Alles über die faszinierende Welt der Raben und Krähen
Raben, auch die Affen der Lüfte genannt, verblüffen mit ihrer Intelligenz, ihrer Cleverness und ihrem ausgeprägten Sinn für ein soziales Miteinander. Mit ihren besonderen Charakterzügen und Persönlichkeiten und ihrer Fähigkeit, sich auf viele unterschiedliche Lebensräume einzustellen, sind Raben schon immer treue Weggefährten der Menschen.
Thomas Bugynar, international renommierter Rabenforscher und Kognitionsbiologe, lässt uns in die Welt der Raben und Krähen eintauchen:
Stimmt es, dass Raben ihr Leben lang Neues lernen?Wie ist ihr soziales Gefüge aufgebaut?Warum nennt man Raben auch Sprechvögel?Und können Raben wirklich einsam sein?
Anhand vieler Beispiele aus seiner jahrelangen Forschung mit handaufgezogenen Raben veranschaulicht er, wie sie denken und fühlen. So lernen wir, ihr Verhalten besser zu verstehen.
Das Wissenschaftsbuch des Jahres 2023 erstmals im Taschenbuch.
Raben, auch die Affen der Lüfte genannt, verblüffen mit ihrer Intelligenz, ihrer Cleverness und ihrem ausgeprägten Sinn für ein soziales Miteinander. Mit ihren besonderen Charakterzügen und Persönlichkeiten und ihrer Fähigkeit, sich auf viele unterschiedliche Lebensräume einzustellen, sind Raben schon immer treue Weggefährten der Menschen.
Thomas Bugynar, international renommierter Rabenforscher und Kognitionsbiologe, lässt uns in die Welt der Raben und Krähen eintauchen:
Stimmt es, dass Raben ihr Leben lang Neues lernen?Wie ist ihr soziales Gefüge aufgebaut?Warum nennt man Raben auch Sprechvögel?Und können Raben wirklich einsam sein?
Anhand vieler Beispiele aus seiner jahrelangen Forschung mit handaufgezogenen Raben veranschaulicht er, wie sie denken und fühlen. So lernen wir, ihr Verhalten besser zu verstehen.
Das Wissenschaftsbuch des Jahres 2023 erstmals im Taschenbuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2023Diese Vögel sind Trickser
Nachwuchskräfte der Stadtreinigung mit einem Faible für Käse und Hundefutter: Thomas Bugnyar erklärt, warum Raben so klug sind und mit welchen Methoden sich ihr erstaunlich soziales Verhalten erforschen lässt.
Unter den Singvögeln haben Raben einen gleichermaßen schlechten und guten Ruf. Zum einen gelten sie als Todesboten, die sich gierig und in Geiermanier auf jede Form von Aas stürzen. Da sie einen Kadaver nicht öffnen können, sind sie auf die Hilfe von Wolf, Bär oder Adler angewiesen. Lassen solche Hilfskräfte auf sich warten, hacken Raben dort am toten Körper herum, wo der Widerstand am geringsten ist, etwa, und das wurde ihnen vielfach übel genommen, an den Augen. Hinzu kommt, dass die Vögel schlechte Eltern sein sollen, die den unermüdlich jammernden Nachwuchs unterversorgen. Es stimmt schon, Babyraben machen enormen Rabatz, allerdings nur, weil sie untereinander konkurrieren. Je schriller der Lärm, desto üppiger die Futterlieferung. Im Gegensatz zu kleineren Vögeln, die leise sein müssen, um nicht aufzufallen und im Magen eines Feindes zu landen, haben lautstarke Raben kaum etwas zu befürchten.
Auf der anderen Seite sind die imposanten Tiere aus der Familie der Corvidae - mit einer Körperlänge von bis zu siebenundsechzig und einer Spannweite von hundertdreißig Zentimetern stellen sie selbst den Mäusebussard in den Schatten - so intelligente Kulturfolger, dass ihre geistigen Fähigkeiten mit denen von Primaten verglichen werden. Der österreichische Verhaltensforscher Thomas Bugnyar zählt in seiner Abhandlung "Raben" bemerkenswerte Eigenschaften der Vögel auf: Sie werden bis zu dreißig Jahre alt, haben ein gutes Gedächtnis, sind verspielt, identifizieren Artgenossen auch in großen Gruppen mit wechselnden Mitgliedern, meiden alles Neue, wissen, was sie sich unter welchen Umständen einem ranghöheren oder -niederen Exemplar gegenüber erlauben können, lieben es, zu täuschen und zu tricksen. Versteckt ein Rabe einen Snack, wird er, sobald er unter Beobachtung steht, genau abwägen, wie er weiter vorgeht. Der observierende Rabe wiederum könnte es als probate Taktik ansehen, so zu tun, als habe er gar kein Interesse am Futter oder das Depot nicht einmal gesehen - um sich den Imbiss im passenden Moment zu sichern.
Ein solches Verhalten galt lange als ausgeschlossen, denn noch vor wenigen Jahrzehnten lautete die gängige Lehrmeinung, komplexe Denkprozesse seien an die gefurchte Großhirnrinde von Säugetieren gebunden. Weil Vögel nichts Vergleichbares vorweisen können, hat man ihnen eine Automatenexistenz unterstellt. Dabei verfügt ihr Gehirn über Regionen, die denen unseres Cortex entsprechen und sogar enger gepackte Nervenzellen besitzen. Dreihundert Millionen Jahre lang haben sich die Hirne der Vögel und Säugetiere unabhängig voneinander entwickelt. Herausgekommen sind zwei unterschiedliche, aber hier wie dort effektive Lösungen.
Zu welchen außergewöhnlichen kognitiven Leistungen Vögel in der Lage sind, hat die amerikanische Forscherin Irene Pepperberg systematisch untersucht und in den Büchern "The Alex Studies" (1999) und "Alex and Me" (2008) vorgestellt. Ihr Mitarbeiter war ein Graupapagei, der nicht einfach nachplapperte, was die Trainerin ihm erzählte; er eignete sich, im Gegenteil, einen beeindruckenden Wortschatz an, den er vernünftig einzusetzen wusste. Alex verstand, was er sagte. Noch klüger sollen Raben sein. Doch wie will man das messen? Welche Versuche können belegen, dass sie gewiefter als, sagen wir, Katzen und Hunde sind?
Thomas Bugnyar beschäftigt sich in seiner Monographie mit Kolkraben, die zur Gattung Corvus gehören, welche wiederum zweiundvierzig Arten umfasst. Der Titel wurde in der Kategorie "Naturwissenschaft/Technik" zum österreichischen Wissenschaftsbuch des Jahres 2023 gewählt. Das ist nachvollziehbar angesichts der ausgewogenen Mischung aus kritischen Fragestellungen, wissenschaftlicher Nüchternheit und Begeisterung für die Sache. Zudem, und das unterscheidet die Abhandlung von vielen Publikationen vergleichbaren Zuschnitts, gewährt der Autor Einblick in jene Abläufe, an deren Ende der Erkenntnisgewinn steht: Eine Beobachtung führt zu einer Frage; es folgt die Literaturrecherche, um einen Überblick zu bekommen; sodann formuliert man eine These samt Erwartung; zum Schluss wird ein Experiment gemacht. Die Lektüre profitiert erheblich davon, dass Bugnyar nicht Journalist oder Hobbyornithologe, sondern ein umtriebiger Forscher ist.
Nehmen wir ein Beispiel: Können Raben per Informationsweitergabe so etwas wie eine Tradition etablieren? Man darf durchaus davon ausgehen. Es ist etwa bekannt, dass bestimmte Vogelarten, zum Beispiel der Buchfink, je nach Region in unterschiedlichen Dialekten singen. Aber mit welchem Studiendesign soll das Auftauchen einer Tradition überprüfbar sein? Bugnyar und seine Mitarbeiter haben sich einen "neuen Raubfeind" für ihre Probanden ausgedacht: Ein Kollege trägt eine Maske - Mann mit Scheitel und dunklem Haar -, einen Poncho und Gummistiefel. Er hält einen toten Raben in der Hand (der Vogel ist bei einer Wolfsfütterung im Cumberland-Wildpark Grünau zu unvorsichtig gewesen) und positioniert sich vor den Volieren am niederösterreichischen Haidlhof, wo die Tiere erforscht werden. Der "böse Maskenmensch" wiederholt seinen Auftritt viermal, jeweils einmal pro Woche. Dazwischen konfrontiert Bugnyars Team die Vögel noch einmal so oft mit derselben Figur, allerdings ohne den toten Raben. Hinzu kommt ein "neutraler Maskenmensch", der auch einen Scheitel, jedoch blonde Haare und nie einen toten Raben bei sich hat.
Alle Raben konnten die beiden maskierten Personen in Kürze unterscheiden: Nur der böse Maskenmensch provozierte Alarmrufe. Dass die Vögel wirklich auf die Maske und nicht etwa auf die Person dahinter reagierten, stellten die Wissenschaftler sicher, indem sie verschiedene Leute in das Outfit steckten. Nun galt es herauszufinden, wie lange die Tiere sich den Feind merken. Also schauten die beiden Maskenmenschen fortan einmal pro Jahr an den Volieren vorbei, stets ohne toten Vogel. Ergebnis: Noch sechs Jahre nach der ersten Begegnung war eine Erinnerung an den bösen Maskenmenschen vorhanden - "wahrscheinlich sogar länger, aber mit der Zeit kamen uns die Testvögel abhanden".
Dafür erreichten in der Zwischenzeit neue Raben den Haidlhof. Sie konnten die verbliebenen Altvögel häufiger beim Alarmschlagen aufgrund des bösen Maskenmenschen erleben und beteiligten sich an den Tiraden. Gleichwohl machten sie keinen Unterschied zwischen der bösen und der neutralen Figur. Kürzlich haben die Biologen abermals damit begonnen, den maskierten Kollegen inklusive toten Vogels vor Brutpaaren mit Jungen auftreten zu lassen. Alarmgeschrei der Eltern. Nächster Versuch, der Nachwuchs war längst flügge. Alarmgeschrei der Eltern. Tritt der Maskenmensch im kommenden Herbst ohne toten Vogel vor jenen Jungtieren auf, die ihre Eltern beim Zetern beobachten konnten, sollten, so die Erwartung, auch diese Vögel schimpfen.
Solche Experimente sind wichtig, um an handfeste Forschungsergebnisse und nicht bloß nette Geschichten zu gelangen. Schon Konrad Lorenz hatte Kolkraben aufgezogen und seine Eindrücke dokumentiert, oft genug jedoch in Form von Anekdoten. Sein Schüler Eberhard Gwinner lieferte in den Sechzigerjahren quantifizierbare Studien über das Sozialverhalten der Tiere. Er erkannte, dass es bei Raben flexibler ist als bei fast allen anderen Vögeln. Vieles von dem, was inzwischen mit einer konsolidierten Fachsprache beschrieben wird und als Befund feststeht, hatte Gwinner bei seinen Analysen schon ausgemacht. Nicht zu vergessen die Untersuchungen zum Sozialleben der Raben des deutschamerikanischen Biologen Bernd Heinrich. Seine Bücher "Ravens in Winter" (1989) und "Mind of the Raven" (1999) sind nach wie vor lesenswerte Standardwerke zum Thema.
Obwohl heute auch außerhalb der wissenschaftlichen Community bekannt ist, dass Raben, Krähen, Elstern und Eichelhäher intelligente und empfindsame Tiere sind, stellen Jäger ihnen nach. Bugnyar bekräftigt deswegen noch einmal, worauf Josef Reichholf in seinem Buch "Rabenschwarze Intelligenz" (2009) schon hingewiesen hatte: Zum einen wird der "Raubdruck" von Rabenvögeln auf kleinere Singvögel überschätzt. Zum anderen ist belegt, dass Abschüsse nichts bringen.
Kolkraben besetzen entweder als Paar ein Territorium oder ziehen in Nichtbrütergruppen umher. Werden territoriale Brutpaare getötet, rücken Vögel aus einer Nichtbrütergruppe sofort nach und nehmen das frei gewordene Gebiet in Anspruch. Also sinkt der Druck der Nichtbrüter auf die Paare, beispielsweise bei der Nahrungsbeschaffung oder Verteidigung des Nests. Und das führt zu einem höheren Bruterfolg. Darüber hinaus lösen sich Nichtbrütergruppen bei Ressourcenknappheit auf oder ziehen weiter. Es braucht, kurzum, keine Jagd, "das System reguliert sich von allein".
Vielleicht helfen Imagekampagnen. Bugnyar und seine Mitstreiter planen derzeit eine reizvolle Pilotstudie. Ziel ist es, wilden Krähen in der Stadt beizubringen, Müll zu sammeln und bei einem eigens dafür aufgestellten Gerät gegen einen Belohnungssnack einzutauschen. Bleibt die Frage, ob sich das System auf Raben ausweiten lässt. Wer sich dafür interessiert, was bei den Vögeln als Superfood angesehen wird, erfährt auch das: Käse, gekochte Eier und Hunde-Trockenfutter. Das ist anscheinend verallgemeinerbar, obwohl die Tiere, daran lässt Thomas Bugnyar keinen Zweifel, über klar identifizierbare Charaktermerkmale verfügen. Jeder Rabe hat eine eigene Persönlichkeit. KAI SPANKE
Thomas Bugnyar mit Patricia McAllister-Käfer: "Raben". Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten.
Brandstätter Verlag, Wien 2022. 224 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachwuchskräfte der Stadtreinigung mit einem Faible für Käse und Hundefutter: Thomas Bugnyar erklärt, warum Raben so klug sind und mit welchen Methoden sich ihr erstaunlich soziales Verhalten erforschen lässt.
Unter den Singvögeln haben Raben einen gleichermaßen schlechten und guten Ruf. Zum einen gelten sie als Todesboten, die sich gierig und in Geiermanier auf jede Form von Aas stürzen. Da sie einen Kadaver nicht öffnen können, sind sie auf die Hilfe von Wolf, Bär oder Adler angewiesen. Lassen solche Hilfskräfte auf sich warten, hacken Raben dort am toten Körper herum, wo der Widerstand am geringsten ist, etwa, und das wurde ihnen vielfach übel genommen, an den Augen. Hinzu kommt, dass die Vögel schlechte Eltern sein sollen, die den unermüdlich jammernden Nachwuchs unterversorgen. Es stimmt schon, Babyraben machen enormen Rabatz, allerdings nur, weil sie untereinander konkurrieren. Je schriller der Lärm, desto üppiger die Futterlieferung. Im Gegensatz zu kleineren Vögeln, die leise sein müssen, um nicht aufzufallen und im Magen eines Feindes zu landen, haben lautstarke Raben kaum etwas zu befürchten.
Auf der anderen Seite sind die imposanten Tiere aus der Familie der Corvidae - mit einer Körperlänge von bis zu siebenundsechzig und einer Spannweite von hundertdreißig Zentimetern stellen sie selbst den Mäusebussard in den Schatten - so intelligente Kulturfolger, dass ihre geistigen Fähigkeiten mit denen von Primaten verglichen werden. Der österreichische Verhaltensforscher Thomas Bugnyar zählt in seiner Abhandlung "Raben" bemerkenswerte Eigenschaften der Vögel auf: Sie werden bis zu dreißig Jahre alt, haben ein gutes Gedächtnis, sind verspielt, identifizieren Artgenossen auch in großen Gruppen mit wechselnden Mitgliedern, meiden alles Neue, wissen, was sie sich unter welchen Umständen einem ranghöheren oder -niederen Exemplar gegenüber erlauben können, lieben es, zu täuschen und zu tricksen. Versteckt ein Rabe einen Snack, wird er, sobald er unter Beobachtung steht, genau abwägen, wie er weiter vorgeht. Der observierende Rabe wiederum könnte es als probate Taktik ansehen, so zu tun, als habe er gar kein Interesse am Futter oder das Depot nicht einmal gesehen - um sich den Imbiss im passenden Moment zu sichern.
Ein solches Verhalten galt lange als ausgeschlossen, denn noch vor wenigen Jahrzehnten lautete die gängige Lehrmeinung, komplexe Denkprozesse seien an die gefurchte Großhirnrinde von Säugetieren gebunden. Weil Vögel nichts Vergleichbares vorweisen können, hat man ihnen eine Automatenexistenz unterstellt. Dabei verfügt ihr Gehirn über Regionen, die denen unseres Cortex entsprechen und sogar enger gepackte Nervenzellen besitzen. Dreihundert Millionen Jahre lang haben sich die Hirne der Vögel und Säugetiere unabhängig voneinander entwickelt. Herausgekommen sind zwei unterschiedliche, aber hier wie dort effektive Lösungen.
Zu welchen außergewöhnlichen kognitiven Leistungen Vögel in der Lage sind, hat die amerikanische Forscherin Irene Pepperberg systematisch untersucht und in den Büchern "The Alex Studies" (1999) und "Alex and Me" (2008) vorgestellt. Ihr Mitarbeiter war ein Graupapagei, der nicht einfach nachplapperte, was die Trainerin ihm erzählte; er eignete sich, im Gegenteil, einen beeindruckenden Wortschatz an, den er vernünftig einzusetzen wusste. Alex verstand, was er sagte. Noch klüger sollen Raben sein. Doch wie will man das messen? Welche Versuche können belegen, dass sie gewiefter als, sagen wir, Katzen und Hunde sind?
Thomas Bugnyar beschäftigt sich in seiner Monographie mit Kolkraben, die zur Gattung Corvus gehören, welche wiederum zweiundvierzig Arten umfasst. Der Titel wurde in der Kategorie "Naturwissenschaft/Technik" zum österreichischen Wissenschaftsbuch des Jahres 2023 gewählt. Das ist nachvollziehbar angesichts der ausgewogenen Mischung aus kritischen Fragestellungen, wissenschaftlicher Nüchternheit und Begeisterung für die Sache. Zudem, und das unterscheidet die Abhandlung von vielen Publikationen vergleichbaren Zuschnitts, gewährt der Autor Einblick in jene Abläufe, an deren Ende der Erkenntnisgewinn steht: Eine Beobachtung führt zu einer Frage; es folgt die Literaturrecherche, um einen Überblick zu bekommen; sodann formuliert man eine These samt Erwartung; zum Schluss wird ein Experiment gemacht. Die Lektüre profitiert erheblich davon, dass Bugnyar nicht Journalist oder Hobbyornithologe, sondern ein umtriebiger Forscher ist.
Nehmen wir ein Beispiel: Können Raben per Informationsweitergabe so etwas wie eine Tradition etablieren? Man darf durchaus davon ausgehen. Es ist etwa bekannt, dass bestimmte Vogelarten, zum Beispiel der Buchfink, je nach Region in unterschiedlichen Dialekten singen. Aber mit welchem Studiendesign soll das Auftauchen einer Tradition überprüfbar sein? Bugnyar und seine Mitarbeiter haben sich einen "neuen Raubfeind" für ihre Probanden ausgedacht: Ein Kollege trägt eine Maske - Mann mit Scheitel und dunklem Haar -, einen Poncho und Gummistiefel. Er hält einen toten Raben in der Hand (der Vogel ist bei einer Wolfsfütterung im Cumberland-Wildpark Grünau zu unvorsichtig gewesen) und positioniert sich vor den Volieren am niederösterreichischen Haidlhof, wo die Tiere erforscht werden. Der "böse Maskenmensch" wiederholt seinen Auftritt viermal, jeweils einmal pro Woche. Dazwischen konfrontiert Bugnyars Team die Vögel noch einmal so oft mit derselben Figur, allerdings ohne den toten Raben. Hinzu kommt ein "neutraler Maskenmensch", der auch einen Scheitel, jedoch blonde Haare und nie einen toten Raben bei sich hat.
Alle Raben konnten die beiden maskierten Personen in Kürze unterscheiden: Nur der böse Maskenmensch provozierte Alarmrufe. Dass die Vögel wirklich auf die Maske und nicht etwa auf die Person dahinter reagierten, stellten die Wissenschaftler sicher, indem sie verschiedene Leute in das Outfit steckten. Nun galt es herauszufinden, wie lange die Tiere sich den Feind merken. Also schauten die beiden Maskenmenschen fortan einmal pro Jahr an den Volieren vorbei, stets ohne toten Vogel. Ergebnis: Noch sechs Jahre nach der ersten Begegnung war eine Erinnerung an den bösen Maskenmenschen vorhanden - "wahrscheinlich sogar länger, aber mit der Zeit kamen uns die Testvögel abhanden".
Dafür erreichten in der Zwischenzeit neue Raben den Haidlhof. Sie konnten die verbliebenen Altvögel häufiger beim Alarmschlagen aufgrund des bösen Maskenmenschen erleben und beteiligten sich an den Tiraden. Gleichwohl machten sie keinen Unterschied zwischen der bösen und der neutralen Figur. Kürzlich haben die Biologen abermals damit begonnen, den maskierten Kollegen inklusive toten Vogels vor Brutpaaren mit Jungen auftreten zu lassen. Alarmgeschrei der Eltern. Nächster Versuch, der Nachwuchs war längst flügge. Alarmgeschrei der Eltern. Tritt der Maskenmensch im kommenden Herbst ohne toten Vogel vor jenen Jungtieren auf, die ihre Eltern beim Zetern beobachten konnten, sollten, so die Erwartung, auch diese Vögel schimpfen.
Solche Experimente sind wichtig, um an handfeste Forschungsergebnisse und nicht bloß nette Geschichten zu gelangen. Schon Konrad Lorenz hatte Kolkraben aufgezogen und seine Eindrücke dokumentiert, oft genug jedoch in Form von Anekdoten. Sein Schüler Eberhard Gwinner lieferte in den Sechzigerjahren quantifizierbare Studien über das Sozialverhalten der Tiere. Er erkannte, dass es bei Raben flexibler ist als bei fast allen anderen Vögeln. Vieles von dem, was inzwischen mit einer konsolidierten Fachsprache beschrieben wird und als Befund feststeht, hatte Gwinner bei seinen Analysen schon ausgemacht. Nicht zu vergessen die Untersuchungen zum Sozialleben der Raben des deutschamerikanischen Biologen Bernd Heinrich. Seine Bücher "Ravens in Winter" (1989) und "Mind of the Raven" (1999) sind nach wie vor lesenswerte Standardwerke zum Thema.
Obwohl heute auch außerhalb der wissenschaftlichen Community bekannt ist, dass Raben, Krähen, Elstern und Eichelhäher intelligente und empfindsame Tiere sind, stellen Jäger ihnen nach. Bugnyar bekräftigt deswegen noch einmal, worauf Josef Reichholf in seinem Buch "Rabenschwarze Intelligenz" (2009) schon hingewiesen hatte: Zum einen wird der "Raubdruck" von Rabenvögeln auf kleinere Singvögel überschätzt. Zum anderen ist belegt, dass Abschüsse nichts bringen.
Kolkraben besetzen entweder als Paar ein Territorium oder ziehen in Nichtbrütergruppen umher. Werden territoriale Brutpaare getötet, rücken Vögel aus einer Nichtbrütergruppe sofort nach und nehmen das frei gewordene Gebiet in Anspruch. Also sinkt der Druck der Nichtbrüter auf die Paare, beispielsweise bei der Nahrungsbeschaffung oder Verteidigung des Nests. Und das führt zu einem höheren Bruterfolg. Darüber hinaus lösen sich Nichtbrütergruppen bei Ressourcenknappheit auf oder ziehen weiter. Es braucht, kurzum, keine Jagd, "das System reguliert sich von allein".
Vielleicht helfen Imagekampagnen. Bugnyar und seine Mitstreiter planen derzeit eine reizvolle Pilotstudie. Ziel ist es, wilden Krähen in der Stadt beizubringen, Müll zu sammeln und bei einem eigens dafür aufgestellten Gerät gegen einen Belohnungssnack einzutauschen. Bleibt die Frage, ob sich das System auf Raben ausweiten lässt. Wer sich dafür interessiert, was bei den Vögeln als Superfood angesehen wird, erfährt auch das: Käse, gekochte Eier und Hunde-Trockenfutter. Das ist anscheinend verallgemeinerbar, obwohl die Tiere, daran lässt Thomas Bugnyar keinen Zweifel, über klar identifizierbare Charaktermerkmale verfügen. Jeder Rabe hat eine eigene Persönlichkeit. KAI SPANKE
Thomas Bugnyar mit Patricia McAllister-Käfer: "Raben". Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten.
Brandstätter Verlag, Wien 2022. 224 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass Raben ihren schlechten Ruf völlig zu Unrecht haben, lernt Kai Spanke von Thomas Bugnyar: Er demonstriert in seinem Buch über ebenjene Vögel, dass sie klug und gewitzt und in der Lage sind, überraschend anspruchsvolle geistige Manöver zu vollziehen. Dem Rezensenten sagt dabei neben dem dichten Informationsgehalt vor allem zu, dass das Buch, das zum österreichischen Wissenschaftsbuch des Jahres gekrönt wurde, durch den Forscher Bugnyar so klar und verständlich strukturiert ist. Auch ein Versuch mit Kolkraben, anhand dessen nachgewiesen werden konnte, dass Raben Informationen und Verhaltensweise untereinander weitergeben können, beeindruckt ihn. Clevere, interessante Tiere, diese Raben, schließt Spanke.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Lektüre profitiert erheblich davon, dass Bugnyar nicht Journalist oder Hobbyornithologe, sondern ein umtriebiger Forscher ist. Kai Spanke FAZ 20230214