saga zunutze macht, webt Amerika an seinem Mythos mit.
Ob Updike sich durch einen solchen Wink der Geschichte hat überzeugen lassen, daß vier Teile, das Maß von Wagners "Ring", nicht genug waren? Es war zu verführerisch, den Instinktmenschen und Überlebenskünstler Clinton, dem die Männer alles vorwerfen und die Frauen nichts übelnehmen, als Wiedergänger Rabbits zu deuten. Beim Thanksgiving-Essen verteidigt Nelson Clinton - und damit seinen Vater gleich doppelt, der Nixon aus demselben Urgefühl einer Loyalität in Schutz zu nehmen pflegte, die zwischen Amt und Person zu trennen sich weigert. Der Präsident verkörpert Amerika, ist Fleisch vom Fleisch der Bürger. Als faules Fleisch, das im Kühlschrank verrottet, "dead meat", beschimpft ihn einer von Nelsons Stiefbrüdern. Im Bilderkosmos des Zyklus verbirgt der Kühlschrank das Geheimnis der Sexualität. Der Vitalität des Leibes konnten Clintons wie Rabbits Gegner nicht beikommen, sooft auch von den Kanzeln herab ihr Fleisch totgesagt werden mochte.
Rabbits Nachleben, das trotz überschaubarer Länge episodisch, als Patchwork angelegt ist, erinnert an Spezialfolgen beliebter Fernsehserien, für die nach Jahren der Sendepause das bewährte Personal, ohne den einen oder anderen Verstorbenen, noch einmal vor die Kamera gebeten wird. Gedreht wurde in den Originalkulissen, die mit der Zeit noch weiter heruntergekommen sind. Brewer, Pennsylvania, die Eisenbahnstadt, der Harry nie entkommen ist, ist schon immer ein Bild des industriellen Niedergangs gewesen. Aber wo die finsteren Fabrikruinen als zweite Natur noch Heimatgefühle weckten, da liegt nun eine Schicht absoluter Künstlichkeit über der Stadt, ein Plastiküberzug in einer grellen, schäbigen Farbe. In der Mitte der Stadt, aus der die Kaufhäuser verschwunden sind, erstreckt sich ein großes orangenes Loch. Orange sind die Regenanzüge der Polizisten, die Fassade des Bürobedarf-Discounters, die Stühle der Sozialstation, die Haare, die eine Kollegin Nelsons nach dem Vorbild einer Figur aus den "Simpsons" trägt. Orange war auch der Toyota Corolla, den der Freund von Rabbits Tochter kaufte. Orange ist die Farbe des Unglücks - der Herzschlagmeßlinien an Rabbits Totenbett, der Strumpfhosen, die seine schwangere Schwiegertochter trug, als ihr Sohn sie die Treppe hinunterstieß, des Drecks, der die betrunkene Janice dazu trieb, ihr Baby in die Badewanne zu tauchen.
Damals hatte sie das Gefühl, es sei noch jemand im Haus. Der heimlich heimgekehrte Harry? Oder der Tod? Es kam nicht darauf an. Ruth nannte ihn "Mr. Death", und bei der Probefahrt mit seiner Tochter und ihrem Freund nahm er auf dem Beifahrersitz Platz, dem "death seat". Als nun Nelson und seine neue Schwester in der letzten Stunde des letzten Tages des Jahrtausends ziellos die Stadtmitte von Brewer ansteuern, da ist es wieder so, als wäre da im Auto ein Dritter. Fast kommt es zu einer Karambolage, doch der andere Fahrer bremst, und sie springen dem Tod von der Schippe. "Nelson erschauert, als werde er gerade von einem streitsüchtigen Geist verlassen." War es der Geist seines Vaters?
Als Harry Angstrom zum erstenmal davonlief, 1959, da hörte er im Autoradio vom chinesischen Einmarsch in Tibet. Der Aufenthaltsort des Dalai Lama sei unbekannt. Vierzig Jahre später erhält Nelson von seinem Stiefvater ein Buch des Dalai Lama zu Weihnachten. Das Autorenfoto erinnert ihn an seinen Vater. Für Brewer gibt es Hoffnung. Die Biotechnologie boomt, erfährt Nelson von seinem Sohn. Man arbeitet an der Gentransplantation. Die Allgemeingültigkeit von Rabbits Gesetz, daß die Väter in ihren Kindern wiederkehren, wird dadurch nicht bedroht. Es ist spiritueller Natur: das Mysterium der Reinkarnation. Tod. Leben. Alles. Eins.
John Updike: "Rabbit, eine Rückkehr". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Eise befreit: John Updike holt Rabbit, seinen Lieblingsspieler, aus dem Kühlhaus zurück ins Leben / Von Patrick Bahners
Genug. Das war Rabbits letztes Wort gewesen, der letzte Satz des letzten der vier Romane John Updikes über Harry Angstrom, der wie ein Hase Haken schlagen konnte auf dem Basketballfeld in der Schule, der über alles in der Welt hinwegkam und doch nie hinauskam über Brewer, Pennsylvania, seine Vaterstadt. Genug. Ein Sterbenswörtchen. Ausgesprochen hatte er es nicht. Aus seinem Munde sollte niemand die Scheideworte des greisen Priesters hören, der den neugeborenen Jesus auf Händen getragen hatte. Ich habe genug: Kein Abgang für einen Champion. Er glaubte zwar an Gott, spürte, daß er nicht allein in der Welt war. Aber eben in der Welt. Das Hoffen dieses Frommen war nicht auf ein Jenseits gerichtet. Er hatte keinen Sinn für das Mysterium der Inkarnation, daß Gott die Schuld der Menschen auf sich genommen hatte. Welche Schuld? Wenn jemand schuld daran war, daß vor dreißig Jahren in seinem Haus seine Tochter in der Badewanne ertrunken war und daß zehn Jahre später in seinem Haus, einem anderen Haus, ein anderes Mädchen verbrannt war, dann war es ja wohl Gott. Rabbit war nicht dagewesen, Rabbit war doch weggelaufen.
Genug. Nicht Harry Angstrom gab mit diesem Ausatmen seinen Geist auf, sondern der Erzähler von "Rabbit at Rest". Der letzte Satz, der Harry über die Lippen kam, galt seinem Sohn. "Nun, Nelson, ich kann dir nur sagen: So schlecht ist es nicht." Aber was? Das Sterben? Oder das Leben? Wie den Unterschied machen, wenn danach doch nichts mehr kam? Jede Transzendenzerfahrung warf Harry zurück in eine Immanenz, deren Spielräume sich wundersam weiteten, so daß er davon nicht genug bekommen konnte. Das kurze Abenteuer seines Daseins hienieden: eine einzige ewige Nahtodeserfahrung. Mit sechsundfünfzig Jahren hat es ihn dann erwischt.
Schon zehn Jahre zuvor hatte er seinen Frieden mit der Welt gemacht, sich in ein Glück gefügt, das ihm seine Sterblichkeit vor Augen stellte. Wie Simeon hatte er ein Kind auf seine begierigen Arme genommen. Aber es war kein Knabe, in dem er sein Heil erblickte, sondern, natürlich, ein weibliches Geschöpf, das ihm endlich die begrabene Tochter ersetzte. "Eine Enkeltochter. Seine. Ein weiterer Nagel zu seinem Sarg. Sein." So endete "Rabbit is Rich". Seine, seinem, sein: im Englischen ein Wort, "his". Festhalten und Fahrenlassen waren eins. Der Besitz der Nachkommenschaft nahm dem Tod seinen Stachel. Reich war Rabbit zu guter Letzt wie ein Patriarch des Alten Testaments, beschenkt mit einem Kindersegen, mit dem er nicht mehr hatte rechnen dürfen, ein Nomadenfürst, der abgrast, wo er nicht gesät hat. Ein Räuber: Indem er seine Enkelin gleichsam adoptierte, nahm er sie ihrem Vater weg.
Zehn Jahre später, als der letzte Nagel eingeschlagen ist, derselbe doppeldeutige Reflex. Er hat genug. Wovon? Hat er alles, was er braucht? Oder braucht er nichts mehr? Vergeblich versuchte er, seinem Sohn noch etwas mitzugeben. Nelson sollte erfahren, daß er eine Schwester hat. In der Nacht, als das Baby starb, war Rabbit zu der Frau gelaufen, mit der er eine zweite Tochter gezeugt hatte. Diese Tochter wollte er dem Sohn hinterlassen, dessen Kind er entwendet hatte: ein Akt der Wiedergutmachung, der keinem schlechten Gewissen entsprang, sondern einem Instinkt für die richtige Bewegung, die natürliche Zuordnung, der letzte, perfekte Paß des Meisterwerfers, bevor er vom Platz ging.
Es war noch nicht genug. Als Auslaufmodell war Rabbit gestartet: ein weißer Basketballstar. Nun nimmt er es von jenseits des Grabes mit Michael Jordan auf. John Updike schickt seinen Lieblingsspieler noch einmal aufs Feld. Für eine Erzählung reicht die Kondition nach vier Romanen allemal noch aus. Rabbit, ein Comeback: So hätte der deutsche Verlag das Buch nennen sollen, wenn ihm der amerikanische Titel "Rabbit Remembered" zu elegisch klang.
Die Erinnerungen kehren nicht von selbst zurück. Glauben die Hinterbliebenen. Rabbit war einmal. Sie haben neu angefangen. "Fresh Start" steht an der Tür, durch die Nelson jeden Morgen geht: Der Erbe des Riesenegoisten hat sich zur Sozialarbeit bekehrt. Janice, die Witwe, hat den Namen Angstrom abgelegt und Ronnie Harrison geheiratet, Harrys Rivalen aus frühesten Trainingstagen. "Die Zeit hat den spektakulären Mann zu Pulver zermahlen, in nur zehn Jahren." Eine Moritat singen sie im Familienkreis von dieser Pulverisierung. Auf dem Heimweg zur Beerdigung vergaßen sie die Urne auf dem Sims eines Motels. Später, routiniert im Zurückblicken, formulierten sie die Moral der Geschichte: Unbewußt nahmen sie Rache an dem Vater, der sie so oft verlassen hatte. Mit "schooled hindsight" betrachten sie ihr Schicksal, als hätten sie die Romane gelesen, deren Figuren sie sind. Sie sind übriggeblieben. Daß sie dem Geschehenen die simpelste Deutung geben, ist ihr gutes Recht. Die Wahrheit der Erzählung von ihrem Erzählen wird in der Trivialpsychologie nicht aufgehen, deren Geständnisse jene Entsorgung der unheimlichen Gegenwart des Vergangenen wiederholen, die sie aufdecken.
Aber zu den Hinterbliebenen, die allein die Tatsache ihres Überlebens zu einem entspannten Übermut verführt, gehört der Autor. Leichthändig kommen diese Variationen über die Leitmotive der Tetralogie daher, Fingerübung eines Virtuosen, der nicht mehr üben muß. Einen Schriftsteller, der mehr oder weniger alles könne, was er wolle, nannte Martin Amis den Verfasser von "Rabbit is Rich". Mit dem vorliegenden Büchlein zeigt Updike nun, daß er auch als sein eigener Epigone sein Niveau hält. Seit jeher haben die epischen Stoffe der Weltliteratur die Fortfabulierer angezogen. So viele Fäden lassen die Nornen fallen, die zum Verknoten einladen: Wie erging es den Helden des Trojanischen Krieges nach ihrer Heimkehr? Was war denn nun mit der Schwester, die Rabbit in die Obhut seines Sohnes geben wollte? Eines Tages stand sie bei Janice vor der Haustür. Daß man eine lange Geschichte so kurz machen kann, ist ein Scherz, den Updike sich auf seine und auf Rabbits Kosten gestattet. Sein Leben lang versuchte Harry heimlich zu ermitteln, ob das großgewachsene Mädchen vom Lande, das einmal mit einem Bauernjungen in seinem Toyota-Geschäft erschienen war, wirklich die Tochter sein konnte, die Ruth, seine Geliebte, vor ihm versteckt hatte. Und kaum ist Harry zehn Jahre tot, da betreibt Ruth von ihrem Totenbett aus plötzlich Familienzusammenführung! Wo gibt's denn so was? Im Fernsehen.
Nicht Bücher sind der Stoff, aus dem die amerikanischen Träume sind, sondern Fernsehserien. In "Rabbit Redux", dem zweiten Roman, erkennt sich der Held im Lone Ranger wieder - genauer gesagt, was charakteristisch ist für sein Gefühl, eine aussterbende Art zu vertreten, in einer Fernsehparodie der in seiner Jugend über das Radio ausgestrahlten Westernserie. Die Handlung von "Rabbit Remembered" kulminiert in der Silvesternacht 1999. Zu den Toten, derer die Feiernden flüchtig gedenken, gehört der Lone Ranger. Tatsächlich war Clayton Moore, der Originaldarsteller, am 28. Dezember 1999 gestorben. Durch Koinzidenzen dieser Art, die Updike sich in allen jeweils zehn Jahre vorwärts springenden Kapiteln der Saga zunutze macht, webt Amerika an seinem Mythos mit.
Ob Updike sich durch einen solchen Wink der Geschichte hat überzeugen lassen, daß vier Teile, das Maß von Wagners "Ring", nicht genug waren? Es war zu verführerisch, den Instinktmenschen und Überlebenskünstler Clinton, dem die Männer alles vorwerfen und die Frauen nichts übelnehmen, als Wiedergänger Rabbits zu deuten. Beim Thanksgiving-Essen verteidigt Nelson Clinton - und damit seinen Vater gleich doppelt, der Nixon aus demselben Urgefühl einer Loyalität in Schutz zu nehmen pflegte, die zwischen Amt und Person zu trennen sich weigert. Der Präsident verkörpert Amerika, ist Fleisch vom Fleisch der Bürger. Als faules Fleisch, das im Kühlschrank verrottet, "dead meat", beschimpft ihn einer von Nelsons Stiefbrüdern. Im Bilderkosmos des Zyklus verbirgt der Kühlschrank das Geheimnis der Sexualität. Der Vitalität des Leibes konnten Clintons wie Rabbits Gegner nicht beikommen, sooft auch von den Kanzeln herab ihr Fleisch totgesagt werden mochte.
Rabbits Nachleben, das trotz überschaubarer Länge episodisch, als Patchwork angelegt ist, erinnert an Spezialfolgen beliebter Fernsehserien, für die nach Jahren der Sendepause das bewährte Personal, ohne den einen oder anderen Verstorbenen, noch einmal vor die Kamera gebeten wird. Gedreht wurde in den Originalkulissen, die mit der Zeit noch weiter heruntergekommen sind. Brewer, Pennsylvania, die Eisenbahnstadt, der Harry nie entkommen ist, ist schon immer ein Bild des industriellen Niedergangs gewesen. Aber wo die finsteren Fabrikruinen als zweite Natur noch Heimatgefühle weckten, da liegt nun eine Schicht absoluter Künstlichkeit über der Stadt, ein Plastiküberzug in einer grellen, schäbigen Farbe. In der Mitte der Stadt, aus der die Kaufhäuser verschwunden sind, erstreckt sich ein großes orangenes Loch. Orange sind die Regenanzüge der Polizisten, die Fassade des Bürobedarf-Discounters, die Stühle der Sozialstation, die Haare, die eine Kollegin Nelsons nach dem Vorbild einer Figur aus den "Simpsons" trägt. Orange war auch der Toyota Corolla, den der Freund von Rabbits Tochter kaufte. Orange ist die Farbe des Unglücks - der Herzschlagmeßlinien an Rabbits Totenbett, der Strumpfhosen, die seine schwangere Schwiegertochter trug, als ihr Sohn sie die Treppe hinunterstieß, des Drecks, der die betrunkene Janice dazu trieb, ihr Baby in die Badewanne zu tauchen.
Damals hatte sie das Gefühl, es sei noch jemand im Haus. Der heimlich heimgekehrte Harry? Oder der Tod? Es kam nicht darauf an. Ruth nannte ihn "Mr. Death", und bei der Probefahrt mit seiner Tochter und ihrem Freund nahm er auf dem Beifahrersitz Platz, dem "death seat". Als nun Nelson und seine neue Schwester in der letzten Stunde des letzten Tages des Jahrtausends ziellos die Stadtmitte von Brewer ansteuern, da ist es wieder so, als wäre da im Auto ein Dritter. Fast kommt es zu einer Karambolage, doch der andere Fahrer bremst, und sie springen dem Tod von der Schippe. "Nelson erschauert, als werde er gerade von einem streitsüchtigen Geist verlassen." War es der Geist seines Vaters?
Als Harry Angstrom zum erstenmal davonlief, 1959, da hörte er im Autoradio vom chinesischen Einmarsch in Tibet. Der Aufenthaltsort des Dalai Lama sei unbekannt. Vierzig Jahre später erhält Nelson von seinem Stiefvater ein Buch des Dalai Lama zu Weihnachten. Das Autorenfoto erinnert ihn an seinen Vater. Für Brewer gibt es Hoffnung. Die Biotechnologie boomt, erfährt Nelson von seinem Sohn. Man arbeitet an der Gentransplantation. Die Allgemeingültigkeit von Rabbits Gesetz, daß die Väter in ihren Kindern wiederkehren, wird dadurch nicht bedroht. Es ist spiritueller Natur: das Mysterium der Reinkarnation. Tod. Leben. Alles. Eins.
John Updike: "Rabbit, eine Rückkehr". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
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Einziges Manko: «Rabbit, eine Rückkehr», ist viel zu schnell zu Ende. Brigitte